Joseph-Ignace Guillotin. Abb.: Musée Carnavalet, Wikimedia Commons, GNU-Lizenz.
Joseph-Ignace Guillotin. Abb.: Musée Carnavalet, Wikimedia Commons, GNU-Lizenz.

Was sich da vollzog, bedarf offensichtlich mehr als nur einer technischen Beschreibung. Denn es ging um ein politisches Spektakel, das auch den Zuschauenden eine Funktion zuschrieb, und sicher ist es kein Zufall gewesen, dass bei der ersten politischen Hinrichtung am 21. 8. 1792 die Prozedur schon einem genau festgelegten Ritual folgte. Und es ist sicher kein Zufall, fügt der französische Historiker Daniel Arasse hinzu, "dass diese Hinrichtung nur drei Tage nach der Einrichtung des Bureau d’Esprit abgewickelt wird, einer Abteilung des Innenministeriums, die für das Propagandawesen zuständig ist". Weil dem Akt des Enthauptens mit menschlichem Auge nicht mehr zu folgen war, wurde ein Ritual entwickelt, zu dem die Fahrt auf dem Henkerkarren ebenso gehörte wie der hochgehaltene abgeschlagene Kopf, der dem Publikum gezeigt wurde. Der lange Weg auf dem Karren durch die Rue Saint-Honoré hin zum Schafott wurde zum festen Bestandteil des Schauspiels, es war die Phase der intensivsten Sichtbarkeit. Die Guillotine wurde auf der Place de la Révolution fest installiert. Sie sollte dem Volk Vertrauen in die Gesetzgebende Versammlung einflößen, und war zugleich eine immerwährende Drohung an alle Feinde der Revolution.

Das aufsehenerregendste Schauspiel fand am 21. Jänner 1793 statt, als Ludwig XVI. hingerichtet wurde, der unter seinem bürgerlichen Namen Louis Capet seinen Kopf unter die Guillotine legen musste. Die Schaulustigen tunkten ihre Tücher in das herumspritzende Blut, einige leckten es sogar auf. Daniel Arasse, der die historischen Beschreibungen dieser Hinrichtung versammelt und analysiert, sagt, sie sei so etwas wie "das erste Abendmahl" des säkularen Zeitalters gewesen, "bei dem der Leib des Königs als Opfer dargebracht wird".

Es gibt ein deutsches Revolutionsdrama, das in vielen Facetten von der Guillotine erzählt und uns alle Stichworte liefert, die hier aufgegriffen werden können. In Georg Büchners "Danton’s Tod" (1835) ist es Camille Desmoulins, der das Bild vom Abendmahl benutzt: "Meine Herren, ich will mich zuerst servieren. Das ist ein klassisches Gastmahl, wir liegen auf unsern Plätzen und verschütten etwas Blut als Libation". Danton selbst attackiert dagegen die Rhetorik des Abendmahls und stellt damit das Gleichheitszeichen zwischen Guillotine und Revolution in Frage: "Ihr wollt Brot und sie werfen Euch Köpfe hin. Ihr dürstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken".

Aber auch das Versprechen eines schnellen, schmerzlosen Todes wird in Frage gestellt. Dantons Freund Laflotte sagt im Drama: "Und dann - ich fürchte den Tod nicht, aber den Schmerz. Es könnte wehe tun, wer steht mir dafür? Man sagt zwar es sei nur ein Augenblick, aber der Schmerz hat ein feineres Zeitmaß, . . . ". Lichtenbergs bereits zitierte Skizze liest sich wie ein verfrühter Kommentar zu Laflottes Befürchtungen: "Wer weiß, dass er unter dem Beil sterben muss, in einem Augenblick, betrachtet diesen Augenblick durch ein Vergrößerungsmittel".

Wie lang lebt der Kopf?


Lichtenberg reagierte damit auf die Schrift eines deutschen Kollegen, die auch in Paris für Furore sorgte. Der deutsche Anatom und Arzt Samuel Thomas von Soemmerring, ein unabhängiger Kopf, der Obrigkeit gegenüber distanziert, wenn auch kein Freund der Französischen Revolution, hat mit seiner Stellungnahme "Über den Tod durch die Guillotine" im Jahr 1795 eine gewaltige Debatte ins Rollen gebracht, deren Folgen weitreichend sind.

