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Von der Physik zur Metaphysik

Von Christian Pinter

Reflexionen

Vor 100 Jahren ließ sich der englische Komponist Gustav Holst zur Orchestersuite "Die Planeten" inspirieren, worin die Gestirne als Metaphern für Aspekte des menschlichen Lebens fungieren.


London, 1913: Gustav Holst ist unglücklich. Seine letzten Werke haben Kritiker und Publikum kaum begeistert. Der 38-Jährige kann noch immer nicht vom Komponieren leben. Er betrachtet sich wohl als Versager und hat, wie er selbst schreibt, genug von der Musik. Mit seinem Schicksal hadernd, versinkt er in tiefe Melancholie. Ein Landsmann lädt ihn zu einer Reise nach Spanien ein. Doch auch sie heitert Gustav nicht wirklich auf.

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Unsere acht Planeten von Merkur bis Neptun. Die Erde ließ Holst in seinem Werk aus, weil sie in der Astrologie (noch) nicht als Planet galt und keine Rolle spielte . . .
© Foto: NASA/JPL

Horoskop-Produktion

Im März und April 1913 findet sich die kleine Reisegruppe auf Mallorca ein. Die Venus gleißt abends im Sternbild Widder, der Saturn prangt darüber im Stier. Der Dramatiker Clifford Bax fesselt Gustav mit seinen Erzählungen über die Astrologie: Die Sterndeuterei ist damals gerade populär; die Spannungen in Europa lösen Zukunftsängste aus.

Davon profitiert in England unter anderem William Allen. Der gescheiterte Kaufmann gibt unter dem Namen "Alan Leo" die Zeitschrift "Modern Astrology" heraus und beschäftigt einen ganzen Stab von Mitarbeitern für die Horoskop-Produktion en gros. Zurück in London, vertieft sich Holst in Leos astrologische Bücher.

Die alten Babylonier, die Griechen und die Römer - sie alle verwoben die durch die Sternbilder wandernden Planeten mit Göttern. Sie wählten dabei Gottheiten aus, die zum Erscheinungsbild des jeweiligen Wandelgestirns passten. Dabei orientierten sie sich an dessen Glanz, Bewegungstempo und Farbton. Im planetaren Lauf, so glaubte man im Zweistromland, täten die Götter ihren Willen und ihre Pläne kund. Diese Vorstellung führte letztlich zur Illusion, das Schicksal und auch den menschlichen Charakter aus der Position der Wandelgestirne ableiten zu können.

Die darauf fußenden astrologischen Regeln sind Tand aus Menschenhand. Doch nicht für Gustav Holst: Er taucht tief in diese Scheinwelt ein und formt daraus das Fundament für sein Orchesterwerk "Die Planeten".

Seit 1914 wohnt der Komponist mit seiner Gattin und seiner Tochter in Thaxted, Essex. Er unterrichtet an der St. Paul’s Girls’ School. In ihrem schalldichten Musikraum verbringt er nun auch viele Stunden seiner Freizeit. Am Klavier erarbeitet er die Sätze für Mars, Venus und Jupiter, für Saturn, Uranus und Neptun. Anfang 1916 ist der Merkur fertig. In Gustavs Planetenreigen fehlt die Erde. Als die Astrologie erfunden wurde, galt sie noch nicht als Planet - sondern als ruhendes Zen-trum des Kosmos. Auch deshalb spielt sie in der Sterndeuterei keine Rolle. Holst ignoriert sie.

Nun beginnt er mit der Orchestrierung. Ihm schwebt ein großes Sinfonieorchester vor, samt Orgel und sechsstimmigem Frauenchor. Bravourös nützt er den orchestralen Klangreichtum, um sieben höchst unterschiedliche Stimmungsbilder zu kreieren. Die Planeten werden darin zu Metaphern für Aspekte des menschlichen Charakters. Sie bilden gleichzeitig die Stationen einer Reise von der ungestümen Jugendzeit bis hin zum beschwerlichen Alter, vom Physischen zum Metaphysischen. Die komplette Suite erklingt erstmals am 15. November 1920 in London.

