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Triumph der Unvernunft?

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen

Seit der Antike gilt der Mensch als das mit Vernunft begabte Lebewesen, als "animal rationale". Geschichte und Gegenwart aber zeigen, dass es mit seiner Vernunft nicht weit her ist.


"Wenn die Vernunft am Ende ist", heißt es bei Dostojewski, "dann hilft der Teufel weiter". Nun sollten wir uns auf den Teufel lieber nicht verlassen, doch inwieweit dürfen wir auf die Vernunft zählen? Dass der Mensch ein mit Vernunft begabtes Lebewesen sei, ist eine schon etwas abgedroschene Phrase - und durchaus fragwürdig. Wie viel Vernunft darf sich denn eine Kreatur zuschreiben, die ihre natürliche Umwelt systematisch zerstört und sich damit ihrer eigenen Lebensgrundlagen beraubt? Wo bleibt die Vernunft bei einem Lebewesen, das sich durch Kriege ständig selbst größten Schaden zufügt und sich von politischen und religiösen Wahnideen infizieren lässt?

Von Natur aus verwirrt

Der Mensch sei ein von Natur aus verwirrtes Lebewesen, meinte der amerikanische Philosoph William W. Bartley: "Seine Rationalität, seine Politik, seine Wissenschaft, seine Überzeugungen, seine Engagements sind verwirrte Versuche, seiner eigenen Verwirrung Herr zu werden."

Bei so viel Verwirrung und Verwirrtheit müssen wir Menschen ja eigentlich darüber staunen, dass es uns als Gattung überhaupt noch gibt. Anscheinend waren dem einen oder anderen Exemplar unserer Spezies doch ab und an einige Geistesblitze gegönnt und mithin unser, auf gut Österreichisch gesagt, "Weiterwurschteln" stets aufs Neue gewährleistet.

Den Menschen als reines Vernunftwesen zu begreifen und ihn so von allen anderen Lebewesen zu unterscheiden, war allerdings etwas voreilig. Lange Zeit wurde geflissentlich ignoriert, dass der Mensch über eine Gefühlswelt verfügt und auch als animal emotionale bezeichnet werden kann. Doch Gefühle wirken oft störend, es ist besser, keine zu zeigen und "nüchtern" und "sachlich" zu bleiben. Freilich ist unsere Natur nicht zu beschwindeln und mithin mancher Wutausbruch ebenso wenig zu unterdrücken, wie mancher Freudentaumel zu verhindern. Vernunft und Gefühle bilden keine Gegensätze, sie sind nur zwei Seiten einer Medaille, genau gesagt, zwei Ausdrucksformen unserer Gehirnaktivitäten und eng miteinander verbunden.

Anthropologen, Gehirnforscher und Evolutionsbiologen sind sich heute weitgehend darüber einig, dass sich unser Gehirn seit etwa dreißigtausend Jahren nicht nennenswert verändert hat und von vornherein nur auf Überleben programmiert war. Dieses so wundersame Organ wurde von der Evolution durch natürliche Auslese nicht dazu entwickelt, die "Wahrheit" über diese Welt herauszufinden (was auch immer das sein mag), sondern seinem Träger zu ermöglichen, sich durch sein - nicht immer einfaches - Leben zu manövrieren.

Es geht ums Überleben

Unseren prähistorischen Ahnen hätte es denn auch nicht viel geholfen - es wäre sogar biologisch kontraproduktiv gewesen -, ihre Gehirne für die Suche nach einer "Weltformel" einzusetzen, statt sich in ihrer unmittelbaren Umgebung nach Nahrung oder einer schützenden Höhle umzusehen.

In der Evolution geht es - sofern man sagen kann, dass es dabei überhaupt um etwas "geht" - in allererster Linie um das Überleben. Die Funktion des menschlichen Gehirns bestand also, so wie die Funktion der Gehirne anderer Tiere, zunächst und für lange Zeit bloß darin, die Welt so zu kalkulieren, dass ein Überleben in ihr möglich war. Das erklärt schon einmal den Umstand, dass wir für verschiedene Aspekte dieser Welt keinen "Sinn" entwickelt haben, uns beispielsweise exponentielles Wachstum nicht wirklich vorstellen, nicht anschaulich machen können.

Was wir als Vernunft verstehen, ist eine sehr junge und hauchdünne "Schicht" in einem langen Kontinuum von kognitiven Mechanismen. Um existieren zu können, benötigt der Mensch, wie alle anderen Lebewesen, nützliche Informationen über seine Außenwelt, und er muss imstande sein, zweckmäßig (im Dienste des Überlebens) darauf zu reagieren. Ein Steinzeitmensch, der angesichts eines Höhlenbären nicht schleunigst die Flucht ergriff, sondern das Tier streicheln wollte, wurde nicht alt, und sein törichtes Verhalten hat sich in seiner Population mit Sicherheit nicht ausgebreitet.

"Vernunft des Lebens"

Tief in uns verwurzelt ist also eine "Vernunft des Lebens", die auch anderen Tieren eigen ist, mit bewusster Vernunft nichts zu tun hat, aber dem Überleben dient. Wir sind mit einem "Erkenntnisapparat" ausgerüstet, der sich über Äonen bewährt hat und nach wie vor zum Einsatz gelangt, bevor ein rationaler Zensor eingreift. Wenn wir beispielsweise plötzlich einen lauten Knall vernehmen, zucken wir sofort instinktiv zusammen, gehen also sozusagen in Deckung. Das ist "vernünftig" im Dienste des Lebens und Überlebens: Zuerst sollen wir uns in Sicherheit bringen, eine rationale Analyse des Knalls können wir später immer noch vornehmen.

Vernunft, Rationalität kann sich mitunter als hinderlich erweisen. In einer alten Fabel fragt die Spinne den Tausendfuß, wie er denn eigentlich laufen könne und es schaffe, beim Laufen seine vielen Beine miteinander zu koordinieren. Als der Tausendfuß seinen Bewegungsablauf zu beschreiben beginnt, geraten seine Beine in ein Durcheinander, und er kann plötzlich nicht mehr laufen. Es wäre also "vernünftiger" gewesen, seine Lauftechnik nicht zu hinterfragen.

Nicht nur in Fabeln, auch im realen Leben verhält es sich ja ganz ähnlich. Wir Menschen laufen zwar nur auf zwei Beinen, deren Koordination bei einem Spaziergang kritisch, rational zu hinterfragen empfiehlt sich aber nicht - wir kämen unter solchen Umständen wahrscheinlich nicht von der Stelle. Es hat schon seinen "evolutionären Sinn", dass Bewegungsabläufe ganz routinemäßig und ungefragt funktionieren. Das gilt selbstverständlich auch für andere Fähigkeiten beziehungsweise Verhaltensweisen.

Unserem "Erkenntnisapparat" sind Grenzen gesetzt. Das ist eine triviale Einsicht, die auch jeder von uns in seinem eigenen Alltag nachvollziehen kann. Wir machen Fehler. Unser Gehirn ist mit unzähligen Einzelheiten vollgestopft, die nicht immer sinnvoll miteinander verknüpft werden. Man kennt das. Unsere Gedanken galoppieren uns gelegentlich davon. In einem Gespräch denken wir plötzlich an den Einkauf, der am nächsten Tag erledigt werden sollte - und schon wissen wir nicht genau, was unser Gesprächspartner soeben gesagt hat. Solcher Beispiele gibt es zuhauf, meistens beziehen sie sich - glücklicherweise - auf Harmloses.

Für unsere steinzeitlichen Ahnen war es von Vorteil, ihre Wahrnehmung sozusagen zu ökonomisieren, sie auf das Wesentliche zu konzentrieren. Nach wie vor arbeitet unser Wahrnehmungssystem selektiv, wir orientieren uns mithilfe eines in der Evolution eingebauten Filters, sehen und hören nur, was wir sehen und hören wollen.

Allerdings werden wir heutzutage mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert, das in der gesamten Geschichte des Lebens auf der Erde keine Präzedenzfälle kennt: Unsere Welt, die Welt, die wir uns selbst geschaffen haben, ist so komplex geworden, dass sie unser "Steinzeitgehirn" überfordert. Unsere Zivilisation überflutet uns mit einer ungeheuren Fülle von Reizen, die wir vielfach nicht mehr zuordnen oder auseinanderhalten können; wir sind mit Geschwindigkeiten konfrontiert, die wir nicht mehr erfassen können; zumindest einige von uns jonglieren mit exorbitant hohen Geldbeträgen, die sich jeder Anschauung entziehen; und so weiter und so fort.

Wir machen Fehler, wie gesagt. Aber wir können aus Fehlern lernen. Gewiss, nur kommen halt immer wieder neue Fehler vor, und manchmal kommt das Lernen aus Fehlern - jedenfalls für die von diesen Betroffenen - auch zu spät. Den Todesopfern bei der Entgleisung eines Hochgeschwindigkeitszugs hilft die nachträgliche Fehleranalyse nichts. Es heißt, dass dumme Menschen immer dieselben Fehler machen, gescheiten Menschen aber stets neue Fehler unterlaufen. Das ist nicht sehr ermutigend.

Beliebiger Unsinn

Natürlich kann nur ein mit Vernunft begabtes Lebewesen unvernünftig handeln. Da unsere Vernunft das jüngste und noch wenig erprobte Ergebnis unserer Evolution ist, ist sie durchlässig für die stammesgeschichtlich alten Verhaltensanleitungen, die sich aber für die Welt von heute oft nicht mehr eignen.

Zusätzlich aber produziert unsere Vernunft noch allzu viel Unvernünftiges. Sie verhalf uns zwar zu ungeahnten Erkenntnissen in den Wissenschaften, deren Anwendungen vernünftig zu kontrollieren schafft sie aber nicht mehr. Andernfalls dürfte es weltweit keine einzige Atomwaffe mehr geben.

Ein treuer Begleiter der Vernunft sind Illusionen. Illusionen können durchaus nützlich sein - wären sie prinzipiell schädlich, hätten sie sich nicht ausgebreitet und so hartnäckig gehalten. Der Glaube an eine objektive Gerechtigkeit, an ein sinnvoll geordnetes Universum und an die Geborgenheit des Menschen in diesem widerspricht zwar der wissenschaftlichen Rationalität, vermag aber manchen Menschen positive Lebensgefühle zu vermitteln. Aber dieser Glaube ist harmlos gegen all jene illusionären Denkweisen, deren Vertreter vermeintlich wissen, welche Welt die beste aller möglichen sei und mit ihren Ideologien ganze Völker ins Verderben stürzen.

Bertrand Russell meinte, er habe in seinem langen Leben sorgfältig, aber vergeblich nach Beweisen dafür gesucht, dass der Mensch ein mit Vernunft begabtes Lebewesen sei. "Ich habe", so schrieb er, "große Nationen gesehen, die einst an der Spitze der Zivilisation standen, nun aber von Predigern bombastischen Unsinns in die Irre geleitet werden. Ich habe gesehen, wie Grausamkeit, Verfolgung und Aberglaube sprunghaft zunehmen." Das tägliche Weltgeschehen gibt dem weitblickenden englischen Mathematiker und Philosophen nach wie vor recht.

Es ist ein Privileg des mit Vernunft begabten Lebewesens - Homo sapiens (!) - Illusionen zu pflegen und beliebigen Unsinn zu glauben. Wo objektive Erkenntnis und rationale Argumente gefragt sind, greifen auch heute noch Wunschdenken, Fundamentalismus und Fanatismus um sich. Religiöse Eiferer haben immer noch Hochkonjunktur und an die Stelle nüchterner Prognosen treten Horrorszenarien und apokalyptische Visionen. So bleiben die großen ökologischen Probleme ungelöst, das Kriegsgeschäft eines der einträglichsten (wenn nicht das einträglichste überhaupt), die Abermillionen hungriger Mäuler weiterhin hungrig.

Die Unvernunft triumphiert auf allen Ebenen, in der Politik, in der Wirtschaft, im kollektiven Handeln. Die Unvernunft des Einzelnen bleibt, wenn sie sich auf sein privates Leben beschränkt, für die Allgemeinheit folgenlos; kollektive Unvernunft aber, oft in regelrechte Massenhysterie umschlagend, gehört zum Schrecklichsten, was der Mensch (in den jüngsten Etappen seiner Evolution) hervorgebracht hat. Wenn die Fahne weht, dann bleibt, einem alten Sprichwort gemäß, der Verstand in der Trompete.

Klar, eine Menschenwelt, in der nur Vernunft herrscht, wäre kaum auszuhalten. Denn in einer solchen Welt gäbe es keinen Platz für all das, was einfach nur Leben bedeutet. Ein durch und durch nach streng rationalen Maßstäben gestalteter Alltag, der keinen Genuss erlaubt, keine Ausgelassenheit, keine Freude, kein Abweichen von einem rational begründeten Plan - ein solcher Alltag wäre langweilig und böte keinen Raum für Kreativität.

Massenverdummung

Wie viele gewaltige Kunstwerke wären nicht entstanden, hätten Menschen ihr Leben stets ausschließlich nach rationalen Kriterien ausgerichtet?! In einer strikt rationalen Menschenwelt gäbe es keinen Platz für Freundschaft und Geselligkeit, es wäre eine roboterhafte, gespenstische Welt, wie wir sie uns auch nicht vorstellen wollen. Aber alles das darf nicht über die Gefahren der Unvernunft hinwegtäuschen, die überall dort schlummern, wo der Mensch als Kollektiv bereit ist, sich jeder auch noch so widersinnigen Idee hinzugeben und diese um jeden Preis zu verwirklichen. Mit dem heute weltumspannenden Kommunikationsnetz und der enorm beschleunigten Informationsweitergabe sind den Möglichkeiten der Massenverdummung kaum Grenzen gesetzt.

Bleibt die Frage, ob wir eine sinnvolle und lebenswerte Balance schaffen können zwischen Vernunft und Unvernunft oder ob am Ende doch die "reine Unvernunft" triumphieren wird. Diese Frage könnte recht bald entschieden werden.

Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zum Thema dieses Beitrags erschien vor Kurzem: "Animal irrationale. Eine kurze (Natur-)Geschichte der Unvernunft" (Suhrkamp Verlag, Berlin 2013).