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Wiens grüne Lunge

Von Anton Holzer

Reflexionen

K.u.k. Exerzierplatz, Kleingartensiedlung und Erholungsgebiet: Die Geschichte der "Schmelz" im 15. Wiener Gemeindebezirk drehte und dreht sich um die Frage: Wem gehört der öffentliche Raum?


Wien wächst wieder, in der Stadt wird es enger. Der jüngsten Bevölkerungsprognose der Statistik Austria zufolge wird Wien im Jahr 2035 abermals die Zwei-Millionengrenze überschreiten. Wie kann in einer Phase zunehmender städtischer Verdichtung genügend Grün- und Erholungsraum für alle geschaffen und erhalten werden? Das ist eine zentrale Frage künftiger Stadtplanung und -entwicklung. Man kann dieses Thema in nackten Zahlen und abstrakten Kurven abhandeln oder an einem konkreten Beispiel, direkt vor Ort.

Stadtansicht von Maximilian Neubauer: Die Schmelz, 1910 (Detail) .
© Wien Museum, Inv.Nr. 37.318/2

Die Schmelz im 15. Wiener Gemeindebezirk ist so ein Beispiel: Das Gebiet ist eine Art "Grüne Lunge" im Westen Wiens. Die knapp 30 Hektar große Grünfläche liegt inmitten dichtest bebauter Viertel. Sie könnte ein wunderbares Areal der Naherholung sein - so wie der Prater oder der Augarten. Könnte, denn das Areal ist zu weit über 90 Prozent für die breite Öffentlichkeit nicht zugänglich. Nur die schmalen, asphaltierten Wege sind für alle begehbar. Den großen Rest "bewirtschaften", hinter Zäunen gelegen, ein Kleingartenverein, Sportvereine und eine Schule.

Neuerdings wurde mitten ins Gelände ein großer Neubau gesetzt - Wohnungen für Studierende und Indoorsportflächen. Damit wurde ein Tabu gebrochen: Ganzjähriges Wohnen ist nunmehr auf dem Gelände der Schmelz erlaubt. Die im vergangenen Jahr gegründete Bürgerinitiative FRISCH (Freiraum Initiative Schmelz, www.freiraum-schmelz.at) kämpft dafür, größere Teile dieses Grünraums für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Immerhin war die Schmelz einmal ein Freizeitareal für alle - das ist freilich schon eine Weile her.

Blicken wir also zurück in die Geschichte. Wie kam es dazu, dass inmitten dicht bebauter Zinshausviertel, wie sie um die Wende zum 20. Jahrhundert als billiger Wohnraum für die proletarische Bevölkerung in den Vorstädten aus dem Boden gestampft wurden, ein riesiges Areal - eben die Schmelz - unverbaut blieb? Hat gerade hier das Profitdenken ausgesetzt?

Altes Militärgelände

Andere Wiener Parks waren ursprünglich kaiserliche Gärten (Burggarten, Schönbrunn) oder ehemalige kaiserliche Jagdgebiete, die später für die Öffentlichkeit freigegeben wurden (Prater, Augarten, Lainzer Tiergarten), weitere Areale wurden bereits früh als bürgerliche Parkanlagen geplant (wie der vor 125 Jahren entstandene Türkenschanzpark).

Die Geschichte der Schmelz ist eine ganz andere. Unverbaut blieb das Gelände deshalb, weil es dem Militär gehörte. Das ursprünglich 50 Hektar große Gelände wurde 1847 für 50.000 Gulden vom Staat angekauft und als Parade- und Exerzierplatz eingerichtet. Damals war das Gelände noch weitaus größer als heute. Es reichte von der Stadthalle bis zur Vorortelinie, von der Gablenzgasse bis zur Hütteldorferstraße. Bekannt wurde die Schmelz durch die "Frühjahrsparade", die bis zum Ersten Weltkrieg jeden ersten Samstag im Mai stattfand. Um 1900 war diese Parade eine Massenveranstaltung, die viel Publikum anzog. An die 20.000 Mann, 3500 Pferde und etwa 100 Kanonen wurden in jenen Jahren in Position gebracht, bevor der Kaiser seine Truppen inspizierte.

Obwohl die Schmelz im Besitz des Militärs war, stand sie, wenn nicht exerziert wurde, allen Wienern und Wienerinnen offen. Im Grunde war das Gelände jahrzehntelang "Gstett’n" - und zugleich ein Freizeitparadies für die ärmere Bevölkerung in den zunehmend dicht bebauten Bezirken Ottakring und Fünfhaus. Die ausgedehnte Heidelandschaft war durch keine Straße erschlossen, voller Furchen und Hügel, bei Regenwetter lehmig und dreckig. Teilweise wurde auf der Schmelz Sand und Aushubmaterial abgelagert. Die Gegend war ein Spiel- und Abenteuergelände für die Jugendlichen - und ein Rückzugsgebiet für verliebte Paare.

Hier wurde Fußball gespielt, Kinder und Erwachsene ließen Drachen steigen, im Freien wurde am Wochenende tarockiert, im Winter war das Gelände Rodelstrecke, im Sommer gab es einen kleinen Teich mit Grundwasser, in dem gebadet wurde und der - etwas großspurig - "Gänsehäufel des Westens" genannt wurde.

Vor dem Ersten Weltkrieg wuchs Wien atemberaubend schnell. Im Jahr 1850 hatte die Stadt 431.000 Bewohner, 1898 lebten bereits über 1,5 Millionen Menschen in Wien, im Jahr 1910 wurde die Zwei-Millionengrenze überschritten. Schon damals mit Immobilienspekulation viel Geld verdienen. Der Druck, freie Flächen zu bebauen, stieg daher vor dem Ersten Weltkrieg erheblich. Bereits kurz vor Kriegsausbruch gelang es der Stadt, einen Teil der Schmelz zu "entmilitarisieren" und Bauland für ein neues Stadtviertel zu Verfügung zu stellen. Zwischen 1908 und 1910 gab das Militär zehn von den insgesamt 50 Hektar Gelände frei.

Ende 1911 wurde auf dieser Fläche mit dem Bau des Nibelungenviertels, das hinter der heutigen Stadthalle gelegen ist, begonnen. Geplant war eine gutbürgerliche Wohngegend in der Nähe zum - damals ebenfalls bürgerlich geprägten - Gürtel. Außerdem wurde daran gedacht, das Stadtmuseum (heute Wien Museum) und die Akademie der bildenden Künste (nach Plänen von Otto Wagner) im neuen Nibelungenviertel, das ursprünglich "Luegerstadt" heißen sollte, unterzubringen. Dazu kam es aber nicht. Der Erste Weltkrieg brachte diese Planungen zum Stillstand.

Die zunehmende Filetierung der Schmelz im Interesse der Immobilienspekulation hat vehemente Kritiker auf den Plan gerufen. Der bekannte Wiener Sozialreporter Max Winter etwa kommentierte die zunehmende Verbauung dieses städtischen Freiraums 1913 in der sozialdemokratischen "Arbeiter-Zeitung" mit bitteren Worten: "Das ist das Trostlose an der Schmelz. So lange sie dem Militarismus diente, so lange gehörte sie auch der Jugend. Kaum kann der Militarismus ihrer entraten, rückt der weiten Fläche, die ein notwendiges Luftbecken zugleich darstellt, von überall her die Stadt auf den Leib. Hietzing, Fünfhaus und Ottakring schieben ihre Straßenzeilen immer weiter in die Schmelz vor und bald wird die ganze ziegelmistbesäte Herrlichkeit ihr Ende haben."

Und er prophezeite: "Die Schmelz wird bald aufgehört haben, eine Lunge Wiens zu sein. Nur den Haufen Geld sehen die Gewinnhungrigen - den Lufthunger der Stadt, den sehen sie nicht. Über Jahr und Tag wandeln wir durch staub- und raucherfüllte Straßen dort, wo heute noch die Reste wenigstens zu schauen sind von einem Jugendparadies Wiens, an das die späteren Geschlechter nur mehr der Name eines Polizeiamtes erinnern wird. Zu spät wird man erkennen, dass da an seiner Gesundheit ein Verbrechen gegangen wurde."

Als Ende des Ersten Weltkrieges die Monarchie zusammenbrach, war das Militär diskreditiert. Wien erhielt erstmals eine sozialdemokratische Stadtregierung. In dieser politischen Umbruchszeit wurde der Exerzier- und Paradeplatz aufgelassen. Im oberen Teil des Geländes entstanden unmittelbar nach dem Krieg wilde Barackensiedlungen, die von Obdachlosen bezogen wurden. Um die Wohnungsnot zu lindern, ermöglichte die Stadt die Errichtung von Kleingärten. In den 1920er Jahren entstand daraus die größte Kleingartenanlage Europas in bebautem Gebiet. 1920 wurde im Zentrum der Kleingartenanlage das "Schutzhaus Zukunft" errichtet, das heute noch mit seinem wunderbaren Gastgarten zum Verweilen einlädt. Zwischen den Gärten wurden Wege angelegt, Wasserleitungen errichtet und ab 1927 die Straßen beleuchtet.

Die noch offene Fläche wurde durch wilde Kleingärtner genutzt. Ab den 1970er Jahren wurde die Schmelz weiter verbaut und privatisiert, und viele bis dahin geduldete Kleingartensiedlungen aufgelöst. An der Possingergasse entstand 1973 das Universitäts-Sportzentrum "Auf der Schmelz" . Daran angrenzend errichtete der "Arbeiter-Sport-Klub" ASKÖ zwischen 1974 und 1980 ein neues Sportzentrum, das jüngst geschleift wurde, um dem erwähnten riesigen Neubau Platz zu machen. Ebenfalls im oberen Bereich des Geländes entstand 1973 das Gymnasium GRG 15.

Verlorenes Paradies

Das "Jugendparadies" Schmelz, von dem Max Winter vor dem Ersten Weltkrieg gesprochen hatte, gehört schon lange der Vergangenheit an. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Aber die Forderung, die Winter damals erhoben hatte, nämlich den öffentlichen Raum in Zeiten rasanten städtischen Wachstums nicht nur dem Markt und der Immobilienspekulation zu überlassen, ist aktueller denn je: Winter forderte die Errichtung von genügend Spielplätzen für Kinder und Jugendliche, von Parks und Grünräumen, auch und vor allem in den ärmeren, dicht verbauten Stadtvierteln. Und er trat vehement für die Erhaltung wenig oder ungenutzter Areale wie etwa der Schmelz ein, die allen offen standen.

Als Oppositioneller blieb er indes realistisch, das heißt skeptisch, was die Chancen auf Verwirklichung seiner Forderungen betraf: "Daß es so schwer ist, in Wien dem Notwendigen und darum Vernünftigen Bahn zu brechen!", schrieb er 1913. Und hundert Jahre später? Kann die Schmelz wieder ein Freizeitparadies werden, zumindest ein klein wenig?

Anton Holzer, geb. 1964, Fotohistoriker, Publizist, Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". 2013 erschien sein Buch "Fotografie in Österreich. Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten. 1890 bis 1955" (Metro Verlag). www.anton-holzer.at