Nach der ideologiekritischen Lesart von Daniel Arasse ist das schon eine royalistische Sichtweise, denn die Idee vom Überleben des Kopfes "wäre zugleich die Bestätigung eines absoluten und von nichts außer von sich selbst abhängigen Prinzips und damit des absoluten Herrschers". Doch eine solche Klassifizierung reicht wohl nicht aus, um die Flut an Legenden, literarischen Texten und auch die ausufernde wissenschaftliche Diskussion zu erklären, die sich hier entwickelt, ein Diskurs, an dem vor allem Ärzte als die berufenen Beobachter des Spektakels teilnehmen.
Erlebtes Totsein
Die Literatur, nicht nur die phantastische, hat hier ein neues, gewaltiges Szenario gefunden: den abgeschlagenen, aber dennoch empfindenden oder denkenden Kopf. Weil die Exekution mit der Geschwindigkeit eines Blitzes funktioniert, also: zu schnell für das Auge ist, entsteht die Phantasie des Nachwissens, mit der das Subjekt seines eigenen Todes innewird; die Rede ist vom "erlebten Totsein". Von Clemens Brentanos Geschichte vom schönen Annerl, der ein abgehauener Kopf in den Rock beißt, bis zu Villiers de lIsle Adam Erzählung "Das Geheimnis des Schafotts", wo zwei Ärzte sich unter der Guillotine die Frage nach dem Ort des Ich stellen beginnt eine neue Erzählung, die bis zu Freuds Erzählung eines Guillotinentraums in der "Traumdeutung" reicht und bis zu Gilbert Keith Chestertons Erzählung "Der verschwiegene Garten". So ließen sich hier viele Geschichten nacherzählen, auch aus der österreichischen Literatur, von Konrad Bayer und Thomas Bernhard bis zur Geschichte des fliegenden Kopfes in Wolf Haas Augarten-Roman "Wie die Tiere".
Der ungeheuerlichste Satz, den ein solcher armer Kopf sagen könnte, wären die Stimmbänder nicht durchschnitten, wäre, im cartesianischen Muster: "Ich denke, aber ich bin nicht mehr", oder, in aller philosophischen Kürze: "Ich bin tot!" Kants Postulat von 1798, "Das Sterben kann kein Mensch an sich selbst erfahren", war, wenn man es so nennen will: schon überholt.
Michael Rohrwasser, geb. 1949, ist Literaturwissenschafter und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien.