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Die Grenzen von Glauben und Vernunft

Von Ulrich H. J. Körtner

Reflexionen

Religiöse Standpunkte sind in bio-ethischen Fragen, etwa wenn es ums Klonen geht, unabdingbar, aber nicht grundsätzlich überlegen.


Die Frage, wieviel Religion die säkulare Gesellschaft nicht nur verträgt, sondern möglicherweise auch braucht, bewegt die europäischen Gesellschaften in den letzten Jahren intensiv, besonders dann, wenn es dafür symbolträchtige Anlässe gibt. Man denke an die Auseinandersetzungen um das islamische Kopftuch an französischen oder deutschen Schulen, an diverse Urteile auf nationaler und europäischer Ebene zu Kruzifixen in staatlichen Klassenzimmern wie auch zur rituellen Beschneidung jüdischer und muslimischer Buben.

Theologische Ethik

Ein besonders markantes Beispiel für die strittige Rolle der Religion im öffentlichen Raum sind die Bioethik und die Biopolitik. Nicht nur melden sich Religionsgemeinschaften, insbesondere die christlichen Kirchen, in den öffentlichen Debatten zu Gentechnik, Biomedizin oder Reproduktionsmedizin regelmäßig mit eigenen Stellungnahmen zu Wort und versuchen, Einfluss auf die biopolitische Gesetzgebung zu nehmen. Viel mehr sind unter den Mitgliedern staatlicher (Bio-)Ethikkommissionen auf nationaler wie internationaler Ebene immer auch Vertreter von Religionsgemeinschaften sowie akademische Theologen. So zählt etwa die fünfzehnköpfige European Group on Ethics der EU-Kommission immerhin vier Theologen in ihren Reihen. Ähnlich sind die Verhältnisse in Österreich, Deutschland und der Schweiz.

Die Rolle religiöser Standpunkte und einer wissenschaftlich-theologischen Ethik in den bioethischen und biopolitischen Diskursen säkularer Gesellschaften wird höchst kontrovers gesehen, wobei Kritiker einer religiösen Sichtweise häufig zwischen Glaubensüberzeugungen und einer solche Überzeugungen kritisch reflektierenden Theologie, wie sie an den Universitäten als wissenschaftliche Disziplin betrieben wird, keinen Unterschied machen.

Ethik als kritische Theorie der Moral - so ist immer wieder zu hören und zu lesen - kann nur dann einen universalen Geltungsanspruch erheben, wenn sie allein aus allgemeinen Vernunftprinzipien hergeleitet wird. Eine religiöse Moral und eine auf diese bezogene Ethik können dagegen nur einen partikularen Geltungsanspruch erheben, der allenfalls innerhalb einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu überzeugen vermag.

Kampf der Konzepte

Im Hintergrund der Diskussion steht die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus bzw. universalistischen Ethikkonzeptionen und Kommunitarismus, die zunächst in den USA geführt wurde, seit geraumer Zeit aber auch in Europa Beachtung findet. Universalistische bzw. liberalistische Ethiken vertreten den Anspruch, dass ihre Prinzipien und Krite-rien kultur- und traditionsunabhängig sind.

Mag sich etwa das moderne Konzept der Menschenwürde auch jüdischem und christlichem Erbe verdanken, sollen religiöse Argumente nach diesem Modell für die ethische Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten in der säkularen Gesellschaft keine tragende Rolle spielen. Demgegenüber vertreten Kommunitaristen die These, dass ethische Konzepte und Prinzipien nicht kulturunabhängig sind. Während also auf der einen, der kommunitaristischen Seite die Forderung erhoben wird, die Vielfalt gesellschaftlicher, kulturell und auch religiös geprägter Sichtweisen in moralischen Fragen angemessen zu berücksichtigen, wird auf der anderen, universalistischen Seite die These vertreten, die Vielfalt der moralischen Überzeugungen müsse zumindest insoweit reduziert werden, dass religiöse und weltanschaulich gebundene Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden.

Im Ergebnis läuft dieser Vorschlag jedoch auf die Zumutung hinaus, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jene religiösen Hintergründe verleugnen sollen, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist, und die diese Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen machen. Statt die in der Gesellschaft vorhandenen religiösen Orientierungen zu kaschieren, sollten diese bewusst in die öffentliche Debatte einbezogen werden.

Falsche Alternativen

Mit ähnlichem Tenor hat sich auch der deutsche Philosoph Jürgen Habermas in den religionspolitischen und biopolitischen Debatten der letzten Jahre zu Wort gemeldet. In einem Vortrag, den er etwa vergangenes Jahr im Rahmen der Reihe "Politik und Reli-gion" in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung in München gehalten hat, stellte Habermas klar, dass die Säkularisierung der Staatsgewalt nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft zu verwechseln ist.

