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Woran es in Kärnten krankt

Von Reinhard Heinisch

Reflexionen

Die missliche Lage unseres südlichsten Bundeslandes wird oft beschrieben und beklagt, aber selten erklärt: Versuch einer politisch-historischen Anatomie.


Kärntens deprimierende Lage ist hinlänglich bekannt: Es ist das Bundesland mit der meisten Prokopfverschuldung, der geringsten Kaufkraft, der größten Abwanderung und damit dem stärksten Bevölkerungsschwund. Mit über 80.000 Kärntnern, darunter ein Großteil der Bildungselite des Landes, ist Wien mittlerweile die zweitgrößte Kärntner Stadt knapp hinter Klagenfurt.

Das Bundesland ist nicht nur berüchtigt für seine Strukturschwäche, die sich in einem Mangel an Bildungschancen ebenso manifestiert wie am Fehlen hochqualitativer Arbeitsplätze oder einer zeitgemäßen Verkehrsinfrastruktur, sondern hat auch ein über die Landesgrenzen hinausreichendes Imageproblem. Selbst in der englischsprachigen Welt kreist die mediale Rezeption des Landes fast ausschließlich um Themen wie Rechtsnationalismus und Minderheitenfeindlichkeit.

In den letzten Jahren gesellte sich dazu noch das Image tief verwurzelter Korruption. Seit dem Tod Jörg Haiders beschäftigen sich Staatsanwaltschaft, Gerichte und Medien mit einer beinahe unübersichtlichen Fülle von Skandalen und Korruptionsvorwürfen, die immerhin in der gerichtlichen Verurteilung der Landesparteivorsitzenden der FPK und der ÖVP gipfelten.

Mentale Abwehr

Beschreibungen der Kärntner Malaise gibt es viele, mit Erklärungen tut man sich schon schwerer: Einige suchen das Grundübel in den scheinbar pathologischen Identitätsproblemen der Kärntner Bevölkerung, wonach im Fortbestehen eines mentalen Abwehrkampfes gegen alles, was als "fremd" wahrgenommen wird, das Land den Anschluss an die moderne Zeit und ein integriertes Europa versäumte habe. Andere Erklärungen gehen vom "System Haider" aus, wobei eine Mischung aus Blendung und Korruption als Kern des Kärntner Syndroms gilt. Beide Erklärungsstränge sind jedoch zu unscharf, um die tieferen strukturellen politischen Probleme des Landes zu verstehen.

Konkret leidet Kärnten natürlich an seiner politischen Vergangenheit, die wiederum von ethnischen Gegensätzen, einer nie wirklich aufgearbeiteten NS-Geschichte und einer besonders exzessiven Form des Parteienproporzes geprägt ist. Nach dem Krieg hatte sich die SPÖ dem braunen und nationalen Lager hin geöffnet und dominierte das Land politisch wie kaum ein anderes.

Durch das relative Naheverhältnis zwischen Katholizismus und der slowenischen Volksgruppe sowie durch die historische Stärke des Deutschnationalismus hatte die ÖVP in Kärnten seit jeher einen schweren Stand. In Folge dessen wurde die slowenische Minderheit einem massiven Assimilierungsdruck ausgesetzt, indem man sie gesellschaftlich weitgehend ausgrenzte und politisch marginalisierte.

In der eher kleinstädtisch-ländlichen Struktur des Landes konnte sich nie ein urbanes Bürgertum kritischer Größe entwickeln, von dem dann ein politischer Modernisierungsprozess hätte ausgehen können. Daher blieben neue Parteien wie die Grünen in Kärnten lange Zeit chancenlos. Parteibuchwirtschaft und Proporzregierungen ohne Opposition bestimmten die Geschicke des Landes so sehr, dass zwar der Unmut gärte, aber - wie beim sogenannten Ortstafelsturm in den Siebzigerjahren - immer wieder in andere Bahnen kanalisiert wurde.

Die Parteiendominanz fand unter Landeshauptmann Leopold Wagner in den Achtziger Jahren einen markanten Höhepunkt und wurde von einem bezeichnenden Kuriosum überschattet: Wagner kam damals bei einem Mordanschlag nur knapp mit dem Leben davon. Als Motiv nannte der Attentäter Franz Rieser die Parteibuchwirtschaft und stieß damit auf so viele Sympathien, dass dieser bei der ersten Verhandlung freigesprochen wurde und der Prozess nach Innsbruck verlegt werden musste.

