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Organisierte Offenheit

Von Robert Streibel

Reflexionen

Schweden ist ein Einwanderungsland, das auf Zuzug aus anderen Ländern angewiesen ist. Wie reagiert das schwedische Bildungssystem auf diese Tatsache? Eindrücke von einem Studienbesuch in der Stadt Järfälla.


Die schwedische Fahne weht im Hintergrund.
© Foto: Streibel

"Vad drömer du om?" Würde ich jetzt auf diese Frage nach den Träumen "grönsaker" und "drottning" antworten, könnte das vielleicht als etwas despektierlich angesehen werden. Denn was haben Grünzeug und die Königin schon gemeinsam? Schweden ist eine Monarchie und Gemüse ist wohl wichtig, um die langen Winter zu überstehen, aber. . . "grönsaker" und "drottning", das sind die ersten Worte, die ich im Schwedischkurs in Järfälla gelernt habe.

Wie funktioniert Lernen in einem Land, dessen Sprache man nicht kennt, von dem man einige Bilder im Kopf hat? Die Assoziationen haben sich vielleicht seit der Zeit von Kurt Tucholsky verändert. Er lässt in seinem Roman "Schloss Gripsholm" die Hauptperson Peter philosophieren, dass den Menschen (gemeint ist wohl den Männern) zuerst die Schwedinnen einfallen. Wer von den männlichen Lesern hatte in seiner Jugend nicht eine schwedische Brieffreundin? Da wären dann noch IKEA, vielleicht ABBA und Zlatan Ibrahimović auf dem grünen Rasen. Bei manchen geistert vielleicht noch so etwas wie "Wohlfahrtsstaat" oder "Toleranz" und "Freizügigkeit" herum.

Der Besuch, organisiert über ein Programm des "Europäischen Zentrums für die Förderung von Berufsbildung" (CEDEFOP), vermittelt einen Eindruck vom Bildungssystem und der Bildungsorganisation in Schweden.

Kommunale Bildung

Lernen beinhaltet nicht nur die Erfahrung, in einem Kurs mit Immigranten zu sitzen und zu versuchen, aufgrund von Bildern und einigen verwandten Worten Aufgaben zu lösen, sondern auch die Frage nach der politischen Situation. Zu allererst ist die Verantwortlichkeit der Gemeinde für Bildung hervorstechend. Es gibt einen nationalen Rahmen, aber das Geld für Bildung von den Kleinkindern bis zum Ende der Schulzeit kommt von der Gemeinde. Das war nicht immer so und wurde in den 90er Jahren - damals noch von den Sozialdemokraten - eingeführt. Das klingt nach Bürgernähe, aber ursprünglich waren wohl Einsparungsgründe dahinter. Ein Fakt ist jedoch, dass die Schule näher an den sozialen kommunalen Netzwerken ist und schneller reagieren kann.

Jede Schule in Schweden bekommt pro Schüler oder Schülerin einen bestimmten Betrag, wenn zu wenige Schüler angemeldet sind, hat der Direktor zu entscheiden, welche Lehrer an die Gemeinde zurückgegeben werden. Der Schulbesuch kostet keine Krone, auch für Exkursionen und Lehrausgänge darf von den Eltern kein Geld verlangt werden. Bei der Präsentation des Systems erwähnt eine Vertreterin der konservativen "Moderaten Partei", dass es jetzt einen Wettbewerb gebe und Entrepreneurship gefragt sei. Aber auch bei diesen Privatschulen darf Bildung nichts kosten. Was ist aber dann der Unterschied zwischen privat und staatlich? Die Profite, erfahre ich zwei Tage später, fließen bei den Privaten nicht unbedingt in die Schule zurück.

Lernen bei Studienbesuchen funktioniert in Schleifen und manchmal auch in den Pausen. Wenn man Glück hat und auf einen politischen Kopf trifft, dann sieht man die Welt im Gastland plötzlich mit anderen Augen. Von der Privatisierung hatte man sich viel erwartet, Wettbewerb zum Beispiel. Aber wie kann man damit Profite machen? Es gibt Möglichkeiten der "Effektivierung", für manche Aufgaben muss kein Lehrer eingestellt werden, sie werden outgesourct, also billiger.

