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Leere im Meer, Leere am Teller

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen

Die Küstengewässer von Ghana zählten einst zu den fischreichsten der Welt. Nach erzwungener Privatisierung der staatlichen Fangflotte erlebt das westafrikanische Land die industrielle Ausbeutung seiner Hoheitszonen.

Stille über dem Ozean. Zwei Stunden lang dröhnte der Außenborder, dann hat Joshua Akaa ihn per Knopfdruck abgestellt. Schweigend steht der Fischer am Heck seiner Piroge und lauscht in die Nacht hinein. Es ist fünf Uhr morgens auf dem Golf von Guinea, über dem 38-Jährigen treiben Wolkenfetzen vor den Halbmond, unter ihm schlägt das Wasser schmatzend gegen die Holzplanken seines Boots.

Fischen als Folklore

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Harte Konkurrenz: "Es gibt zu viele Fischer, keiner wird mehr satt", erklärt Joshua vom Kutter "Oneday" (r.) zum Auftauchen der "Drogba" in derselben Fangzone.
© Foto: Lichterbeck

Nach einer Weile sagt Joshua: "Ich kann die Fische hören. Ich weiß, wohin sie schwimmen." Er setzt den Motor wieder in Gang und steuert weiter hinaus aufs offene Meer. Als die letzten Lichter der Küstendörfer am Horizont verschwunden sind, drosselt er die Fahrt. Er wirft eine Handvoll Sand ins Wasser und entscheidet: "Hier!"

Drei Stunden zuvor hatte sich Akaa mit den Hilfsfischern James und Ahene am Strand von Kokrobite getroffen, wo seine Piroge im Sand liegt. Joshua schraubte seinen Yamaha-Motor am Boot fest. Dann schoben die Männer das acht Meter lange Gefährt ins Meer. Kokrobite befindet sich 30 Kilometer westlich von Accra, der Hauptstadt Ghanas. Früher war es ein reines Fischerdorf, dann entdeckten Touristen die Palmenbucht, und Ausländer investierten in kleine Hotels und Strandbars. Seitdem kommen Rucksackreisende, Entwicklungshelfer und Botschaftsangehörige, um sich zwischen den bunten Boten der Schiffer zu sonnen. Deren Profession scheint nur noch pittoreske Folklore zu sein. In Wirklichkeit spielt sich vor den Augen der Touristen ein Drama ab, das sie nicht sehen können. Denn es handelt von der Leere. Leere im Meer, Leere im Netz und Leere auf dem Teller.

Als Joshuas nächtliche Entscheidung gefallen ist, schmeißt er einen Anker aus Stahlstreben ins Meer, und James und Ahene beginnen, das Netz auszubringen. Es ist aus Nylon, zwei Meter breit, Plastikschwimmer und Gewichte halten es in der Senkrechten. Die Männer schweigen, das Auswerfen ist eine monotone Tätigkeit. Nur ab und zu stimmt Joshua einen Gesang an: "Looloo, looloo, looloo." In seiner Sprache, dem Ga, das rund um Accra gesprochen wird, heißt "loo" Fisch. "Looloo, looloo, looloo": Bitten um einen guten Fang.

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Als es eine Stunde später über dem Ozean dämmert, tauchen im Umkreis von mehreren Kilometern Dutzende Fischerboote aus der Dunkelheit auf. Da gibt es bananenförmig geschwungene Pirogen mit Außenbordern, wie die von Joshua. Einige Segler, nicht größer als die sprichwörtlichen Nussschalen. Aber auch große, imposante Holzschiffe, auf denen ein Dutzend Seeleute die Netze im Akkord über die Reling ziehen. Keines der Boote hat Lichter an Bord. "Positionsleuchten? Wer soll die bezahlen?", fragt Joshua.

Er und seine Crew sind sechs Nächte in der Woche auf dem Wasser, aber sie haben keinen Kompass, kein Funkgerät und keine Handys. Joshua Akaa fährt seit 26 Jahren hinaus aufs Meer.

Sterne, Wind, Intuition

Bis auf den kleinen Außenbordmotor fischt er noch so wie sein Urgroßvater. "Sterne, Wind, Wellen, Intuition", antwortet er auf die Frage nach seinen Navigationsinstrumenten. Dieselbe Antwort gibt er auf die Frage, woher er wüsste, wo die Fische sind.

