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Erinnerungen an den Feuerkopf

Von Oliver Bentz

Reflexionen

In seiner hessischen Heimatstadt Darmstadt feiert man den 200. Geburtstag Georg Büchners mit einer glänzend bestückten Ausstellung zu Leben und Werk des Schriftstellers.


Mit Ausnahme des Revolutionsdramas "Dantons Tod" (1835) und seiner Flugschrift "Der Hessische Landbote" (1834) hat Georg Büchner die Veröffentlichung seiner schriftstellerischen Arbeiten nicht mehr erlebt. Nach seinem Tod rasch in Vergessenheit geraten, erlebten Büchners Werke, die formal an den Sturm und Drang erinnern und thematisch auf den Naturalismus und den Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts hinweisen, erst um die vorletzte Jahrhundertwende ihre Wiederentdeckung. Heute gehören sie zum Kanon der deutschsprachigen Literatur, haben Komponisten zu Musik- und Künstler zu Bildwerken inspiriert, werden in der Schule gelesen und weltweit auf den renommiertesten Bühnen gespielt.

August Hoffmanns Bild "Junger Mann mit Notenblatt" aus dem Jahr 1833 stellt möglicherweise Georg Büchner dar. Aber ganz sicher ist das nicht.
© Bild: Universitätsarchiv Gießen, Depositum Privatsammlung Eva Michel

Dem Leben und dem Werk des früh verstorbenen genialischen Dichters, der im nahe Darmstadt gelegenen Dorf Goddelau am frühen Morgen des 17. Oktober 1813, dem zweiten Tag der Völkerschlacht von Leipzig, geboren wurde und im Schweizer Exil am 19. Februar 1837 als "Dr. philos. und Privatdocent an der Universität Zürich" an Typhus starb, widmet sich aus Anlass seines 200. Geburtstages jetzt in seiner Heimatstadt Darmstadt die umfangreiche Hessische Landesausstellung "Georg Büchner - Revolutionär mit Feder und Skalpell." Die Schau umreißt mit über 400 Exponaten, Originalmanuskripten, zeithistorischen Objekten, Gemälden, Graphiken, medizinischen Instrumenten, anatomischen Präparaten, Filmprojektionen und Hörstationen die Konturen des frühmodernen Dramatikers, Mediziners, Gesellschaftskritikers und Revolutionärs.

Lebensspuren

Drei Dramen, "Dantons Tod", "Leonce und Lena" und "Woyzeck", die Erzählung "Lenz", das politische Manifest "Der Hessische Landbote" und eine etwa zehn Seiten umfassende medizinische Dissertation über das Nervensystem der Barbe sind die "schriftstellerische" Bilanz von Georg Büchners Leben. Allzu viel Authentisches von ihm hat sich nicht erhalten. Aber von dem, was die Zeiten überdauert hat, zeigt die Darmstädter Ausstellung hervorragende Stücke: Etwa den Eintrag ins Goddelauer Geburtenbuch oder ein Heft mit der an den Rand gekritzelten Klage des jungen Schülers über seinen Lehrer ("O du gelehrte Bestie, lambe me in podice"), Manuskriptblätter - etwa des "Woyzeck" - mit der rasch über das Papier fliegenden, kaum lesbaren Handschrift des Dichters oder eine Dichterreliquie in Form einer Haarlocke - bis hin zu den erst kürzlich aufgetauchten viel diskutierten Porträtfunden, die des Dichters Antlitz zeigen sollen. Auch was Büchner selbst zu seinen Lebzeiten in Darmstadt sah, kann man in der Ausstellung erfahren. So wurden Gemälde und Stiche aus der großherzoglichen Sammlung - dem heutigen Landesmuseum -, die Georg Büchner schon als Schüler im Residenzschloss bewunderte, in die Ausstellung geholt.

Nichts weniger als die Frage, was das für einer war, der in seinem kurzen Leben, gleich einer Kerze, die an beiden Enden brennt, von der Muse und dem Verlangen nach Gerechtigkeit durch das Dasein gehetzt, so ein schmales aber bedeutendes Werk schuf, das weit über seine Zeit, das 19. Jahrhundert, hinaus und vielmehr auf die überzeitlichen Verwerfungen und Abgründe menschlicher Existenz weist, will diese Schau beantworten. "Wir müssen uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren", lässt Georg Büchner seinen Danton sagen. Und so schreibt dieser sezierende Mediziner, bei dem es scheint, dass ihm die Schreibfeder doch das viel schärfere Skalpell war, dem Menschen und der Geschichte in die Seelen schauend, dann auch unermüdlich, um herauszufinden, "was das ist, was in uns hurt, lügt, stiehlt, und mordet?"

Anhand der Lebensstationen, Goddelau, Darmstadt, Straßburg, Gießen, Straßburg und Zürich, an denen sich Büchner aufhielt, und anhand der vielfältigen Themenkomplexe, für die sich der Dichter und Wissenschafter, der Revolutionär und Realist, der Bürgersohn, der den Worten des Volkes lauschte und dessen Not kannte, interessierte, leitet die Schau, an den Wänden garniert mit wörtlichen Zitaten aus Büchners Werken sowie Briefen von ihm und an ihn, den Betrachter. So zeigt man etwa, welch akribischer Arbeiter der Wissenschafter Büchner auch in seiner Dichtung war, wie er etwa beim Verfassen von "Woyzeck", "Dantons Tod" oder "Lenz" mit Originalquellen sowie literarischen Vorlagen gearbeitet hat und als Collagist und Mosaikkünstler seine Werke raffiniert komponierte. In einer Bildschirmanimation verschmelzen da beispielsweise die Originalzitate aus mehreren verschiedenen Märchenvorlagen der Brüder Grimm zum Märchen der Großmutter im "Woyzeck".

"Krieg den Palästen"

Auch sein zusammen mit dem Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig verfasstes, beißendes politisches Manifest "Der Hessische Landbote" ist, wie in der Schau dokumentiert wird, ein aus Bibelstellen, statistischen Daten, Zeitungslektüre, Augenzeugenberichten und persönlicher Beobachtung montierter revolutionärer Protest gegen den "ewigen Gewaltzustand" unter der fürstlichen Herrschaft im damaligen Großherzogtum Hessen. "Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, dass ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen hat. (...) Das alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen: diese Regierung sei von Gott. Diese Regierung ist nicht von Gott, sondern vom Vater der Lügen." So prangerte er - "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" fordernd - in seinem revolutionären Aufruf an die ausgebeutete und im Elend lebende hessische Landbevölkerung die Verhältnisse an.

Michel Hennings Radierung "Die Guillotinen von Paris" zeigt die Massenhinrichtungen der Französischen Revolution, die Büchner auch in "Dantons Tod" gestaltete.
© Bild: Bibliothèque nationale de France, Paris

Steckbrieflich gesucht, musste Büchner zunächst nach Straßburg und dann in die Schweiz nach Zürich flüchten - in die Stadt, die damals vielen politisch Verfolgten aus deutschen Staaten eine sichere Zuflucht und ein Auskommen bot. "Die Straßen laufen hier nicht voll Soldaten (. . . ) und faulen Staatsdienern, man riskiert nicht, von einer adligen Kutsche überfahren zu werden.", schrieb er im November 1836 erleichtert an seine Eltern nach Hessen.

Während Büchner sich retten konnte, wurden seine ebenfalls von einem Spitzel verratenen Mitstreiter eingekerkert und gefoltert. Eine echte Guillotine führt dem Besucher in der Ausstellung deutlich vor Augen, was freie Meinungsäußerung damals für Folgen haben konnte. Das schlechte Gewissen wegen des Schicksals der Freunde sollte Büchner übrigens nie mehr verlassen.

Ein besonderes Kleinod, das die Ausstellung präsentiert, ist das Original der jüngst wieder entdeckten Porträt-Zeichnung mit dem Konterfei des zwanzigjährigen Büchner aus dem Tagebuch des Darmstädter Freundes Alexis Muston. Als Leihgabe aus dem Frankfurter Goethe-Museum ist das Bild aus dem heute in Frankreich befindlichen Nachlass Mustons in der Darmstädter Schau erstmals öffentlich zu sehen.

Ein neues Porträt?

Auch ein weiteres, vor einigen Monaten auf einem Dachboden in Gießen aufgetauchtes Porträt, August Hoffmanns Bleistiftzeichnung "Junger Mann mit Notenblatt" (1833), die angeblich ebenfalls Georg Büchner zeigt, wird hier erstmals in größerem Rahmen ausgestellt.

Ob das viel Diskussions-Staub zwischen erregten Befürwortern und Gegnern der These aufwirbelnde Bildnis eines Mannes, der ein Notenblatt in seiner linken Hand hält und mit offener Bluse sowie dunkler Weste und einem um die Brust geschlungenen Zierband dargestellt ist, wirklich den Dichter abbildet, der sich im Januar 1837 in Zürich mit Typhus infizierte und nach drei Wochen im Fieber am 19. Februar dort starb, ist umstritten. In der sehenswerten Schau, in der sich die Präsentation zeitgenössischer Dokumente und der Einsatz moderner Medien angenehm die Waage halten und die auf eintausend Quadratmetern Fläche ein faszinierendes Panorama des Lebens und Werkes Georg Büchners sowie seiner Zeit entfaltet, kann sich jeder Besucher jetzt seine eigene Meinung bilden.

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Germanist und Kulturpublizist in Speyer.

Georg Büchner - Revolutionär mit Feder und Skalpell. Eine Ausstellung der Mathildenhöhe Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Georg Büchner in Marburg. Kongresszentrum "Darmstadtium", Schloßgraben 1. Bis 16. Februar 2014. Vom 19. März bis 1. Juni 2014 wird die Schau im Museum Strauhof, Zürich, gezeigt werden. Mehr Informationen:
www.mathildenhoehe.eu

Zwei Neuerscheinungen

  • Zur Ausstellung erscheint im Hatje Cantz Verlag ein lesenswerter umfangreicher Katalog mit wissenschaftlichen Essays sowie Texten u. a. von Ludwig Börne, Luise Büchner, Paul Celan, Elias Canetti, Rudi Dutschke, Elfriede Jelinek, Robert Walser. 612 Seiten, 290 Abbildungen, 65 Euro.

  • Zum Büchner-Jubiläum ist auch die seit 1987 im Entstehen begriffene, 8300 Seiten umfassende Marburger Gesamtausgabe von Büchners Werken erschienen: Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Herausgegeben von Burkhard Dedner. 10 Bände. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Marburg. 1439,70 Euro.