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Alte Wunden, neue Nöte

Von Stefan May

Reflexionen

Die bosnische Hauptstadt Sarajevo zwanzig Jahre nach dem Krieg: Hohe Arbeitslosigkeit, ein abgegrenztes Nebeneinander der Religionen und salafistische Missionierungsversuche prägen den Alltag.


"Nach außen wirkt Sarajevo europäisch, wohlhabend. Doch der Schein trügt."
© Foto: May

Ein grobkörniger Film läuft in Endlosschleife über den Bildschirm: Detonationen, Rauchwolken. Flammen, die wie gelb-rote Fahnen aus der beschossenen Bibliothek schlagen und das Wissen des Landes, seine Erinnerung, vernichten. Sarajevo zur Zeit der Belagerung zwischen 1992 und 1995. Das Tunnelmuseum hält die Bilder an jene Zeit wach.

Es ist in einem unscheinbaren Einfamilienhaus in der kleinen Ortschaft Butmir eingerichtet. An seinen Garten schließt die Piste des Flughafens der bosnischen Hauptstadt, deren Silhouette sich auf der anderen Seite im Dunst abzeichnet. Von hier aus und von einer Stelle 800 Meter entfernt, hatten Anfang 1993 rund 160 Menschen mit verzweifeltem Willen einen Tunnel gegraben. Vier Monate und vier Tage später war er fertiggestellt, an der Durchbruchstelle untertage reichten sich die Männer die Hände.

"Das war kein normales Händeschütteln", sagt die 28-jährige Dina Memic an der Kasse des Museums, "es bedeutete, dass alles gut gehen werde, dass Sarajevo mit seiner Verteidigung Erfolg haben und die Bevölkerung gerettet würde." Monatelang war Sarajevo damals durch bosnische Serben auf den Anhöhen rundum eingekesselt gewesen. Der Tunnel wurde zur Versorgungsader der Stadt, bis zum Ende der Belagerung zwei Jahre später. Lebensmittel, Verwundete, Munition und Waffen wurden durch die 1 x 1,60 Meter schmale Röhre transportiert.

Der Film zeigt die Grabungen mit einfachsten Mitteln, Männer, die in Eimern Grundwasser durch den Schlamm nach draußen schleppen. Alles musste unbemerkt geschehen, denn sowohl die auf dem Flughafen stationierten UN-Einheiten wie die Serben auf den Bergen hatten Verdacht geschöpft. Gegenstände im Museum machen Geschichte greifbar: Rollstühle und Liegen, die man auf Schienen durch den Tunnel schob, Feld-Essgeschirre, Petroleumlampen. Im Garten führt ein mit Tarnnetz verhängter Eingang zu 25 Metern verbliebener Stollen. Der Rest des Tunnels ist eingestürzt und zur Sicherheit des Flugbetriebs gesperrt.

Spuren des Krieges

Die Museumsbesucher kommen meist von auswärts, hauptsächlich aus Kroatien, man trifft aber auch Einheimische, also bosnische Moslems. Dass mitunter auch Serben aus dem angrenzenden Teilstaat Republika Srpska kommen, ist für Dina Memic nichts Besonderes: "Wir haben vor dem Krieg zusammengelebt, wir haben während des Kriegs zusammengelebt", sagt sie. "Wir versuchen normal zu leben, als wäre nichts passiert."

In der Stadt Sarajevo jedenfalls ist der Krieg noch buchstäblich auf Schritt und Tritt spürbar. Da sind etwa diese eigenartigen, mit roter Farbe ausgegossenen Spritzer im Asphalt: "Rosen von Sarajevo" nennt man die im Boden konservierten Einschläge - bittere Ironie, unangebrachter Euphemismus? Mitten auf der Straße vor dem Gemüsemarkt wieder so ein roter Fleck. Hier riss 1994 eine Granate 68 Menschen in den Tod. Ihre Namen sind auf einer Wand aufgeführt. Laut späteren ballistischen Untersuchungen soll die Granate nicht von den umliegenden Hängen, sondern aus einer Kaserne der bosnischen Armee in der Stadt abgefeuert worden sein - als Druckmittel, um die internationale Gemeinschaft zum Einschreiten zu bewegen. Doch wiebei vielen Kriegsereignissen besteht keine Gewissheit über den Hergang. Es scheint, es solle so bleiben, die Menschen wollen ihre Ruhe, haben genug zu tun, die Gegenwart zu bewältigen.

Es wird keine Rache geübt, viele wissen vieles über viele, aber sprechen nicht darüber. Nur die Politiker halten den nationalen Konflikt am Köcheln, um von aktuellen Problemen abzulenken. Doch in einem sind sich die Menschen aller drei Nationalitäten einig: in ihrer Ablehnung der Politiker, die Korruption und Vetternwirtschaft blühen lassen. Andererseits müssen sie sich gut mit ihnen stellen: sie verteilen Geld, sie können Arbeit verschaffen.

Knapp zwei Jahrzehnte nach Ende des Krieges in Bosnien ist der Konflikt auf das Niveau minderer Animositäten gedimmt: Von Sarajevo zum wenige Kilometer außerhalb gelegenen Camp der EU-Truppe Eufor nehmen Taxifahrer aus der heute zu 80 Prozent von Bosniaken bewohnten Stadt für gewöhnlich nicht den Weg über den Berg, sondern über die lange Ausfallstraße. Die liegt noch in der Föderation Bosnien-Herzegowina, während der Berg schon zum serbisch dominierten Teilstaat Republika Srpska gehört. Und da halten die serbischen Polizisten gern die muslimischen Taxifahrer auf, um sie eingehend zu filzen.

Ein anderes Beispiel: Beim Besuch der serbisch-orthodoxen Kirche im Stadtzentrum entschuldigt sich der Diakon kurz, er hat die Polizei im Haus. In der Nacht sei an die Wände des Pfarrhofs "Serben - Mörder von Bosnien-Herzegowina" geschmiert worden. In solchen Fällen wird der Rat für interreligiösen Dialog aktiv: 1997 wurde er von Katholiken, Orthodoxen, Muslimen und Juden gegründet. Die junge Bozana Katava arbeitet als Fachberaterin im Rat: "Wann immer wir einen Anschlag wahrnehmen, reagieren wir in derWeise, dass wir Leute zusammenholen - Priester, Imame, Repräsentanten der Gemeinde und der Polizei -, die den Anschlag verurteilen und sagen: Wir sind gegen so etwas. Das sendet eine starke Botschaft an die Gläubigen, an alle Menschen, dass Religion nichts damit zu tun hat." Dadurch seien die Anschläge auf religiöse Symbole um die Hälfte zurückgegangen.

Kulis aus Patronenhülsen.
© Foto: May

Noch gibt es die Ahnung von jenem "europäischen Jerusalem", wie Sarajevo einst genannt wurde, wenn die Glocken der Kirchen läuten und der Muezzin ruft, wenn der Präsident der jüdischen Gemeinde in der völlig unbewachten Synagoge sagt, dass Bosnien nahezu frei von Antisemitismus sei. Und doch erscheint alles Kulisse, nicht Ausdruck eines toleranten Miteinander, sondern eines abgegrenzten Nebeneinander.

Das Büro des interreligiösen Rats liegt mitten im Zentrum, in einem jener Häuser, die Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurden. In diesem Stadtteil wirkt Sarajevo wie eine österreichische Kleinstadt. Auf der einen Seite schließt die Bascarsija, das alte Basarviertel an, auf der anderen die moderne Stadt mit den Hochhäusern aus der Titozeit. Architektur ist beharrlich, bezeugt jahrhundertalte Herrschaftsverhältnisse, nicht kurzfristige Bocksprünge und Hakenschläge der Politik. Alle Bauten sind verbunden durch die Wunden des Krieges: kein Haus ohne Einschusslöcher. Wie pockennarbig stehen sie da. Und im Basar, wo die Kupferschmiede wie eh und je monoton auf ihrem Metall hämmern, finden sich Patronenhülsen, zu Kugelschreibern umgearbeitet.

Durch alle drei Stadtteile fährt die Straßenbahn wie durch die Epochen in einem Geschichtsbuch. Zwischen den schussnarbigen Hochhäusern rumpelt sie in der Mitte einer breiten Ausfallstraße, jener berüchtigten Sniper Alley, deren Name Bilder von damals im Kopf wachruft: Geduckt laufende Menschen, stets auf der Hut vor den Scharfschützen, die sich in den inzwischen verwaisten Hochhäusern verschanzen; hastig errichtete Barrieren; Straßenbahnwagen, die der Krieg aus den Gleisen geworfen hat.

1895 hatte Sarajevo, noch vor Wien, eine elektrische Straßenbahn erhalten. Und auch mehr als ein Jahrhundert später fahren hier wieder Straßenbahnen aus Wien, neben Trams aus Brünn, Pjöngjang und Amsterdam. Noch sind die alten deutschsprachigen Aufschriften vorhanden, im Wageninneren klebt Werbung für das Hochkogelhaus.

Endstation ist der Vorort Ilidza, ein Kurort schon zu Kaisers Zeiten. Hier übernachtete Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie im Sommer 1914, bevor beide jenem Attentat zum Opfer fielen, das den Ersten Weltkrieg auslöste. Das alte Austria wird gerade zum 5-Sterne-Hotel aufgepeppt. Vier weitere Thermenhotels liegen im weiten Kurpark. Viele Gäste sind unschwer als reiche Araber zu erkennen. Kein unüblicher Anblick in Sarajevo: Seit Kriegstagen sind auch zahlreiche Salafisten von der Arabischen Halbinsel in Bosnien unterwegs, um die Glaubensbrüder und -schwestern auf einen strengeren Weg des Islam zu führen.

Im Zentrum fallen das iranische Kulturinstitut auf, eine von Katar gestiftete Bibliothek, ein Zuckerwatte-Verkäufer mit Rauschebart und gesticktem Käppi. Die Überredungsversuche der Missionare fruchten offenbar wenig: Jede Moschee werde kontrolliert, so der muslimische Rechtsanwalt Emir Kovacevic. "Niemand darf in einer Moschee sprechen ohne Genehmigung der islamischen Gemeinschaft." Und wenn Familien Geld geboten wird, damit die weiblichen Mitglieder den Schleier anlegen, werde das Geld zwar eingestrichen, die Maßgabe aber nicht befolgt, erzählt man in Sarajevo. Der Jahrhunderte alte europäische Islam scheint reformresistent.

Exodus der Jugend

An der Rezeption der Therme Ilidza arbeitet die junge Belma Skopljak. Exzellentes Englisch, Journalismus-Studium. Sie ist aber auch mit diesem Job zufrieden. Wegziehen und anderswo journalistisch arbeiten? "Nirgends scheint die Sonne schöner als in Bosnien", lächelt sie. Nach außen wirkt die Stadt europäisch, wohlhabend, die Frauen sind modern gestylt. Das Café Wien mit seinen Kellnern, Kristalllustern und Holzvertäfelungen ist gesteckt voll.

Der Schein trügt. Belma gehört zur Minderheit der Zufriedenen. Wer einen Job hat, bleibt. Doch die Arbeitslosigkeit im Land liegt bei über 40 Prozent. Bosnien verliert seine Jugend. - Er fühle sich mehr als Psychologe denn als Priester, sagt der katholische Geistliche Mario Bernadic von der Pfarre Sankt Joseph. Zum Gottesdienst kämen hauptsächlich ältere Menschen: "Diese Omas und Opas sind traurig, sie leben ganz allein, ihre Kinder sind irgendwo in der Welt. Sie kommen nicht so oft, zum Beispiel aus den USA, hierher."

Der Präsident der kleinen jüdischen Gemeinde, Jakob Finci, sagt: "In den letzten 350 Jahren bin ich das erste Mitglied der Finci-Familie, das außerhalb Sarajevos geboren wurde. Weil meine Eltern im Lager waren, als ich geboren wurde, auf der Insel Rab in der nördlichen Adria. Es war ein italienisches Anhaltelager. Und ich hoffe, nicht der Letzte der Familie zu sein, der in Sarajewo begraben wird, denn ich habe zwei Söhne, aber beide leben in den Vereinigten Staaten, und wer weiß, ob sie sich jemals entscheiden werden, nach Hause zu kommen."

Stefan May, geb. 1961, Jurist, Journalist und Buchautor, lebt in Berlin und Wien; schreibt Reportagen fürs "extra" der "Wiener Zeitung".