James zieht einen Blechtopf mit gebratenen Sardinen und Yams unter einer Sitzbank hervor. Die Männer schaufeln sich das Essen wortlos mit schwieligen Händen in den Mund. Joshua hat eine Baseballkappe ins rundliche Gesicht gezogen, aus deren Schatten zwei unruhige Augen hin- und herwandern. Auf seinen Wangen prangen Stammesnarben, seinen Oberkörper hat er in einen blauen Mantel gehüllt. Seine beiden Gehilfen tragen weite, fleckige Baumwollhosen und Hemden.

James, 32, hat ein knochiges, ausgezehrtes Gesicht mit breiter Nase, über die sich tiefe Furchen eingegraben haben. Ahene ist 19 Jahre alt, großgewachsen, mit langen Armen, sehnigen Beinen und einem breiten Lächeln. Beide bekommen am Ende jeder Fahrt 25 Prozent des Fangs. Joshua stellt Motor, Benzin und Netz. So ist die Abmachung.

Nach dem Frühstück balanciert James barfuß zum Bug und holt das Netz ein. Die Ernte hat begonnen. Mit Muskelkraft wuchtet er das Boot durchs Wasser, Meter um Meter zurück zum ersten Ankerplatz. Joshua und Ahene nehmen die Maschen auf, legen das Netz sorgfältig auf den Boden zwischen die Holzbänke. "Loo, loo, loo."

Vertrauen in Gott

Unser Boot heißt "Oneday". Es ist aus dem leichten hellen Holz des Abachi-Baums geschnitzt. Unterhalb des Bugs steht in blauer Farbe "John 3:16": ". . . damit alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden." (John 3,16 ist eine berühmte Stelle aus dem Johannes-Evangelium: "Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat."; Anm.) Ganz weltlich flattert an einer Stange die Fahne von Ghanas Regierungspartei, der sozialdemokratischen NDC. Seit Ghanas (2012 verstorbener) Präsident John Atta Mills von der NDC den Treibstoff der Fischer subventionierte, sind sie feste NDC-Anhänger. Joshuas 20 PS starker Außenbordmotor hat eine Füllung von 24 Litern, die kosten umgerechnet 20 Euro. Wenn es schlecht läuft, ist das ein Tageslohn.

Es dauert einige Minuten, bis die ersten Fische in den Maschen zappeln: Es sind drei Rote Schnapper. Dann muss James seine Arbeit unterbrechen, weil sich das Netz der "Oneday" mit dem eines anderen Boots verheddert hat. Ahene springt ins Meer und schafft es nach mehrmaligem Tauchen, die Netze zu entwirren. Mit der Zeit holt James immer mehr Fische an Bord, aber keiner ist länger als 20 Zentimeter. Es sind Schnapper, Makrelen und Sardinen. Die Männer lassen sich die Enttäuschung nicht anmerken. Nur als Joshua einen Riss im Netz bemerkt, flucht er. "Das war ein großer Bursche!"

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Am Strand von Kokrobite: Joshua schiebt mit einem Hilfsfischer die Piroge "Oneday" ins Meer.
© Lichterbeck

Als das schwarze Fähnchen, das den Netzanfang markiert, am Horizont zu erkennen ist, übernimmt Ahene den Job von James. Das Erste, was er zutagefördert, sind zerfetzte Quallen. Es folgen Plastiksäcke, Plastikflaschen, Kunststoffsandalen sowie weitere Makrelen, Sardinen und Schnapper. Die einzige Unterbrechung ist der Streit mit der Besatzung eines anderen Boots, der "Drogba".

Zehn Männer wuchten dort ein fast leeres Netz an Bord. Man beschuldigt sich gegenseitig brüllend übers Wasser hinweg, nicht gegrüßt zu haben. Die Anspannung hat auch mit der Konkurrenz zu tun. "Es gibt zu viele Fischer", sagt Joshua. "Keiner wird mehr satt." Nach einer Stunde übernimmt er die letzte Schicht. Doch auch er hat nicht mehr Glück. Nur am Ende greift er einen wild mit dem Schwanz schlagenden Hummer aus dem Netz. Aber der kann die Stimmung an Bord auch nicht mehr aufhellen. Joshuas Intuition hat versagt.

Oder steckt etwas anderes dahinter? Ghanas Küstengewässer zählten einst zu den fischreichsten der Welt: Barrakudas, Heringe, Makrelen, Haie, Thunfische, Tintenfische und Barsche schwammen hier, außerdem gab es Hummer, Langusten, Krabben, Muscheln und Schildkröten. Ghana war neben dem Senegal die bedeutendste Fischfangnation Westafrikas mit einer mehr als 500 Jahre alten Tradition. Bis heute ist Fisch eine der wichtigsten tierischen Proteinquellen, 75 Prozent des heimischen Fangs werden lokal konsumiert. 300 Anlegestellen hat das Fishery Committee for the Gulf of Guinea an der 550 Kilometer langen ghanaischen Küste gezählt. Darunter sind die beiden Tiefseehäfen in Tema und Takoradi, aber auch Dörfer wie Kokrobite. Etwa zwei Millionen Ghanaer leben von der Fischerei - zehn Prozent der Bevölkerung. 125.000 von ihnen sind Meeresfischer wie Joshua. Die anderen arbeiten als Verkäufer, Zwischenhändler oder Bootsbauer. Doch sie alle bangen um ihre Existenz, weil Ghanas Fischgründe erschöpft sind.

"Wir fangen nicht mehr viel", stöhnt Joshua. "Aber manchmal haben wir auch volle Netze", versucht er seine Klage sofort abzumildern. Es scheint, als ob ihm die schlechten Fänge unangenehm seien. Als ob sie seine Fähigkeiten als Fischer - und damit seine ganze Identität - in Frage stellen würden. Dabei kämpft Joshua einen Kampf, den er gar nicht gewinnen kann: Handwerk gegen Industrie, Holzkanu gegen Fabrikschiff, Intuition gegen satellitengestützte Ortungstechnik.

Die Katastrophe begann, als die Vereinten Nationen in den 1980er Jahren beschlossen, die Hoheitsgewässer von Meeresanrainern auf 200 Seemeilen auszuweiten. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Zone zwischen der 12. und der 200. Seemeile zur wirtschaftlichen Nutzung ausgeschrieben werden musste, wenn ein Land diese nicht selbst abfischen konnte. Dazu entschloss sich etwa die Elfenbeinküste, das Nachbarland Ghanas. Sie hat der Europäischen Union in einem "Fischereipartnerschaftsabkommen" bis 2013 das Recht abgetreten, in ihren Gewässern Thunfisch zu jagen. Dafür zahlt die EU fast 600.000 Euro jährlich.

EU-Fischereipolitik

Andere Länder bekommen deutlich mehr. Etwa Mauretanien, das jedes Jahr 70 Millionen Euro kassiert. Diese werden nicht von den Reedern der Fangschiffe bezahlt, sondern von den EU-Steuerzahlern. Dass die Gelder oft nicht zur Förderung einer "verantwortungsvollen Fischereipolitik" in Afrika verwendet werden, wie es in den Verträgen heißt, sondern in die Taschen korrupter Beamter fließen, ist kein Geheimnis.

In Brüssel betont man dennoch das Positive der Abkommen: Die EU-Flotte sei ausgelastet und Arbeitsplätze seien gesichert. Außerdem würden die überfischten europäischen Fanggründe entlastet. Das Negative hat Greenpeace aufgelistet: Die Fischbestände vor Westafrikas Küste und die Leben von Millionen Menschen seien ernsthaft gefährdet. Allein der Beifang eines Supertrawlers, der während einer Fangfahrt tot oder sterbend wieder ins Meer geworfen werde, entspreche dem jährlichen Konsum von 34.000 Westafrikanern. Der Lösungsvorschlag der EU: Die europäischen Trawler sollen den minderwertigen Teil ihrer Beute in Afrika verkaufen. Was den Effekt hat, dass die afrikanischen Kleinfischer noch schneller in den Ruin getrieben werden, weil sie mit den Dumpingpreisen nicht mithalten können.

Ghana weigerte sich von Anfang an, Fischereiabkommen zu schließen. Das Land war selbst in der Lage, seine Küsten abzufischen, weil es 140 Trawler aus sowjetischer Fabrikation besaß. Dann aber zwang die Weltbank das Land zur Abwrackung und Privatisierung der staatlichen Flotte, die überwiegend von Koreanern und Chinesen aufgekauft wurde. Immer öfter drangen nun auch ausländische Schiffe illegal in ghanaische Gewässer ein. Darunter nicht nur Schiffe unter dubiosen Flaggen wie jener von Honduras, Liberia oder Panama, sondern auch russische, chinesische und europäische Trawler.