Strukturell liegt seit jeher eine wesentliche Ursache des Kärntner Problems im Machtverhältnis zwischen dem Land, verkörpert durch die Landesregierung, und allen anderen wichtigen Akteuren. Wie in vielen unterentwickelten Ländern ist auch in Kärnten das Land der wirtschaftlich entscheidende Faktor und zentrale Geldgeber. Selbst sonst so einflussreiche Gruppierungen wie Verbände, Unternehmen, Medien oder einzelne Landesregionen sind nicht in der Lage, ohne Placet der Landesregierung entscheidende Initiativen zu setzten. oder wirksamen politischen Druck auszuüben.

Das "System Haider"

In der Zeit der SPÖ-Dominanz nutzte die Landesregierung ihre zentrale Stellung, um den Machterhalt der eigenen Partei zu sichern und die Verwaltung entsprechend rot einzufärben. Es entstand eine Kultur der politischen Abhängigkeiten.

Mit dem Erstarken der FPÖ gegen Ende der Achtziger Jahre eröffnete sich die Chance, das bestehende System und die Allmacht der SPÖ zu brechen. Die ÖVP, die in der "Beamtenstadt" Klagenfurt den Bürgermeister stellte, kooperierte mit den Freiheitlichen. Ab 1989 gelang es beiden Parteien, SPÖ-Landeshauptleute zu verhindern, bis Haider zehn Jahre später aus eigener Kraft Landeshauptmann wurde.

Anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen, wurde jedoch das "System Wagner" durch das "System Haider" ersetzt. War unter der SPÖ rein das parteipolitische Kalkül entscheidend, gesellte sich nun auch ein regionalpolitisches Kalkül hinzu. Just zu dem Zeitpunkt, als die Globalisierung gesamtregionale Lösungen beim Thema Bildung, Verkehr, Indus-trie, Tourismus erforderte, wurde unter Haider eine Teile-und-Herrsche-Politik perfektioniert.

Dem rot regierten Villach, das durch den Verkauf von Anteilen an den Draukraftwerken und durch den Elektronik-Cluster ein gewisser finanzieller Handlungsspielraum zur Verfügung stand, musste zu Gunsten jener Regionen, die für die FPK unerlässlich waren, Paroli geboten werden.

Aus dieser Situation heraus kam es zu einer erstaunlichen Duplizität von Infrastrukturmaßnahmen und unkoordinierten Projektinvestitionen, die dem ohnehin budgetschwachen Land viel Geld kosten sollten. So entstanden jeweils in Villach und Klagenfurt große Technologieparks, wobei letzterer vom Land finanziert wurde. Villach und Klagenfurt leisteten sich außerdem jeweils unterbuchte Kongresshotels und ergehen sich in einer unkoordinierten Infrastruktur-, Verkehrs- und Tourismuspolitik. Wer heute spontan aus einem kleinen Ort westlich von Villach zu einem Punkt östlich von Klagenfurt mit öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen möchte, tritt immer noch eine Tagesreise an.

Die Verlagerung der Einkaufszentren an die Stadtränder und die fehlende Integration der Verkehrsträger bringen es mit sich, dass in Kärnten jeder, der irgendwie kann, Wege mit dem Auto zurücklegt. Mittlerweise dünnen die Stadtzentren ökonomisch aus, weil die motorisierte Bevölkerung an den Stadteinfahrten hängenbleibt und die Innenstädte von außen umständlich zu erreichen sind.

Auch im Tourismus leidet das Land seit jeher an einem eifersüchtigen Klein-Klein, wodurch gleich hinter den Anziehungspunkten rund um die Seen das touristische Ödland beginnt. Mittlerweile leiden auch die Zentren selbst unter diesem Regionalismus, weil unter dem Strich für alle zu wenig bleibt und die Investitionsstärke insgesamt zu gering ist. Das Land ist zu klein und zu wenig finanzkräftig, um sich die vielen Doppelgleisigkeiten leisten zu können. Daher wäre es sinnvoll, sich auf eine gemeinsame und nachhaltige Aufteilung der Infrastruktur nach objektiven Kriterien zu einigen.