Soemmerring vertritt in seinem medizinischen Aufsatz die These, dass "in einem durch diese Hinrichtungsform vom Rumpf abgetrennten Kopf die Empfindungsfähigkeit, die Persönlichkeit, das Ichbewusstsein noch einige Zeit lebendig bleiben und der am Hals erlittene Schmerz noch nachwirkt". Die grausamen Schmerzen, die dem Hals zugefügt werden, können noch empfunden werden, meint Soemmerring, denn jene Stelle des Körpers, auf die das Beil der Guillotine aufschlägt, sei die "wegen der meisten an ihm liegenden Nerven gerade die bei weitem allerempfindlichste". Lichtenberg greift den Gedanken seines Freundes auf und schreibt, über das Empfindungsvermögen abgeschlagener Köpfe: "Ich fürchte fast, es ist so was" (es ist übrigens eine Frage, der Neurochirurgen auch heute noch am liebsten ausweichen).

Die politischen Kreise in Frankreich reagieren empört und betonten die Menschlichkeit des Verfahrens. Im "Moniteur" erschienen zwei Gegenartikel, aber auch Stimmen zur Verteidigung Soemmerings wurden laut. Jean-Baptiste Sue, ein Pariser Professor der Anatomie war der Meinung, die Sensibilität bleibe etwa bis zwanzig Minuten nach der Enthauptung erhalten: "Kann es eine schrecklichere Lage geben als die Vorstellung von seiner Hinrichtung im Moment derselben und sogar die Nacherinnerung nach ihrem Vollzug zu haben?"

Die Idee Soemmerrings klingt auch in Büchners Drama nach, beispielsweise in Dantons letztem Satz, der an den Henker gerichtet ist: "Kannst du verhindern, dass unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?" Auch der historische Danton soll das gesagt haben, jedenfalls erzählt er vom Freundschaftskult der Dantonisten, der im scharfen Kontrast zu Robespierres Einsamkeit steht.

Noch signifikanter ist im Drama aber die Reaktion des blutdürstigem St. Just. Camille Desmoulins hatte ihn verspottet mit der Bemerkung: "Er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz", und St. Just wirft ein: "Ich will ihn den seinigen wie St. Denis tragen machen" St. Denis oder Sankt Dionysios war der erste Bischof von Paris, ein Märtyrer des dritten Jahrhunderts. St. Just hätte sich auch auf seinen Namensvetter, den Heiligen Justus, ebenfalls ein Märtyrer aus dem dritten Jahrhundert, berufen können. St. Denis und der Heilige Justus von Beauvais sind nämlich mit ihren Märtyrerlegenden verbunden, denn beide tragen nach ihrer Enthauptung durch heidnische Barbaren ihre Köpfe unterm Arm, der eine sechs Kilometer lang, bis zu jenem Ort, an dem er begraben sein wollte, der andere, Justus, geht mit dem abgeschlagenen Kopf nach Hause zu seinem Vater, um ihm den Frevel zu zeigen.

Die Geschichten von der Guillotine, die den Körper mit der Geschwindigkeit eines Blitzes in zwei Teile zerlegt, klingen jedenfalls ganz anders. Der Rumpf bleibt nunmehr unbeachtet liegen - bei der Hinrichtung fiel er in einen Kippkarren und war aus dem Blickfeld der Zuschauer verschwunden. Stattdessen wendet sich nun alles Interesse dem Kopf zu. Man fragt sich, was der abgeschlagene Kopf empfindet, wie viel Schmerz und damit Bewusstsein ihn noch erfülle, ob der hochgehaltene Kopf noch sehen und hören könne - ob er noch "lebt". Die neuen Legenden ("Anecdotes sur les décapités") erzählen davon, dass die Wangen von Charlotte Corday sich gerötet haben, als der Henker ihn hochgehalten und geohrfeigt habe; im Pitaval (Sammlung von Strafrechtsfällen, Anm.) ist davon die Rede, dass bei einem Enthaupteten sich die untere Kinnlade so stark bewegte, "dass der Kopf darüber zu Rollen anfing", und man zitiert immer wieder aus Camille Desmoulins letztem Brief an seine Frau: "Mein Kopf lässt noch, wenn er vom Rumpf getrennt ist, seine sterbenden Augen auf Dir ruhen".