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1001 Wege der Rechtsfindung

Von Ingrid Thurner

Reflexionen

Wenn Muslime eine Staatsordnung fordern, die auf der Scharia fußt, dann schrillen in Europa bei Medien, Touristikern und Investoren alle Alarmglocken. Scharia und Moderne: Sind sie kompatibel?


Es geistern Schreckgespenster durch Europas Medien, ein besonders gefährlich scheinendes heißt Scharia. Gespenster sind Furcht einflößend, weil von ihnen nur Schemen sichtbar sind. Im Westen wird der Begriff Scharia oft eingeschränkt auf Praktiken des Strafvollzugs, die am Körper ausgeführt werden, wobei drei Dinge in Zusammenhang gestellt werden: Stockschläge bei Alkoholgenuss, Handamputation bei Raub, Steinigung bei außerehelichen sexuellen Beziehungen.

Scharia ist kein Gesetzbuch, das sind viele Regalmeter Literatur und Tausende von Bänden . . .
© Foto: Pascal Deloche/Godong/Corbis

Es liefert ein vereinfachtes, schiefes, demütigendes Bild, die gesamte komplexe Werteordnung einer Weltreligion auf diesen Kontext zu reduzieren, und Muslime deuten dies als Herabsetzung. Das ist ähnlich aussagekräftig, als reduzierte man den Begriff Christentum stereotyp auf gewisse Praktiken, etwa Zölibat, Teufelsaustreibung, Kindesmissbrauch. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass die meisten islamischen Länder nicht in diesen Formen exekutieren, dass die Steinigung keine koranische Fundierung hat, dass selbst die USA Körperstrafen in Form von Todesstrafen vollziehen, von den Methoden in Abu Ghraib und Guantanamo nicht zu reden.

Zugleich verstehen Muslime nicht, warum man sich in Europa so fürchtet vor islamischen Inhalten als Normensystem angesichts dessen, was bei allen hochgehaltenen christlichen, abendländischen Werten und gleichzeitigem aufgeklärten Getue laufend an Unglücken und Verbrechen produziert wird: Familienzerfall, Drogenkonsum, Pornografie, Prostitution, Korruption, Menschenhandel, Schuldenkrise, Bankenkrise, Finanzkrise, Eurokrise - unlösbar scheinende Missstände, die ohne Rückgriff auf Scharia entstanden, und in Ländern, die sich auf sie berufen, falls überhaupt, in weit geringerem Ausmaß existieren.

Normativer Unterbau

Nach muslimischem Verständnis ist ein Staat dann ein Rechtsstaat, wenn er auf die Scharia als normativen Unterbau setzt. Scharia (wörtlich "Weg") meint das Normen- und Wertesystem, dem sich eine Kultur auf der Basis ihrer Religion verpflichtet fühlt, aus dem die gesetzliche Ordnung, das Rechtssystem und alle Regeln für menschliches Handeln abgeleitet werden. Bezugsrahmen ist dabei keineswegs bloß der islamische Bereich, sondern allgemein die religiöse Fundierung einer Kultur.

Nachdem aber keine Trennung angestrebt wird zwischen dem, was sakral und dem, was profan ist, greift das islamische Recht auch in Domänen ein, die in westlichen Gesellschaften vordergründig von der Religion getrennt wurden wie Politik und Wirtschaft, bis in Einzelbereiche wie Steuersystem, Bankwesen, Vertragsrecht, Kleidung, Ernährungsgebote und -verbote.

Zu Lebzeiten des Propheten dienten seine Offenbarungen, die er in Predigten mitteilte, als Rechtsquelle. Dann schrieb man sie nieder im Koran (wörtlich: "Vortrag"). Schnell stellte sich heraus, dass das heilige Buch nicht in allen Fragen Auskunft gibt, die sich als Rechtsfälle auftaten, und die Zuständigen wussten mitunter nicht oder konnten sich nicht einigen, wie zu entscheiden sei.

So wurde schon im 7. Jahrhundert begonnen, die Worte und Taten des Propheten Muhammad auf Papyrus zu schreiben, um für alle Fragen gerüstet zu sein. Diese Aufzeichnungen, Ahadith (wörtlich "Gespräch", im religiösen Sinn "Überlieferung"), dienten fortan neben dem Koran als Quellen der Rechtsfindung. Aber genauso alt ist Hadith-Kritik. Nicht alle dieser Überlieferungen gelten überall als echt (sahih, wörtlich "gesund"), wobei unter Theologen lange Debatten darüber stattfanden, was als echt zu gelten habe und was nicht. Manche Texte waren schwer verständlich, nicht eindeutig, Erklärungen für einzelne Passagen wurden gesucht, Kommentare verfasst, Diskussionen geführt, Junge angelernt, ein System der Klassifizierung gefunden. Die Theologie als Wissenschaft war geboren.

Aus der Gesamtheit dieser Überlieferungen konstituiert sich die Sunna - ins Deutsche übersetzt als "Tradition", religiöse Praxis. Sunna beinhaltet alles, was der Prophet sagte, tat, stillschweigend billigte. Dem haben Gläubige zu folgen. Demnach ist die Scharia festgeschrieben in Koran und Sunna. Scharia ist kein Gesetzbuch, in dem man schnell etwas nachschlagen kann, Scharia, das sind viele Regalmeter Literatur, Tausende von Bänden, vieles davon ist Laien nicht auf Anhieb zugänglich, vieles wurde nie in europäische Sprachen übersetzt.

Nichtsdestotrotz ist das, was unter Scharia verstanden wird, nicht von Senegal bis Indonesien das gleiche. Sunniten, Schiiten und Absplitterungen haben eigene Ahadith und Interpretationen, Texte und Traditionen. Einerseits berufen sich Staaten mit ganz unterschiedlichen Verfassungen auf die Scharia, andererseits gibt es Pluralismus der Auslegung auch innerhalb der Scharia.

Aus der Scharia hat die islamische Jurisprudenz in einer komplexen Methodenlehre das Rechtssystem Fiqh erarbeitet. Der Unterschied zwischen Scharia und Fiqh ist essenziell. Scharia ist göttliches Recht, geoffenbart in Koran und Sunna, in den Grundzügen und als Werteordnung gültig für alle Zeiten und Orte, kein menschliches Machwerk, sondern transzendenten Ursprungs. Daher ist sie der Manipulation durch irdische Machtträger, Behörden und Besserwisser entzogen: für viele Muslime ein tröstlicher Gedanke.

Menschlich und daher veränderlich ist indes, was dann aus der Scharia abgeleitet wird, die Rechtsfindung im Rahmen einer Rechtswissenschaft und die Umsetzung. Und innerhalb dieses Rechtssystems (Fiqh) findet sich Spielraum für Deutungen und natürlich auch für Kontroversen.

Die dritte Quelle der Rechtsfindung neben Koran und Sunna ist Konsensus (Idschmaâ), basierend auf einer Annahme, die aus Koran und Sunna abgeleitet war: Wenn alle Gelehrten (einer Epoche, Region, Rechtsschule) einverstanden sind mit einer Entscheidung, kann sie nicht falsch sein, nicht in Widerspruch zur Scharia stehen.

Als vierte Quelle wird der Analogieschluss (Qiyas) genutzt (Beispiel: Wenn Wein verboten ist, weil er berauscht, dann sind auch andere narkotisierende Substanzen verboten). Bereits diese Methode der Rechtsfindung enthält für sich genommen Potenzial für Veränderung und Erneuerung.

Regionale Schulen

Zudem gibt es regional unterschiedliche Entwicklungen in der Rechtsauffassung. Schon im ersten Jahrhundert der islamischen Geschichte entstanden Texte, die Rechtsfragen behandelten. Die relevanten Bestimmungen in Koran und Sunna wurden durch Gelehrte interpretiert und regional festgeschrieben, woraus sich mancherorts auch Widersprüchliches ergab. So entsprangen innerhalb der Rechtswissenschaft verschiedene Schulen, jede von ihnen entwickelte ihre eigene Methode der Rechtsfindung und bildete ihren Kanon. Innerhalb des sunnitischen Islam werden heute vier Rechtsschulen als gleichwertig anerkannt: Gläubige, Staaten und Juristen können sich auf diese berufen, wenngleich regional eine historisch gewachsene Dominanz der jeweiligen Schule besteht.

In all diese Rechtsfindungsprozesse flossen weitere Quellen ein, auf lokaler Ebene Gewohnheitsrecht, und zu allen Zeiten erließen Machthaber Bestimmungen, Ordnungen und Gesetze. Selten, wenn überhaupt je im Verlauf der islamischen Herrschaftsgeschichte, fand die Regierungsführung ausschließlich auf Basis der Scharia statt, wenngleich viele Muslime in der Zeit der ersten vier Kalifen (632-661) eine solche Glanzzeit erblicken. Selbst so autoritäre Systeme wie Iran und Saudi-Arabien sind hier keine Ausnahme.

In Koran und Sunna sind Regeln festgelegt, die im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel Zeit und Ort entsprachen. Dass Umstände und Bedürfnisse sich geändert haben und eine Übertragung auf das 21. Jahrhundert, in alle Weltgegenden mitunter Schwierigkeiten bereitet, dieser Problematik sind sich Muslime bewusst.

Welche Möglichkeiten haben also Juristen und Politiker, die sich der Religion verpflichtet fühlen, die Scharia so umzusetzen, dass Neuerungen möglich sind? Neuerungen, die eventuell harmonieren mit westlichen Konzepten wie Meinungspluralismus, Autonomie des Individuums oder guter Regierungsführung?

Hier finden sich mehrere Ansätze. So kann man die Anwendung von Bestimmungen aussetzen: In der Wissenschaft der Koranauslegung (Tafsir) ist eine der wichtigen Methoden die Festlegung des historischen Kontextes, in dem Mohammed die Offenbarung empfangen hat, die "Gründe der Herabsendung" (Asbab an-Nuzul). So kann ein Vers als zeitbezogen eingeordnet werden, seine Gültigkeit ist zwar immer gegeben, seine Anwendung mitunter aber nicht mehr vonnöten oder wünschenswert. Dieser Argumentationsweise bedienten sich Tunesien, Libyen und Marokko zur Abschaffung respektive starken Einschränkung der Polygynie. Die Offenbarung (Koran 4,3) erfolgte im Kontext von Krieg und dem Sterben der Männer und diente der sozioökonomischen Sicherung von hinterbliebenen Frauen. Dementsprechend erklärte die moderne Gesetzgebung Polygynie für nicht zeitgemäß. Natürlich finden sich immer Personen, die solche juristischen Spitzfindigkeiten ablehnen, wenn diese in Widerspruch zum Koran stehen, der den Männern unter gewissen Umständen mehrere Frauen erlaubt.

Die islamischen rechtlichen Bestimmungen (Ahkam) reichen von verpflichtend bis verboten. In der Mitte liegen Handlungen, die zulässig (mubah) sind, weil sich Gott durch den Mund des Propheten dazu nicht geäußert hat. Hier liegt eine weitere Ansatzmöglichkeit für Veränderungen. Was nicht verbindlich angeordnet wurde, eröffnet Bewegungsfreiheit: Erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist.

Wahrung der Intention

Noch ein Verfahren bietet Spielraum für Neuerungen: Man untersucht die Zielsetzung einer Aussage. Lassen die Zeitumstände neue Fragen auftauchen und ist kein Analogieschluss möglich, bezieht man sich auf die Absicht der Scharia (Maqasid asch-Scharia). Im Mittelpunkt steht dabei nicht eine kasuistische Betrachtung der Verse, sondern eine, die die Finalität in den Mittelpunkt rückt.

Was hat Gott damit gemeint? Es geht nicht um den konkreten Inhalt eines Satzes, sondern um das, was über den Wortlaut hinaus in ihm enthalten ist. Auf diesem Weg kann man Jahrhunderte überspringen, der koranische Text bleibt unangetastet, aber seine Anwendung wird erweitert, bei Wahrung der Intention. Deswegen verwenden Muslime heute Zahnbürsten und nicht Hölzchen wie der Prophet Muhammad, benutzen sie technologische Errungenschaften von Toilettenpapier bis zu Medikamenten und Maschinen, ohne darin einen Widerspruch zur Sunna erkennen zu müssen.

Eine weitere Methode der Rechtsfindung, Istislah, trifft Entscheidungen unter Berücksichtigung des Gemeinwohls, doch gibt es allerlei Einschränkungen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb juristischer Kreise und Rechtsschulen.

Gewiss ist die Angelegenheit noch weitaus komplexer, als hier dargestellt. Aus all dem sollte jedoch deutlich werden: Scharia ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. "In der Vielfalt liegt die Gnade", soll Prophet Muhammad gesagt haben. Meinungspluralismus steht keineswegs in Widerspruch zur Scharia; Islamwissenschafter wie Rüdiger Lohlker, Thomas Bauer und Gudrun Krämer werden nicht müde zu betonen, dass dieser im Islam angelegt ist. Nicht die Scharia ist das Problem, nicht die Bibel, sondern das, was Menschen daraus hervorholen - oder eben nicht. Insofern betrachten viele Muslime Scharia als Chance, die sich ihnen nun im Prozess der arabischen Wende bietet.

Ingrid Thurner, geboren 1954, Ethnologin, Tourismusforscherin, Reiseleiterin, Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien (www.reise-und-literatur.at).