Die EU-Flotte wird zu zwei Dritteln von spanischen Schiffen gebildet, aber auch deutsche und niederländische Supertrawler gehören dazu. Die größten von ihnen können pro Tag 250 Tonnen Fisch fangen, verarbeiten und einfrieren. Für die gleiche Menge bräuchte Joshua sein ganzes Fischerleben. Die britische Beraterfirma Marine Resources Assessment Group schätzt, dass Ghana täglich illegal um Fische im Wert von 100.000 US-Dollar gebracht werde.

Ein weiterer Effekt der Raubfischerei ist die Verdrängung der alten, in Ghana registrierten Kutter mit ihren neuen chinesischen oder koreanischen Mannschaften. Sie müssen immer näher an die Küste heranfahren und machen dort wiederum Joshua die Fische streitig. Wegen ihrer engmaschigen Netze werden Jungfische mitgefangen, womit Nachwuchs sowie Nahrung für Raubfische fehlt. Außerdem wenden sie das verpönte Lichtfischen an sowie das verbotene Paartrawlen: Dabei wird ein Netz zwischen zwei Kutter gespannt und alles Leben dazwischen regelrecht wegrasiert.

Es ist neun Uhr, die Sonne sticht bereits herab, als Joshua den Außenborder starten will, um nach Kokrobite zurückzufahren. Doch so sehr er auch am Anlasser reißt - der Motor springt nicht an. Joshua klappt den Außenborder hoch, nimmt die Verkleidung ab, schraubt herum, verstellt und reinigt das Innere der Maschine. Beim nächsten Versuch knattert der Motor los, säuft aber sofort wieder ab. Joshua schraubt und fummelt. Es sind bange Minuten. Es ist niemand in Sicht, der Joshua den langen Weg zurückschleppen könnte. Und das Ruder am Heck taugte als Antrieb vielleicht in den Kanälen Venedigs. Schließlich nimmt Joshua den Benzinfilter heraus, versucht ihn zu überbrücken. Und tatsächlich, der kleine Motor tuckert los, einwandfrei, bis Land in Sicht ist.

Mühseliges Überleben

Am Strand von Kokrobite wartet eine Gruppe Jugendlicher und Kinder, als Joshua die "Oneday" geschickt von einer Welle auf den Strand tragen lässt. Mit Stricken ziehen sie das Boot über Planken auf den Sand und ziehen die Fische sofort aus den Netzen. Der Boden der "Oneday" bedeckt sich langsam mit silbern glänzenden Makrelen und Sardinen, alle klein bis mittelgroß. Der Fang wird aufgeteilt. Es bildet sich eine Traube. Die Frauen der Fischer verkaufen viele Fische schon am Strand für einige Ghanaische Cedis, umgerechnet ein bis zwei Euro, und tragen den restlichen Fang in Bottichen ins Dorf.

Joshua, Ahene und James setzen sich in den Schatten der "Oneday" und flicken mit langen Nadeln das Netz. Nach anderthalb Stunden verstauen sie es wieder im Boot. Es ist Nachmittag, als Joshua den Außenborder abschraubt und nach Hause trägt. Er bewohnt mit seiner Frau und 13 Kindern ein kleines, bröckelndes Steinhaus. Vorne sind die Küche und der Essraum mit einigen Stühlen, hinten stehen die Betten eng beieinander. Ein Fernseher ist da, ein paar Hühner laufen umher, die Toilette ist im Hof. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass Joshua von der Hand in den Mund lebt.

Er könne sich keine andere Arbeit vorstellen, als zu fischen, sagt Joshua. Er hat weder Land, noch ist er besonders gebildet. Seit seinem zwölften Lebensjahr fischt er. Darauf ist er stolz. Es nützt ihm bloß wenig, wenn es nichts mehr zu fangen gibt. Als Joshuas Frau nach Hause kommt, bringt sie 37 Cedis mit, umgerechnet 15 Euro, und einige Fische für das Abendessen. "Manchmal bringt sie auch 100 Cedis mit", sagt Joshua, "und manchmal gar nichts." Von dem Geld müssen Reis, Yams, Öl und Wasser gekauft werden. Und Treibstoff für den Außenborder. Es war ein schlechter Tag, meint Joshua. "Morgen fangen wir mehr."

Philipp Lichterbeck, geb. 1972 in Frankfurt, Studium der Lateinamerikanistik, Journalist. Derzeit freier Korrespondent in Rio de Janeiro.