Der Planet Mars strahlt alle zwei Jahre besonders kräftig. Die Babylonier sahen in ihm den seuchenbringenden Unterweltgott Nergal. Die Griechen erinnerte sein rötlicher Glanz an Feuer und Blut. Sie kürten ihn zum Sinnbild ihres blutrünstigen, kriegerischen Gottes Ares. In Rom verehrte man den Kriegsgott ganz besonders, und zwar unter dem Namen Mars. Soldaten exerzierten auf dem "campus martius", und auch andere Städte erhielten ihr "Marsfeld" oder ihre "Marswiese". Der Monat März ist nach ihm benannt.

Kriegsbringer Mars

Astrologen der Neuzeit sagten jenen, die angeblich unter seinem "Einfluss" geboren wurden, einen Hang zum Brennen, Rauben und Morden nach; sie wären grimmig sowie voller Jähzorn und Bosheit.

Alan Leo erklärte Soldaten, Seeleute, Schlächter, Eisenhändler und Techniker zu den Kindern dieses Planeten. Neben Kampfesmut schenke er aber auch Selbstvertrauen, Unternehmungslust, Stolz, Leidenschaft und Willenskraft; Charakterzüge, die Holst teils auch der Jugend zuschreibt. In der Orchestersuite tritt der Mars äußerst martialisch auf, als "Kriegsbringer" schlechthin. Anfangs erklingt ein hypnotisierendes Ostinato. Es ist, als würden hunderte Speere auf den Boden schlagen. Widerstreitende Fanfaren und Dissonanzen folgen.

Man meint, ferne Salven und Granaten zu hören. Bei der Premiere fühlt sich das Publikum an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs erinnert - obwohl Holst diesen Satz bereits Wochen vor Beginn des gegenseitigen Abschlachtens schuf. Auch die neuartige musikalische Sprache, der Verlust an Tonalität, verstört etliche Zuhörer. Noch ein knappes Jahrhundert später wird man diesen Teil zur Untermalung von Filmberichten verwenden, die Kriegsgräuel thematisieren.

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Astrologisch steht die Venus (hier im Nürnberger Barockgarten) für Schönheit, Zuneigung, Heirat.
© Foto: Pinter

Friedensbotin Venus

Die Venus ist der mit Abstand hellste Planet. In der späten Abenddämmerung gleißt sie in schönstem Weiß am Firmament; eine ideale Zeit für die Liebe. In der frühen Morgendämmerung mahnte ihr Erscheinen einst so manchen Burschen, die heimliche Geliebte zu verlassen - bevor der helle Tag anbrach. Die Sichtbarkeitsperiode dieses Planeten als Abend- oder Morgenstern währt jeweils ähnlich lange wie eine Schwangerschaft. All das war Grund genug für die Griechen, ihn mit der mächtigen Aphrodite zu verbinden. Sie weckte bei Göttern und bei Menschen die Sehnsucht und die Begierde. Die ihr geweihten erotisierenden Kräuter und Pflanzen wurden "Aphrodisiaka" genannt. Der Name ihres römischen Pendants, Venus, steckt hingegen im Venushügel, der Venusmuschel und den venerischen Krankheiten.

Für Astrologen stand die Venus für Schönheit, Zuneigung, gegenseitiges Werben und für die Heirat. Sie sollte aber noch mehr angenehme und erfreuliche Dinge verheißen. Ihre Kinder pflegten laut Alan Leo Freundschaften, suchten Vergnügungen und Unterhaltung, liebten Musik, Gesang, Tanz, Kleidung und Schmuck. Vom Glück verwöhnt, wären sie erfolgreich und beliebt.

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Gustav Holst, 1921.
© Foto: wikipedia

Die Holst’sche Venus, die "Friedensbringerin", fußt auf der vertrauten Harmonik des 19. Jahrhunderts. Ihr Klang ist leise, ruhig, sehr hell, manchmal geradezu süßlich. Glockenspiel und Harfenklänge unterstreichen ihren Liebreiz. Es ist, als wolle uns die Himmlische umarmen und Trost nach dem irritierenden Auftritt des Mars spenden.

Merkur, der sonnennächste Planet, ist auch der flinkste: Er lässt sich bestenfalls kurz in der hellen Dämmerung und knapp über dem Horizont blicken. Den Alten schien es, als pendle er zwischen Tag und Nacht hin und her, zwischen Himmel, Erde und Unterwelt. Es war ihnen, als wollte er zwischen Göttern und Menschen vermitteln.