Der falschen Alternative von aufgeklärtem Universalismus und multikulturellem Relativismus hält Habermas entgegen, dass sich das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten erfülle. In den religiösen Traditionen und ihrer Semantik liege ein möglicherweise noch unabgegoltenes Deutungspotenzial menschlicher Existenz, das durch eine säkulare Sprache - zumindest bis auf weiteres - nicht vollständig ersetzt werde.

Habermas denkt dabei etwa an die jüdische und christliche Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in bioethischen und biopolitischen Zusammenhängen die Unverfügbarkeit des Menschen in einer Weise zum Ausdruck bringe, die der Begrifflichkeit der Menschenwürde in bestimmter Hinsicht überlegen sei. Daher müsse "der liberale Staat den säkularen Bürgern nicht nur zumuten, religiöse Mitbürger, die ihnen in der politischen Öffentlichkeit begegnen, als Personen ernst zu nehmen. Er darf von ihnen sogar erwarten, dass sie nicht ausschließen, in den artikulierten Inhalten religiöser Stellungnahmen und Äußerungen gegebenenfalls eigene verdrängte Intuitionen wiederzuerkennen - also potenzielle Wahrheitsgehalte, die sich in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation einbringen lassen."

Wenngleich sich religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften in öffentlichen Diskursen - etwa über Fragen der Bioethik und Biopolitik - explizit einer religiösen Sprache und entsprechender Argumente bedienen dürfen, müssen sie nach Ansicht von Habermas akzeptieren, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Diskussionsbeiträge erst dann in die politischen Entscheidungsprozesse Eingang finden kann, nachdem er in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt worden ist.

Öffentliche Theologie

Solche Übersetzungsarbeit zu leisten, ist das Anliegen einer Öffentlichen Theologie. Der evangelische Theologe Wolfgang Vögele definiert Öffentliche Theologie als "die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in der Öffentlichkeit in die Gesellschaft hinein". Sie ist für Vögele sowohl "die Kritik und die kons-truktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an den öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden".

Wie der evangelische Sozialethiker und bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm erläutert, muss Öffentliche Theologie einerseits in der christlichen Tradition gegründet sein, andererseits aber "zweisprachig" agieren können: Sie muss über ihre eigenen biblischen und theologischen Quellen Auskunft geben, zugleich aber eine für die breite Öffentlichkeit verstehbare Sprache sprechen.

Wie bei jeder Übersetzungsarbeit stellt sich jedoch auch für religiöse Sprachen und Sprachspiele die Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit. Auch Jürgen Habermas ist sich dieser Problematik bewusst. Er spricht zum Beispiel von einer "roten Linie" zwischen medizinischer Therapie und Enhancement (der Begriff wird allgemein verwendet, um biomedizinische Interventionen zu charakterisieren, die über die Heilung von Krankheiten und die Erhaltung von Gesundheit hinausgehen, Anm.), die wir nicht überschreiten sollten, auch wenn es sich nur um eine regulative Idee handeln kann.

Sogleich aber fragt Habermas, ob es hinreichend gute Argumente dafür gibt, diese Grenze nicht zu überschreiten. Ehrfurcht und Respekt vor dem Leben haben eine starke Grundierung im Schöpfungsglauben der Religionen. Ihre normativen Vorstellungen können aber in einer säkularen Gesellschaft nicht mehr mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Der Versuch, religiöse Gehalte in ein vermeintlich allgemein vernünftiges Naturrecht zu übersetzen, scheitert aber, wie Habermas richtig feststellt, schon daran, dass die menschliche Natur kulturell überformt und veränderbar ist.

Sofern man überhaupt von der Notwendigkeit einer Grenzziehung zwischen therapeutischen und eugenischen Eingriffen in die menschliche Natur überzeugt ist, fehlen dafür nach Habermas überzeugende säkulare Gründe. Zwar bemüht er sich, solche Argumente zu entwickeln, kommt am Ende aber doch auf ein biokonservatives "Gefühl, das sich gegen alle Formen der liberalen Eugenik sträubt", zurück. Auch wenn er es durch gattungsethische Erwägungen zu rationalisieren versucht, handelt es sich doch, wie er einräumt, schlussendlich nur "um eine schwache ethische Güterabwägung jenseits der Moral".

Wie schwer es fällt, außerhalb religiöser Sprach- und Denkmuster gegen eugenische oder transhumanistische Bestrebungen zu argumentieren, zeigt bereits Habermas’ Essay über die "Zukunft der menschlichen Natur" (2001). Auch wenn er darin auf einer postmetaphysischen Philosophie und Ethik beharrt, argumentiert Habermas letztlich mit einem quasireligiösen Begriff des Unverfügbaren. Allerdings möchte er zwischen dem Unantastbaren - gemeint ist konkret die Menschenwürde, die er Embryonen noch nicht zugestehen möchte - und dem Unverfügbaren unterscheiden, das "unserer Verfügung aus guten moralischen Gründen entzogen sein" kann.