Über allem steht aber die Auswahl der Schülerschaft, wer sich nur die besten und "einfachen" aussucht, der braucht kein Lehrpersonal für die sozialen Zusatzaufgaben einzustellen. Profite können gemacht werden und dürfen einbehalten werden. Wäre ja noch schöner, wenn es eine Verpflichtung zur Investition gäbe.

Die brutale Realität der Privatisierung hat die Schweden spätestens im Sommer 2013 erreicht als "JB Education" Konkurs anmeldete, mehrere Tausende Schüler waren davon betroffen. JB Education war die Firma, die 2000 die erste Privatschule eröffnet hatte und 20 Schulen in Schweden betrieb.

So richtig zur Diskussion gestellt wird die Privatisierung nicht, da tun sich auch die Sozialdemokraten schwer. Da es eine Verpflichtung zur Bildung gibt, müsste bei einer Schließung der Privatschulen wieder der Staat aufkommen und das ist in Zeiten des knapper werdenden Budgets so leicht nicht zu machen. Es ist doch schön zu erleben, dass das Spiel "mehr Privat - weniger Staat" immer wieder gespielt wird und dass nach den großen Sprechblasen die Realität einzieht. Der Markt reguliert. Doch bei Problemen muss der Steuerzahler zahlen. "Jahrelang hat JB Education Gewinne gemacht und sie hatten kein Problem, die Zelte abzubrechen. Keine Schuldgefühle, das lohnt sich nicht mehr", ist die Schwedin Lena entrüstet. Da die Schweden gewohnt sind, in allen Lebensbereichen zu wählen, würde es politischen Selbstmord bedeuten, die Privatisierung gänzlich in Frage zu stellen, meint Richard, ein Schulleiter für Kindergärten und Volksschulen in Järfälla.

Differenzierungen

Ein nahrhaftes schwedisches Stillleben.
© Foto: Streibel

Eine größere Diskussion wird zurzeit über die "special guilt educators" geführt. Auch kurz genannt: "Lehrer Nummer eins". Wer bestimmte Kriterien erfüllt, eine besondere Lehrerin, ein besonderer Lehrer ist, der kann im Monat bis zu 5000 Kronen mehr verdienen. Auch das klingt positiv, Wettbewerb und Leistung werden belohnt. Die erste Beförderungsrunde ist abgeschlossen, wobei angemerkt werden muss, dass es bereits vor dem System "Lehrer Nummer eins" ein Anreizsystem für die Direktoren der Schulen gegeben hat, die eine differenzierte Bezahlung erlaubte.

Und was gibt es noch zu lernen in Schweden? Im Vergleich zu Österreich (und nicht nur zu Österreich) ist Schweden immer noch toleranter und berücksichtigt die Erfahrungen im Erlernen der Sprache.

Schweden ist ein Einwanderungsland, das auf Einwanderer angewiesen ist. 35 Prozent der Einwohner von Järfälla, 20 Kilometer vor Stockholm, stammen aus einem anderen Herkunftsland. Der Fußballer Zlatan Ibrahimović ist ein Symbol dafür. Ein waschechter Schwede. Da das Erlernen einer neuen Sprache leichter fällt, wenn man die Muttersprache gut beherrscht, gibt es seit 30 Jahren ein System, das den Kindern von klein bis groß eine Stunde Unterricht in ihrer Muttersprache erlaubt. Arabisch ist heute die am häufigsten "mitunterrichtete" Sprache.

Es wäre undenkbar, in Österreich, Deutschland oder Frankreich ein vergleichbares System einzuführen, auch wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse dies unterstützen. "De sollen Deitsch lernen". Gibt es in Schweden keine populistische, rechte Opposition? Die gibt es schon, aber die anderen Parteien fürchten sich nicht davor. Und es gibt Grundsätze, von denen sie nicht abgehen. Unterricht in der Muttersprache findet sich in Österreich zumindest als Forderung im Bildungsprogramm der GPA.

Wenn über Bildungssysteme in Europa gesprochen wird, dann kommt sehr rasch die Sprache auf die Gewerkschaft, vor allem die Lehrergewerkschaften: Die Qualität des Unterrichts stehe in ihrer Agenda nicht an oberster Stelle, blind würden die Rechte der Lehrer verteidigt, Österreich befinde sich da in guter (= schlechter) Gesellschaft. In Schweden gebe es zumindest eine Gewerkschaft, die da eine Ausnahme sei. In Griechenland könne es vorkommen, wenn ein Inspektor unangekündigt einen Lehrer inspiziere, dass am Ende der Stunde bereits sich die Vertreter der Gewerkschaft vor dem Gebäude eingefunden hätten. Moderne Mythen?

Die Dramatik der Situation für jene, die aus dem Bildungssystem herauszufallen drohen, wird in der kurzen Präsentation von Hans Garheden deutlich. Er war einmal Schulleiter und führt jetzt das Projekt "Needs" für Jugendliche zwischen 20 und 24 Jahren. In Järfälla gibt es rund 4000 Jugendliche in dieser Altersgruppe. Bei rund 1000 von ihnen ist der Berufsweg nach Ende der Pflichtschulzeit nicht eindeutig geklärt, sie sollten entweder Arbeit haben oder noch in der Schule sein, scheinen aber in beiden Systemen nicht mehr auf. Der Vergleich der Datenlisten gehört zum Alltag, wenngleich dies rechtlich nicht immer abgesichert ist. "Wir müssen uns jetzt um diese Gruppe kümmern, sonst muss die Gesellschaft sie den Rest ihres Lebens unterstützen. Das sind Studenten des Lebens und nicht länger Studenten der Schule", so Garheden. Er schickt nicht nur Briefe, Einladungen und SMS an diese Jugendlichen, er ist auch ständig auf den Plätzen unterwegs, wo sich Jugendliche treffen. Sein Motto: "They have been faked by the school, you have to be frank to them."

Hans teilt seine Gruppe in Farben, die Roten, das seien jene, denen alle Träume geraubt worden seien, "Wir müssen ihnen den einen oder anderen Traum wieder zurückgeben". Das ist ein Problem, das es in ganz Europa gibt. Bevor das neue Schuljahr endet, konnten Hans und sein Team zumindest bis auf elf Fälle Gewissheit bekommen, was mit den Jugendlichen ist. Neue Träume sind noch in der Warteschleife.

Das Wort "lagom"

Am Schluss lerne ich noch ein anderes schwedisches Wort: "lagom", das sei unübersetzbar, das sei urschwedisch. Nicht heiß, nicht kalt, "lagom" eben, das Wetter ist nicht gut und nicht schlecht, "lagom". Richtig eben. Schwedisch. In der letzten Schwedisch-Sprachgruppe fragt mich eine Gruppe von "neuen Schwedinnen", die ursprünglich aus Eritrea, Syrien und Russland kommen, wie mir denn Schweden gefalle. Meine positiven Eindrücke bezüglich Toleranz und die Aufnahmebereitschaft für Immigranten bestätigen sie, aber ein bisschen langweilig sei es hier. Ob das eine Folge von "lagom" ist?

Und dann lerne ich noch etwas: die Rechtspopulisten haben die schwedische Fahne für sich reklamiert und sie bei allen Gelegenheiten geschwungen. "Wir mussten sie uns dann erst so richtig wieder zurückholen", meint Lena, "denn das ist doch unsere Fahne." Lagom ist ein schönes Wort. Doch wenn es nur so einfach wäre, immer zu wissen, was das Richtige ist!

Robert Streibel, geboren 1959 in Krems, ist Historiker und Erwachsenenbildner. (Schwerpunkt: NS-Zeit, Widerstand, Erinnerungsarbeit) Er ist als Direktor der VHS Hietzing tätig und seit mehr als zehn Jahren mit EU-Projekten beschäftigt.