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Verteidigung der Demokratie

Von Tamara Ehs

Reflexionen

Wie das Beispiel Ungarn zeigt, tut sich die EU schwer damit, Verstöße einzelner Mitglieder gegen allgemeingültige Werte und Normen angemessen zu sanktionieren. - Das müsste nicht so sein.


In Viktor Orbán hat Brüssel ein neues Enfant terrible gefunden, das die "Wertegemeinschaft EU" zwingt, Farbe zu bekennen. Waren im Jahr 2000 bilaterale diplomatische Unhöflichkeiten der 14 EU-Mitglieder gegen den Regierungseintritt der Haider-FPÖ gesetzt worden, bevor das Kabinett Schüssel überhaupt etwas Wertbrüchiges getan hatte, weist die derzeitige ungarische Regierung bereits einen langen track record von Maßnahmen vor, die nicht nur das System der Checks and Balances aushebeln, sondern in der Gesamtschau rechtsstaatlich und demokratisch mehr als bedenklich sind.

Ende Juni hat der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des Europäischen Parlaments einen Bericht über die Lage der Grundrechte in Ungarn angenommen und 40 Empfehlungen an die ungarische Regierung und die Europäische Kommission zur weiteren Vorgehensweise ausgesprochen. Hinter den Kulissen wird derweil hitzig weiter beraten, was man im konkreten Anlassfall tatsächlich tun könnte - und vor allem, welches Instrumentarium man entwickeln muss, um künftig effizient auf mögliche Wertebrüche eines Mitgliedstaates reagieren zu können. Denn nach den negativen Erfahrungen mit der kopflosen EU-14-Aktion gegen die Regierung Schüssel, die bloß den Euroskeptizismus steigerte, ist man bei der Verteidigung der Wertegemeinschaft eher zurückhaltend.

Schutz der Werte

Die Europäische Union ist nach Artikel 2 des Unionsvertrags eine Wertegemeinschaft und nach Artikel 7 zum Schutz dieser Werte nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet. Doch während die Staats- und Regierungschefs in einer Neuauflage des überkommen geglaubten "Intergouvernementalismus" - also mit zwischenstaatlichen Absprachen statt mit EU-integriertem Vorgehen - angetreten sind, den Euro zu retten, gestaltet sich die Verteidigung von Werten wie Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit oder die Wahrung der Menschenrechte schwierig. Die Kommission hat eine Website zur Darstellung ihrer Bemühungen in der Wirtschafts- und Finanzkrise lanciert; eine entsprechende Seite über den Umgang mit Orbáns "parlamentarischer Diktatur" (Paul Lendvai) sucht man vergebens.

Das sogenannte "Kopenhagen-Dilemma" der EU besteht darin, dass beitrittswillige Länder auf Herz und Nieren geprüft werden, ob sie die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kriterien, die der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen festgelegt hat, erfüllen, während EU-Mitglieder keiner weiteren Prüfung unterliegen. Zwar gibt es seitens der Europäischen Kommission jährliche länderspezifische Berichte mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung und heuer erscheint erstmals auch ein Justizbarometer. Die Sanktionsmaßnahmen gegen einen Mitgliedstaat, der gegen die gemeinsamen Werte verstößt, haben dagegen eher symbolischen Charakter. Artikel 7 des Unionsvertrags ermöglicht es, bei schwerwiegender Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte die Stimmrechte des betreffenden Staates im Rat auszusetzen; doch dies erscheint nicht nur dem Kommissionspräsidenten Barroso als "nukleare Option" und wird kaum zur Anwendung kommen.

Auch ist die Legitimität der europäischen Institutionen geringer als jene der ungarischen Regierung, die auf ihre Wahlerfolge verweisen kann. Strategisch gesehen ist die europäische Zurückhaltung daher verständlich, weil zu erwarten wäre, dass eine orchestrierte Aktion "gegen Ungarn" der Fidesz zusätzlich einen Solidarisierungseffekt verschaffen würde und jegliche interne Gegenpolitik zum Scheitern verurteilt wäre.

Victor Orbán regiert nicht autoritär-brutal wie etwa die Machthaber der 1930er Jahre. Aber die Fidesz hat als Regierungspartei zahlreiche Maßnahmen gesetzt, die einzeln gesehen nicht zu beanstanden, in der Kombination für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aber desaströs sind. So ist etwa gegen den neuen außerparlamentarischen Haushaltsrat, der auf Budgetdisziplin achten soll, an sich nichts einzuwenden. Doch seine Befugnis, gegen die Annahme des Gesamthaushalts ein Veto einzulegen, beschränkt die Handlungsmöglichkeiten der demokratisch gewählten Legislative immens, wodurch deren Budgethoheit nicht mehr gegeben ist.

Dem seit 2011 gültigen ungarischen Grundgesetz fehlte von Beginn an der integrierende Charakter. Es wurde allein von der Regierungspartei Fidesz verabschiedet, die durch ihre Zweidrittelmehrheit seither den systematischen Umbau der ungarischen Demokratie vorantreibt. Vor allem schafft die Verfassung mittels der thematischen Neusetzung von sogenannten Kardinalsgesetzen (also Gesetzen, die nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden können) zahlreiche Blockademöglichkeiten. Fidesz versteht sich als einzige legitime Partei des ungarischen Volkes und zementiert ihre Ideologie im Grundgesetz ein, was jede künftige Regierung mit einfacher Mehrheit handlungsunfähig machen wird.

Während man zur Rettung des Euro Griechenland faktisch auf den politischen Status eines Beitrittslandes degradiert, hier also kein "Kopenhagen-Dilemma" aufkommt, regiert bei der Rettung der Demokratie das große Zaudern. In Griechenland (und Zypern) haben die mächtigen Kredit gebenden Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland, ein wirtschaftliches Interesse. Im Gegensatz dazu birgt ein Engagement im Falle Ungarns offenbar keinen Anreiz, solange nicht ökonomische Belange im Spiel sind. Die Vision eines gemeinsamen demokratischen Rechtsraums gerät völlig aus dem Blick.

Unionsbürgerschaft

Die EU steht heute nicht mehr nur für Marktintegration. Ihr immenser Einfluss auf die Lebensverhältnisse der Europäer stellt sie vor erhöhte Legitimationsanforderungen. Aus diesem Grund ist das Konzept Unionsbürgerschaft in den letzten Jahren immer mehr zum legitimatorischen Fluchtpunkt geworden. Das beweist einerseits der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung, andererseits die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative (EBI), wonach eine Million Unterstützungserklärungen aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten die Kommission auffordern können, rechtssetzend tätig zu werden.

Die Unionsbürgerschaft ist heute nicht mehr nur ein transnationales Konzept, sondern hat grundlegenden Status: Civis europaeus sum. Wir sind Bürger über unsere Staaten hinaus.

Diese autonome europäische Bürgerschaft kann ein Teil der Antwort auf das Kopenhagen-Dilemma im Umgang mit wertbrüchigen Mitgliedstaaten sein. Sie könnte dort als Souverän auftreten, wo die EU-Institutionen säumig sind. Denn das europäische Problem ist nicht Ungarn oder Griechenland, sondern die Reduktion von Politik auf Technik, das "Bypassing des europäischen Volkes durch entpolitisierte Politik" (Christoph Möllers). Das europäische Problem ist der "kollektive Bonapartismus" (Hauke Brunkhorst) der Mitgliedstaaten, die in Konflikt geraten mit einem gleichzeitig wachsenden emanzipatorischen Gehalt des EU-Rechts.

Es gibt im Umgang mit der Regierung Orbán nicht die eine Instanz, die das Problem lösen kann. In Brüssel wird derzeit die Einsetzung einer "Kopenhagen-Kommission" überlegt, die ein grundrechtliches Ländermonitoring betreiben und Handlungsanweisungen geben soll. Doch sie wäre nur eine weitere institutionelle Krücke, ein weiteres Akronym "aus Brüssel", ein weiteres Beispiel technokratischer Depolitisierung. Als Hüter der EU-Verfassung sind aber alle aufgerufen, die mit dieser Verfassung zu leben haben und sich an die Verträge halten müssen: Kommission, Parlament, EuGH und Mitgliedsstaaten - aber auch wir, die Unionsbürger. Wir sind zur Vertiefung und Verteidigung der europäischen Demokratie aufgerufen.

In der EU gibt es keine rein innerstaatlichen Angelegenheiten mehr. Was in Ungarn passiert, betrifft nicht nur die Ungarn, sondern jeden von uns als Unionsbürger. Jeder EU-Bürger ist bereits jetzt von der Politik Viktor Orbáns betroffen: einerseits, weil Ungarns Regierung eine Stimme im Rat hat und damit jeden von uns mitregiert, andererseits, weil man es sich als jüdischer, homosexueller oder dunkelhäutiger Unionsbürger eher zweimal überlegt, in Ungarn seine EU-Freiheitsrechte ausüben zu wollen.

Es könnte sich also eine Europäische Bürgerinitiative formieren, die die Kommission auffordert, in Fragen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten der Unionsbürger tätig zu werden, insofern diese die garantierten EU-Freiheitsrechte betreffen und von einem Mitgliedstaat beeinträchtigt werden. Das Ins-trument der EBI ist seit April 2012 in Kraft; es gibt bereits erste Initiativen, die sich mit grundrechtlichen Fragen befassen, wie etwa die zur Vorprüfung eingereichte "Minority Safepack"-Initiative der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen, die sich auf Minderheitenschutzfragen bezieht.

Neue Aktionsformen

Außerdem wäre mit Blick auf die Zukunft eine Überarbeitung des Artikels 7 zu erwirken, sodass auch eine erfolgreiche EBI imstande ist, die Kommission zu aktivieren, in Fragen des Artikels 7 tätig zu werden. Im Falle einer Verletzung von EU-Grundwerten könnte eine Million Unionsbürger aus einem Viertel (oder parallel zu Artikel 7: aus einem Drittel) der Mitgliedstaaten - davon eine signifikante Anzahl von Unterschriften aus jenem Land, gegen dessen Regierung Sanktionen gesetzt werden sollen - die Kommission auffordern, das Verfahren in Gang zu setzen. Die Kommission wäre wohl noch immer nicht verpflichtet, danach zu handeln, müsste aber die Vertreter der Initiative zumindest empfangen und öffentlich erklären, warum sie nicht tätig wird. Das entspräche der Grundidee der EBI: dort tätig zu werden, wo die politischen Institutionen säumig sind.

So manches Zögern der EU würde zu mehr Rechtfertigung nötigen, wenn eine Million Unionsbürger (viele davon aus Ungarn) eine Petition einbrächten, um Maßnahmen zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Das ist eine Qualität der Demokratie: Man hat das Recht darauf zu erfahren, warum nichts (oder wenig) unternommen wird. Mit der Einbeziehung der Unionsbürgerschaft in Fragen des Umgangs mit vertragsbrechenden Mitgliedstaaten wäre nicht nur der Demokratie im betreffenden Land geholfen, sondern auch der EU-europäischen Demokratie, die viel dringender der Rettung bedarf als der Euro.

Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin und Lektorin an der Universität Salzburg. Sie ist Mitglied der ÖFG-Arbeitsgruppe "Die Zukunft der österreichischen Demokratie" und Beiratsmitglied von "[mehr demokratie!]" sowie stellvertretende Vorstandsvorsitzende der "Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft".