Wien wächst wieder, in der Stadt wird es enger. Der jüngsten Bevölkerungsprognose der Statistik Austria zufolge wird Wien im Jahr 2035 abermals die Zwei-Millionengrenze überschreiten. Wie kann in einer Phase zunehmender städtischer Verdichtung genügend Grün- und Erholungsraum für alle geschaffen und erhalten werden? Das ist eine zentrale Frage künftiger Stadtplanung und -entwicklung. Man kann dieses Thema in nackten Zahlen und abstrakten Kurven abhandeln oder an einem konkreten Beispiel, direkt vor Ort.

Stadtansicht von Maximilian Neubauer: Die Schmelz, 1910 (Detail) . - © Wien Museum, Inv.Nr. 37.318/2
Stadtansicht von Maximilian Neubauer: Die Schmelz, 1910 (Detail) . - © Wien Museum, Inv.Nr. 37.318/2

Die Schmelz im 15. Wiener Gemeindebezirk ist so ein Beispiel: Das Gebiet ist eine Art "Grüne Lunge" im Westen Wiens. Die knapp 30 Hektar große Grünfläche liegt inmitten dichtest bebauter Viertel. Sie könnte ein wunderbares Areal der Naherholung sein - so wie der Prater oder der Augarten. Könnte, denn das Areal ist zu weit über 90 Prozent für die breite Öffentlichkeit nicht zugänglich. Nur die schmalen, asphaltierten Wege sind für alle begehbar. Den großen Rest "bewirtschaften", hinter Zäunen gelegen, ein Kleingartenverein, Sportvereine und eine Schule.

Neuerdings wurde mitten ins Gelände ein großer Neubau gesetzt - Wohnungen für Studierende und Indoorsportflächen. Damit wurde ein Tabu gebrochen: Ganzjähriges Wohnen ist nunmehr auf dem Gelände der Schmelz erlaubt. Die im vergangenen Jahr gegründete Bürgerinitiative FRISCH (Freiraum Initiative Schmelz, www.freiraum-schmelz.at) kämpft dafür, größere Teile dieses Grünraums für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Immerhin war die Schmelz einmal ein Freizeitareal für alle - das ist freilich schon eine Weile her.

Blicken wir also zurück in die Geschichte. Wie kam es dazu, dass inmitten dicht bebauter Zinshausviertel, wie sie um die Wende zum 20. Jahrhundert als billiger Wohnraum für die proletarische Bevölkerung in den Vorstädten aus dem Boden gestampft wurden, ein riesiges Areal - eben die Schmelz - unverbaut blieb? Hat gerade hier das Profitdenken ausgesetzt?

Altes Militärgelände


Andere Wiener Parks waren ursprünglich kaiserliche Gärten (Burggarten, Schönbrunn) oder ehemalige kaiserliche Jagdgebiete, die später für die Öffentlichkeit freigegeben wurden (Prater, Augarten, Lainzer Tiergarten), weitere Areale wurden bereits früh als bürgerliche Parkanlagen geplant (wie der vor 125 Jahren entstandene Türkenschanzpark).

Die Geschichte der Schmelz ist eine ganz andere. Unverbaut blieb das Gelände deshalb, weil es dem Militär gehörte. Das ursprünglich 50 Hektar große Gelände wurde 1847 für 50.000 Gulden vom Staat angekauft und als Parade- und Exerzierplatz eingerichtet. Damals war das Gelände noch weitaus größer als heute. Es reichte von der Stadthalle bis zur Vorortelinie, von der Gablenzgasse bis zur Hütteldorferstraße. Bekannt wurde die Schmelz durch die "Frühjahrsparade", die bis zum Ersten Weltkrieg jeden ersten Samstag im Mai stattfand. Um 1900 war diese Parade eine Massenveranstaltung, die viel Publikum anzog. An die 20.000 Mann, 3500 Pferde und etwa 100 Kanonen wurden in jenen Jahren in Position gebracht, bevor der Kaiser seine Truppen inspizierte.

Obwohl die Schmelz im Besitz des Militärs war, stand sie, wenn nicht exerziert wurde, allen Wienern und Wienerinnen offen. Im Grunde war das Gelände jahrzehntelang "Gstett’n" - und zugleich ein Freizeitparadies für die ärmere Bevölkerung in den zunehmend dicht bebauten Bezirken Ottakring und Fünfhaus. Die ausgedehnte Heidelandschaft war durch keine Straße erschlossen, voller Furchen und Hügel, bei Regenwetter lehmig und dreckig. Teilweise wurde auf der Schmelz Sand und Aushubmaterial abgelagert. Die Gegend war ein Spiel- und Abenteuergelände für die Jugendlichen - und ein Rückzugsgebiet für verliebte Paare.

Hier wurde Fußball gespielt, Kinder und Erwachsene ließen Drachen steigen, im Freien wurde am Wochenende tarockiert, im Winter war das Gelände Rodelstrecke, im Sommer gab es einen kleinen Teich mit Grundwasser, in dem gebadet wurde und der - etwas großspurig - "Gänsehäufel des Westens" genannt wurde.

Vor dem Ersten Weltkrieg wuchs Wien atemberaubend schnell. Im Jahr 1850 hatte die Stadt 431.000 Bewohner, 1898 lebten bereits über 1,5 Millionen Menschen in Wien, im Jahr 1910 wurde die Zwei-Millionengrenze überschritten. Schon damals mit Immobilienspekulation viel Geld verdienen. Der Druck, freie Flächen zu bebauen, stieg daher vor dem Ersten Weltkrieg erheblich. Bereits kurz vor Kriegsausbruch gelang es der Stadt, einen Teil der Schmelz zu "entmilitarisieren" und Bauland für ein neues Stadtviertel zu Verfügung zu stellen. Zwischen 1908 und 1910 gab das Militär zehn von den insgesamt 50 Hektar Gelände frei.

Ende 1911 wurde auf dieser Fläche mit dem Bau des Nibelungenviertels, das hinter der heutigen Stadthalle gelegen ist, begonnen. Geplant war eine gutbürgerliche Wohngegend in der Nähe zum - damals ebenfalls bürgerlich geprägten - Gürtel. Außerdem wurde daran gedacht, das Stadtmuseum (heute Wien Museum) und die Akademie der bildenden Künste (nach Plänen von Otto Wagner) im neuen Nibelungenviertel, das ursprünglich "Luegerstadt" heißen sollte, unterzubringen. Dazu kam es aber nicht. Der Erste Weltkrieg brachte diese Planungen zum Stillstand.