Brot-und-Spiele-Politik

Diese Initiative hätte jedoch von der Landesregierung, die alle Fäden in der Hand hat, ausgehen müssen, doch dies hätte für Haider und die Kärntner Freiheitlichen ein Ende der Klientelpolitik und eventuell einen Machtverlust bedeutet. Obendrein mussten die zahlreichen Infrastrukturinvestitionen noch mit der ebenfalls vom System-Haider initiierten Brot-und-Spiele-Politik konkurrieren. Dabei wurden um viel Geld eine Sommer-Event-Szene sowie teure Vorzeigeprojekte ("Seebühne") ebenso finanziert, wie wahltaktisch motivierte Geldverschenkungsaktionen an bestimmte Wählergruppen ("Jugendtausender", Teuerungsausgleich für Pensionisten).

Auf diese Weise verstärkte die Politik Haiders die ohnehin latent vorhandenen regionalen Gegensätze und erhöhte die zentrale Machtrolle des Landes zu Ungunsten möglicher Alternativen. Die politischen Protagonisten zogen sich in ihre Hochburgen zurück. Für die Freiheitlichen war der bevölkerungsreiche Klagenfurter Raum wahlarithmetisch wichtig, während sich die SPÖ in Villach einzementierte.

Haider gelang es auch, mit geschickten wechselseitigen Koalitionsangeboten die beiden anderen Parteien immer wieder ins Boot zu holen und gegeneinander auszuspielen. Vor allem die schwache ÖVP, der die FPK das Gefühl vermittelte, relevanter zu sein, als es die Wahlergebnisse zuließen, verfiel den Verführungen Haiders und machte sich zu einer Erfüllungsgehilfin in dessen System. Durch Haiders mediales Geschick sowie durch die Auslagerung diverser Projekte an Landesfinanzierungsgesellschaften und die Unterstützung durch die landeseigene "Hausbank" gelang es, nach außen hin lange das Bild einer soliden Finanzgebarung trotz des Investitionsbooms aufrecht zu erhalten. Damit wurde ein angeblich erfolgreiches Kärntner Wirtschaftsmodell propagiert, während Kritikern ein Hass auf Kärnten unterstellt wurde. Gegebenenfalls ließ sich auch der latente Minderheitenkonflikt instrumentalisieren, um von den tatsächlichen Problemen des Landes abzulenken. Nicht zufällig konnte erst in der Zeit nach Haider eine einigermaßen tragfähige Lösung der immer wieder verschleppten Ortstafelfrage erzielt werden.

Sozialpopulismus

Natürlich agieren auch in anderen Bundesländern Parteien nach taktischen Überlegungen und betreiben Klientelpolitik. Doch häufig werden dort wirtschaftspolitische Maßnahmen von den Verbänden der Sozialpartnerschaft mitbestimmt, die bei allen Gegensätzen dennoch nach einer Logik der Sachzwänge und des wirtschaftlichen Pragmatismus agieren. Bei Bedarf wirkt man zur Durchsetzung wichtiger gemeinsamer Vorhaben auf die eigenen Parteien ein, Blockaden aufzugeben und sich konstruktiv zu verhalten. Durch die besondere Konstellation der Parteien und Verbände ist in Kärnten dieses Verhältnis asymmetrisch. Der durchaus gewichtigen Wirtschaftskammer fehlt auf politischer Ebene eine schlagkräftige Volkspartei. Die bisher politisch dominante FPK wiederum kam in der Sozialpartnerschaft nicht vor und musste sich, wollte sie nicht als konzeptlos gelten, in alle gemeinsamen Vorhaben federführend hinein reklamieren oder diese torpedieren.

Auf Seiten der Arbeitnehmerverbände war das Verhältnis zur SPÖ von deren Ringen mit der FPÖ überschattet. Da beide Parteien um die "kleinen" Leute buhlten, wurden teure sozialpopulistische, aber wirtschaftlich wenig sinnvolle Maßnahmen von den Sozialdemokraten oft mitgetragen.

Die Prioritäten für Kärnten liegen nun einmal mehr auf der Hand. Es bedarf einer nachhaltigen politischen Modernisierung des Landes, der Abschaffung der Regierungsproporzes, einer umfassenden Verkehrsinfrastruktur und einer Verbesserung der Bildungschancen. Das Wahlergebnis von letztem Sonntag bietet die Chance für einen Neuanfang.

Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, war viele Jahre lang Professor für Political Science an der University of Pittsburgh und ist seit 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.