Im Zweistromland symbolisierte er den Gott Nabu. Der stand für die Schreibkunst - und damit auch für die Weisheit. Die Griechen sahen in diesem Gestirn den erfindungsreichen Gott Hermes. Er wurde von Zeus als Sendbote eingesetzt und begleitete Tote außerdem hinab in den Hades. Hermes war der Schutzherr aller, die es eilig hatten: Reisende ebenso wie Diebe. Seine römische Entsprechung, der Gott Merkur, fungierte als Patron der flinken Händler. Diese mercuriales tätigten ihre Geschäfte am mercatus, dem Markt. Alchemisten verquickten das lebhaft-kecke Quecksilber mit ihm: Holst kennt es unter dem englischen Namen "mercury".

Astrologen wie Alan Leo kürten Merkur zum Gestirn der Botschafter, Sekretäre und Geschäftsreisenden, der Autoren, Redner und Wissenschafter. Seine Kinder wären einfallsreich, witzig und anpassungsfähig, wobei deren Eile auch in Nervosität umschlagen könne. Diesem Bild trägt Gustav Holst mit den häufig wechselnden Rhythmen des dritten Satzes Rechnung. "Merkur, der geflügelte Bote", schwingt sich hier wie mit Flügelsandalen in die Luft, blickt hinab auf die Welt und setzt dann zu einem rastlosen Flug an.

Anders als die Venus kann der Jupiter die ganze Nacht über strahlen, in dominierendem, majestätisch-weißem Glanz. Für die Babylonier repräsentierte er Marduk, die höchste Gottheit; der König stand mit ihm in enger Verbindung. Die Griechen verwoben das babylonische Königsgestirn mit ihrem mächtigen Göttervater Zeus, die Römer mit ihrem Gott Jupiter. Ovid rühmte diesen als "Vater und Lenker", der die "Höhe des Äthers beherrschte".

Jupiters Kinder

Jupiter wachte außerdem über Verträge und Schwüre. Von ihm, den die Italiener "Giove" nennen, leitet sich das Wort jovial ab: Es steht für heiter, leutselig oder gönnerhaft. Astrologen hielten Jupiters Kinder für entsprechend freundlich und generös, für friedlich und würdevoll, für gerecht und edel. Sie sollten vor Männlichkeit und Lebensfreude geradezu strotzen. Oft besäßen sie Macht oder verbänden sich zumindest gern mit den Mächtigen, mit Kirchenmännern oder weltlichen Herrschern. Für Alan Leo ist Jupiter das Gestirn der Richter, Ärzte und Professoren, der Großhändler und der Bankiers.

Mit einem rustikalen Volkstanz im Dreivierteltakt stellt sich "Jupiter, der Bringer der Fröhlichkeit", beim Publikum zunächst als recht leutseliger Charakter vor. Danach jedoch wirft er sich in eine höchst noble Pose: Das Hauptthema gerät zum feierlichen Preis- und Lobgesang für einen Herrscher mit Strahlkraft. Tatsächlich wird Holst diese Melodie wenig später auch "auskoppeln": Mit den Anfangsworten "I vow to thee, my country" ("Ich gelobe Dir, mein Land") verwandelt sie sich in eine inoffizielle britische Hymne.

Saturn ist der fernste und daher langsamste Planet des Altertums. Rund 29 Jahre braucht er, um sämtliche Tierkreiszeichen zu durchwandern. Nicht wenige Griechen erlebten bloß einen einzigen kompletten Umlauf. Des schweren Schritts und auch des blassen Glanzes wegen symbolisierte er den alten Gott Kronos. Um der Entmachtung zu entgehen, hatte Kronos all seine Kinder verschluckt. Nur Zeus entging diesem Schicksal und stürzte seinen Vater. Der langsame Alte wurde später mit "Chronos", der personifizierten Zeit, verschmolzen. Seither ist er auch mit der Chronik und allem Chronischen verbunden. Die träge Bewegung des Gestirns erinnerte Alchemisten zudem ans schwere Blei; daher hieß die Bleivergiftung "Saturnismus".

Auch die römische Entsprechung des Kronos, der Gott Saturn, hat seine besten Jahre längst hinter sich. Einst soll er den Menschen das Goldene Zeitalter gebracht haben; sie waren damals satt (lateinisch: satur). In Erinnerung daran feierten die Römer alljährlich die karnevalsähnlichen Saturnalien. Letztlich verwoben Astrologen das gelbliche Gestirn des entmachteten Gottes mit Gehässigkeit, Grobheit, Neid und Schwermut. Saturns Kinder besäßen eine bleich-gelbe Gesichtsfarbe, hieß es. Alan Leo machte ihn auch für geringe Lebensfreude, Trägheit, Eigennutz und Kälte verantwortlich; aber auch für Geduld und Ausdauer.

In der Orchestersuite schleppt sich "Saturn, der Bringer des Alters", mühsam dahin. Man hört geradezu die Zeit verstreichen. Der sparsam instrumentierte Satz drückt Verzweiflung und Trostlosigkeit aus. Röhrenglocken gemahnen an die Endlichkeit des Daseins. Nur der Schluss mutet friedlich, ja versöhnlich an. Fügt sich der Mensch letztlich müde und resignierend darein, oder schenkt ihm das Alter Weisheit?

Magier Uranus

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Der schillernde, für Holst klingende Planeten-Reigen . . .
© Foto: NASA/JPL

Mit dem Saturn endet das Planetenreich der Antike. Erst 1781 entdeckte William Herschel im englischen Bath eine noch fernere, sehr schwache Welt. Man taufte sie schließlich "Uranus", nach dem griechischen Himmelsgott. Diesen, so erzählte einst Hesiod, brachte die Erdgöttin selbst hervor - damit er sie sternreich bedecke und den Göttern niemals wankender Wohnsitz sei. Mangels alter Schablonen reagierten Astrologen recht hilflos auf diesen neuen Planeten. So erklärte ihn Leo etwa zum Gestirn der ungewöhnlichen Menschen, der Exzentriker, der Hypnotiseure und der Sterndeuter selbst; seine Kinder besäßen ein gerüttelt’ Maß an Intuition und Originalität.

Bei Holst betritt "Uranus, der Magier" die Bühne mit großem Furore und ausladendem Gestus. Sein extrovertierter Charakter strotzt voll Selbstvertrauen und Enthusiasmus. Uranus wirkt sprunghaft und zeitweise geradezu grotesk. Mitunter ähnelt er mehr einem Jahrmarktsgaukler als einem Himmelsgott. Das erklingende Marschmotiv soll womöglich an die Willensstärke des Mars erinnern; vielleicht setzt Holst damit aber auch dem Uranus-Entdecker selbst ein Denkmal. Der deutschstämmige Herschel hatte England zunächst als Militärmusiker betreten.

Neptun, der fernste Planet, ging den Astronomen erst 1846 ins Netz. Bei der Namenswahl stand der römische Gewässergott Pate. Neptun braucht 165 Jahre für einen einzigen Umlauf, weilt er doch 30 Mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde. Er markiert die Außengrenze des Planetensystems. Dahinter wähnt man zu Holsts Lebzeiten nur noch Leerraum, der sich Lichtjahre weit bis zum nächsten Fixstern erstreckt.

Mystiker Neptun

Astrologen kürten Neptun damals zu einer Welt an der Grenze, die gleichzeitig Grenzen aufheben und den Menschen mit übernatürlichen Kräften in Kontakt bringen soll. Für Alan Leo repräsentiert er außerdem die Unterwerfung des Individuums unter eine göttliche Autorität. Bei Holst erscheint "Neptun, der Mystiker" langsam und leise. Er durchmisst das All mit stoischer Ruhe. Sparsame, sehr kleine Tonintervalle lassen die Weite seiner Bahn und des daran anschließenden Raums erahnen. Der Satz ist wie mit Wasserfarben gemalt. Der Komponist hängt hier wohl Gedanken an die Zeitlosigkeit und an das Jenseits nach. Ein einsamer, wortloser Frauenchor verliert sich schlussendlich im Nichts.

"Die Planeten" finden 1920 enthusiastischen Beifall, die Reaktionen sind überschwänglich. Doch die späteren Werke des Engländers wollen sich daran nicht messen lassen: Holst geht andere Wege. Von den hunderten Werken aus seiner Feder wird die Planeten-Suite zu seinem berühmtesten Vermächtnis. Der zeitlebens kränkelnde Musiker stirbt am 25. Mai 1934 in London.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 22 Jahren astronomische Artikel für die "Wiener Zeitung". Internet: www.himmelszelt.at.