Moralische Intuitionen

Die "postmetaphysische Enthaltsamkeit" stoße nämlich an ihre Grenzen, sobald es um Fragen einer "Gattungsethik" gehe. Am Ende seines Argumentationsganges meint Habermas, "damit sich die Person mit ihrem Leib eins fühlen kann, scheint er als naturwüchsig erfahren werden zu müssen - als die Fortsetzung des organischen, sich selbst regenerierenden Lebens, aus dem heraus die Person geboren worden ist".

Damit artikuliert Habermas letztlich nicht viel mehr als eine - durchaus verständliche - "Beunruhigung", gegen die er die "Intention", menschliches Leben selbst im frühesten Stadium zu schützen, aufbieten möchte, auch wenn er ihm noch keinen Personenstatus zuerkennt.

Nun kultivieren auch Religion und Glaube moralische und metamoralische Intuitionen. Sie geben eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz, indem sie dem Menschen ein bestimmtes, auf Transzendenz bezogenes existenzielles Verständnis seiner selbst erschließen.

Der Einsatz technischer Mittel in Medizin und menschlicher Fortpflanzung stellt die christliche Schöpfungslehre und Anthropologie zwar vor neue hermeneutische Herausforderungen, setzt jedoch die Möglichkeit, die eigene Existenz als von Gott geschaffen zu deuten, nicht prinzipiell außer Kraft.

Der eigene Körper ist allerdings die notwendige Bedingung unserer Existenz als Person. Das Recht auf Leben schließt das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein. Nicht jeder Eingriff in die Leibsphäre ist aber als Angriff auf dieses Recht und auf die Menschenwürde zu verstehen, sofern er medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Zwecken dient, die gerade der Erhaltung des Lebens dienen.

Besonders sensibel sind freilich Eingriffe in das menschliche Genom, und hier insbesondere Versuche in Richtung Keimbahntherapie, deren Schaden möglicherweise größer als der intendierte therapeutische Nutzen wäre und einen massiven Eingriff in die Integrität des Ungeborenen darstellen würden. Aus gutem Grund ziehen Menschenrechtsdokumente und internationale staatliche Gesetzesinitiativen hier ebenso eine Grenze wie beim reproduktiven Klonen.

Ob die Würde der Menschen angetastet wird, hängt nicht so sehr von den angewendeten Techniken der Reproduktion als vielmehr von den mit ihrem Einsatz verbundenen Zielen und der dabei gegenüber dem menschlichen Leben waltenden Grundeinstellung ab. Grundhaltung und Ziele der Reproduktionsmedizin müssen allerdings der ethischen Prüfung unterzogen werden. Dennoch: Die Anerkennung eines Menschen als Meinesgleichen darf nicht von der Naturwüchsigkeit seines Körpers abhängig gemacht werden, sondern von seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung.

Theologisch gesprochen ist es die von unserer biologischen Beschaffenheit unabhängige, zuvorkommende und freie Gnade Gottes, welcher der Mensch seine Anerkennung und Rechtfertigung verdankt. Schon genetisch betrachtet ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen. Dass er es auch bleiben darf, ist sein zu verteidigendes Recht. Gerade aus Sicht der Genetik gilt: Nobody is perfect. Weil es aber im Verlauf der Zellteilungen, die unser Körper im Laufe unseres Lebens durchläuft, immer wieder zu Mutationen kommt, bleibt auch die Idee, einen genetisch vollkommenen Menschen züchten zu können, eine Illusion.

Krise der Metaphysik

Freilich repräsentiert auch ein theologischer Zugang zu bioethischen Fragen, wie er hier angedeutet worden ist, eine Form des schwachen Denkens, mag er sich auch auf den biblischen Offenbarungsglauben stützen. Ein Überlegenheitsgestus gegenüber einer nachmetaphysischen Philosophie, wie sie Habermas vertritt, wäre völlig unbegründet. Denn auch christliche Theologie in der Moderne ist von der epochalen Krise der Metaphysik erfasst.

Die "Gotteskrise" (Johann Baptist Metz) und damit die Erfahrung, dass Gott fehlt, gehört zu den zentralen Beunruhigungen heutiger Theologie - allen Versuchen der Beschwichtigung und Selbstberuhigung zum Trotz. Wie unter diesen Bedingungen verantwortlich von Gottes lebensfördernder Nähe und Gegenwart gesprochen werden kann, ist die Kernfrage heutiger Theologie. Es ist das beiderseitige Bewusstsein von dem, was fehlt, welches das Gespräch der Theologie mit Jürgen Habermas lohnend macht.

Fortsetzung auf Seite 34

Ulrich H. J. Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien.