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Eleganz, Charme und Macht

Von Friedrich Weissensteiner

Reflexionen

Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy, der 35. Präsident der USA, in der texanischen Stadt Dallas ermordet. Kennedys Persönlichkeit ist umstritten, aber die politische Bilanz seiner Amtszeit fällt eher positiv aus.


Die Nachricht vom tödlichen Attentat auf den amerikanischen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy schockierte am 22. November 1963 die Weltöffentlichkeit. Ich muss gestehen, auch ich war erschüttert. John F. Kennedy war für mich und wahrscheinlich für die meisten Menschen, die nach den Schrecknissen der Naziherrschaft in der Nachkriegszeit den demokratischen Wandlungsprozess freudig begrüßten, eine idolhafte Lichtgestalt, die Verkörperung freiheitlicher Ideale. Der blendend aussehende, charmante, Jugendlichkeit ausstrahlende 35. Präsident der USA war die charismatische Kultfigur des freien Westens, ein Superman, ein Weltstar à la Hollywood, der durch entschlossenes Handeln dem globalen, totalitären Herrschaftsanspruch der Sowjetunion die Stirn geboten hatte.

Mythos und Realität

Heute wissen wir, dass das von den Medien und der Familie systematisch aufgebaute und sorgsam gepflegte Image dem Persönlichkeits- und Charakterbild des Präsidenten keineswegs entsprach. Zwischen dem Kennedy- Mythos und der historischen Realität klafft eine breite Kluft. JFK war ein gesundheitlich schwer angeschlagener Mann, dessen körperliche Gebrechen und menschliche Schwächen (Rückenschmerzen, Addison-Krankheit, Drogensucht, Sexbesessenheit) vor der Öffentlichkeit geschickt vertuscht wurden.

Der Kennedy-Mythos hat viel von seiner Faszination eingebüßt. Gleichwohl lebt er in der kollektiven Wahrnehmung der Amerikaner und auch vieler Europäer weiter. Mythen haben offenbar eine unverwundbare Grundsubstanz.

John F. Kennedy wird bis heute, wie Meinungsumfragen beweisen, von den Bürgern der USA hoch geschätzt. Mit und neben George Washington, Abraham Lincoln und Franklin D. Roosevelt steht er im politischen Ranking an oberster Stelle. Und auch seine Ermordung hat sich neben dem 7. November 1941, dem Tag, an dem die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbour bei einem japanischen Überraschungsangriff schwer getroffen wurde, und dem Angriff islamistischer Terroristen auf New York und Washington am 11. September 2001 als markantestes historisches Ereignis in das kollektive Gedächtnis tief eingebrannt. Das Kennedy-Attentat löste eine schwere innenpolitische Erschütterung aus, der heimtückische Angriff eines ideologischen Feindes am 11. September 2001 traf mitten in das Herz einer selbstbewussten Weltmacht.

Das Urteil über John F. Kennedy reicht von der kritiklosen Verehrung in den ersten Jahren nach seinem Tod bis zur grenzenlosen Diffamierung in den letzten Jahrzehnten. Das ehedem hohe Ansehen des Präsidenten ist durch immer neue, zum Teil höchst unseriöse Enthüllungen über dessen Privatleben und durch Skandalgeschichten übelster Sorte schwer beschädigt worden.

Geschichtliche Größe

Bei der Beurteilung der geschichtlichen Bedeutung und Wirksamkeit eines Staatsmannes geht es aber primär nicht um die Aufdeckung von Charakterschwächen, sondern um die Bewertung der Entscheidungen, die die betreffende Persönlichkeit in einer bestimmten historischen Situation zum Wohl des Staatsganzen und darüber hinaus getroffen hat. Es ist zu beurteilen, ob er sein Amt pflichtgemäß und verfassungskonform geführt oder für persönliche und parteipolitische Zwecke missbraucht hat. Diese und andere Anforderungen kann man wohl nur an demokratisch gewählte Politiker stellen, aber sie sind ein grundsätzlicher Maßstab.

JFK war kein moralisches Vorbild. Sein Eheleben und sein Sexualverhalten entsprachen keineswegs den nationalen puritanischen Moralvorstellungen und dem Moralkodex der katholischen Kirche, der er angehörte. Der Präsident spielte der Öffentlichkeit einen Superman vor, der er nicht war. Das kann und soll man ihm zum Vorwurf machen. Aber für das historische Urteil ist wesentlich, ob diese persönlichen Mängel seine Amtsführung beeinträchtigt und die Position der Vereinigten Staaten als Führungsmacht der westlichen Welt gefährdet haben. Und das war nach Meinung der Geschichtsforschung zweifellos nicht der Fall.

Der strahlende Sieger

Der aus einer anglo-irischen Millionärsfamilie stammende John F. Kennedy geht aus den Präsidentschaftswahlen vom 8. November 1960 gegen seinen republikanischen Gegner Richard Nixon bei einer Rekordbeteiligung von knapp 69 Millionen Menschen mit der knappen Mehrheit von 113.288 Stimmen als Sieger hervor. Bei seiner Amtseinführung am 20. Jänner 1961 hält er an diesem kalten Wintertag eine glänzend formulierte Rede, in der er frisch und unbekümmert wirkt. Er versprüht jugendlichen Optimismus, fordert die Mitbürger auf, sich zu den gemeinsamen traditionellen Werten zu bekennen und ruft ihnen den seither oft zitierten Satz zu. "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Im außenpolitischen Teil seiner Rede bietet er der mit den USA konkurrierenden zweiten Weltmacht, der kommunistischen Sowjetunion, an, Wege der Zusammenarbeit zu suchen, um einen nuklearen Vernichtungskrieg zu vermeiden.

Im Weißen Haus zieht mit der attraktiven, fashionablen Präsidentengattin Jacqueline ein neuer Stil ein. Die First Lady, um zwölf Jahre jünger als ihr 46-jähriger Ehemann, lädt zu ihren von Eleganz geprägten Empfängen nicht nur Politiker, sondern vor allem auch Vertreter aus Kultur und Wissenschaft ein. Das Präsidentenpaar, seit zehn Jahren verheiratet, verkörpert ein junges, zukunftsfrohes Amerika.

Die berühmten ersten hundert Tage der Präsidentschaft Kennedys waren ganz und gar nicht Erfolg versprechend. Bereits drei Wochen nach Übernahme seiner Amtsgeschäfte testete die Sowjetunion komplikationslos ihre erste Interkontinentalrakete, am 12. April 1961 landete der weltpolitische Gegenspieler einen neuerlichen Coup. Der Astronaut Juri Gagarin umkreiste als erster Mensch in der Raumkapsel "Wostok I" die Erde. Der sowjetische Regierungschef, der unberechenbare Nikita Chruschtschow, der nach dem Tod Stalins in der Innen- und Außenpolitik neue Impulse setzte, prahlte: "Es ist jetzt klar, dass die Sowjetunion die größte Militärmacht der Erde ist."

Kennedy forcierte daraufhin das amerikanische Weltraumprogramm, rief das "Apollo-Projekt" ins Leben und gab als großes Ziel eine bemannte Mondlandung vor. Vorerst musste er freilich eine peinliche Niederlage verkraften. Von CIA und Generalstab schlecht beraten, stimmte er widerwillig einer von Exilkubanern durchgeführten und von der US- Marine logistisch unterstützten Invasion an der Bahia de Cochinos - der Schweinebucht - auf Kuba zu. Der heute noch lebende, legendäre Fidel Castro hatte dort 1959 eine kommunistische Diktatur errichtet.

Die stümperhaft organisierte Militäraktion endete nach drei Tagen mit einem totalen Fiasko. Das Ansehen des Präsidenten war ramponiert, die USA mussten einen schweren globalen Prestigeverlust hinnehmen. Kennedy ging die Kuba-Affäre sehr nahe. Er war verzweifelt, niedergeschlagen und machte sich Vorwürfe. Bei einer Kabinettssitzung - so ein Regierungsmitglied - unterbrach er die Gespräche immer wieder mit der Frage: "Wie konnte ich nur so dumm sein?" Die angesehene Zeitschrift "TIME" urteilte am 5. Mai unerbittlich: "Letzte Woche gingen die ersten hundert Tage von Kennedys Regierung zu Ende, und die Vereinigten Staaten haben eine monatelange Serie von Rückschlägen hinnehmen müssen, wie sie in der Geschichte der Republik selten waren."

Im Kalten Krieg, der zwischen den beiden Supermächten in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Weltpolitik dominierte, war Berlin einer der neuralgischen Punkte. Ein absoluter hot spot. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland waren 1948 aus den Besatzungszonen zwei deutsche Teilstaaten entstanden: die westlich orientierte BRD (Westdeutschland) und die kommunistische DDR (Ostdeutschland), deren Staatsführung sich nach Moskau orientierte.

Berlin, das nun als Enklave mitten auf ostdeutschem Staatsgebiet lag, wurde in einen West- und einen Ostsektor geteilt. Der freie Zugang zur Westhälfte auf dem Luft- und Landweg war zwischen den Siegermächten vertraglich geregelt. Die Stadt blieb aber ein Zankapfel zwischen den beiden Supermächten, da die Sowjets immer wieder den Versuch machten, den Status quo zu verändern. Den Machthabern in der DDR ging es vor allem darum, die offene Sektorengrenze zu schließen, über die seit Jahren Hunderttausende Menschen, vor allem hoch qualifizierte, leistungsbereite junge Leute, aus dem kommunistischen Zwangsstaat in den Westen geflüchtet waren. Allein 1960/61 waren es 400.000.

Der wachsende Flüchtlingsstrom bedrohte auf Dauer die Existenz des Staates. Das Problem war den roten Zaren im Kreml wohl bewusst, und Nikita Chruschtschow setzte es mit Drohgebärden auf die weltpolitische Tagesordnung. Ein schwerer militärischer Konflikt drohte. John F. Kennedy musste handeln. Er vereinbarte mit dem Kreml-Chef ein Gipfeltreffen in Wien, das am 3. und 4. Juni 1961 stattfand. Das Treffen, bei dem es nicht nur um das Berlinproblem ging, ist mittlerweile aktenmäßig weitgehend aufgearbeitet. Es verlief hinter den in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten Höflichkeitsbekundungen, mit einem politischen Schlagabtausch, der auch Drohungen mit einem Atomkrieg nicht ausschloss. Chruschtschow behandelte seinen Gesprächspartner mit herablassender Geringschätzung, kam aber doch zu dem abschließenden Urteil, dass der amerikanische Präsident fest dazu entschlossen war, die Rechte des Westens in Berlin mit allen Mitteln zu verteidigen.

Mauer statt Krieg

Dem Gipfeltreffen folgte zwei Monate später der Bau der Berliner Mauer. Am 13. August 1961 begannen Soldaten der Nationalen Volksarmee, Barrikaden zwischen dem Ost- und dem Westsektor der Stadt zu errichten. Kennedy reagierte darauf gelassen. "Es ist keine schöne Lösung", argumentierte er, "aber verdammt noch mal, a wall is better than a war."

Trotz der tragischen Schicksale, die mit dem Mauerbau verbunden waren, war das eine realistische Einschätzung der Situation, die auch vom britischen Premier Harold Macmillan und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, nicht aber von Willy Brandt, dem regierenden Bürgermeister von Berlin, geteilt wurde. Erst zwei Jahre nach dem Mauerbau, am 26. Juni 1963, stattete der junge, charismatische Präsident der geteilten Stadt einen Besuch ab. Nach einem triumphalen Empfang hielt er vor dem Schöneberger Rathaus eine Rede, die in dem legendär gewordenen Satz gipfelte: "Ich bin ein Berliner!"

1962, dem Jahr zwischen der Errichtung der Mauer und dem Deutschlandbesuch Kennedys, war die Welt in der Raketenkrise um Kuba vor einer atomaren Katastrophe globalen Ausmaßes gestanden, die der Präsident mit einer Mischung aus Besonnenheit, Risikobereitschaft und Härte abgewendet hatte: Am 16. Oktober 1962 werden Kennedy Fotos vorgelegt, die ein US-Spionageflugzeug über Kuba gemacht hat. Sie belegen, dass die Sowjets auf der Karibikinsel Raketen mit Atomsprengköpfen verschiedener Reichweite installiert haben. Die Raketen sind eine Provokation der Vereinigten Staaten und stellen eine ungeheure Bedrohung der nationalen Sicherheit dar. Sie könnten innerhalb weniger Minuten zahlreiche Millionenstädte des Landes auslöschen.

Der Präsident ist zum Handeln gezwungen. Er muss die schwerste Entscheidung treffen, die einem Politiker mit seiner Machtfülle auferlegt ist. Kennedy etabliert einen geheimen Krisenstab, der in den nächsten Tagen fast ununterbrochen tagt. Der Generalstab drängt auf einen Militärschlag. Der Präsident entschließt sich zu einer Seeblockade Kubas. 180 Kriegsschiffe bilden einen Ring um die Insel. Am 24. Oktober steuern sowjetische Handelschiffe mit Atomraketen an Bord und von U-Booten begleitet, die mit Atomtorpedos bestückt sind, auf den Blockadering zu. Wird es zur verheerenden Konfrontation kommen? In letzter Minute drehen die sowjetischen Schiffe auf Befehl der Hasardeure im Kreml ab. Kennedys Strategie hat sich als erfolgreich erwiesen, der Weltfrieden ist gerettet.

Das beherrschende innenpolitische Problem der Kennedy-Administration war die Rassenfrage, der Kampf von Millionen Bürgern schwarzer Hautfarbe um Gleichberechtigung. Die Schwarzen wurden diskriminiert, an der Arbeitsstätte und im öffentlichen Leben. Es gab Restaurants, Hotels, Kinos Sportstätten, Autobusse, Warteräume und Toiletten, die den Weißen vorbehalten waren.

Gegen diese empörenden Diskriminierungen etablierte sich unter der Führung des Baptistenpfarrers Martin Luther King eine Bürgerrechtsbewegung, die mehr und mehr an Schwung gewann. Sie erreichte am 28. August 1963 mit einer Massendemonstration ihren Höhepunkt. An diesem denkwürdigen Tag hielt der wortgewaltige Prediger in Washington vor rund 250.000 Menschen eine historische Rede. Er beschwor den Traum von einer amerikanischen Gesellschaft ohne rassistische Vorurteile. Die Kennedy-Administration reagierte mit der Ausarbeitung eines umfassenden Bürgerrechtsgesetzes, das im Kongress jedoch auf unüberwindlichen Widerstand stieß. Die Zeit dafür war noch nicht reif.

Wirtschaftliche Erfolge

Die amerikanische Wirtschaft verzeichnete in der Präsidentschaft Kennedys einen deutlichen Aufwärtstrend. Der Präsident orientierte sich in seiner Wirtschaftspolitik an den Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Er pumpte, insbesondere mit seinem Mondlandeprogramm, staatliches Geld in die stagnierende Industrieproduktion. Das Wachstum erhöhte sich auf jährlich 5,4 Prozent, die Arbeitslosigkeit sank, die Löhne und Unternehmergewinne stiegen.

Trotz der außenpolitischen und wirtschaftlichen Erfolge sank die Popularitätskurve John F. Kennedys von 84 Prozent nach der erfolgreich bewältigten Kubakrise kontinuierlich und erreichte im Spätherbst 1963 einen Tiefstand von 47 Prozent. Vor allem in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten im Süden verlor der Präsident bedenklich an Ansehen. Um sein Image aufzupolieren, brach JFK am 21. November 1963 zu einer Reise nach Texas auf. Es war eine Fahrt in den Tod.

Friedrich Weissensteiner war Direktor eines Wiener Bundesgymnasiums und ist Autor zahlreicher historischer Sachbücher, unter anderem: "Die rote Erzherzogin", "Große Herrscher des Hauses Habsburg."