Realistischer Blick auf das Frauenleben. - © Peggy Adam/avant-Verlag
Realistischer Blick auf das Frauenleben. - © Peggy Adam/avant-Verlag

Bereits auf der ersten Seite sind im Hintergrund Poster von verschwundenen oder ermordeten und verstümmelten Frauen angedeutet. Alma, die Protagonistin, holt sich Rat in einem Frauenverein. Die Beraterin macht ihr Mut, und Alma macht klar, dass sie nicht "wie all die anderen Mädchen im Straßengraben" enden will. Doch im Nacken sitzt die Angst: "Ich werde mich nie wirklich vor ihm und seiner Gang verstecken können..." Er, das ist Romel. Als sie das Vereinslokal verlässt, wartet er draußen, sie winkt, aber nicht ihm, von weiter hinten kommt ein blonder Tourist auf sie zu, er winkt ebenfalls. Doch Romel, wutentflammt, geht auf Alma zu: "Du glaubst wohl, einfach so davonzukommen?" Noch bevor der Tourist es schafft, herbeizueilen, hat Romel ein Messer aus der Tasche geholt und sticht es Alma in den Bauch.

Die Realität könnte so aussehen, doch einige Panels später ist Alma noch oder wieder da. War es nur eine Angstvorstellung? Oder ist die Realität ein Alptraum? Indem der Comic den Wechsel von Realitätsebenen unvermittelt aufeinander folgen lässt, schafft er es schon auf wenigen Seiten, die Leser in den Bann der beängstigenden Wirklichkeit von Ciudad Juárez zu ziehen. Laut "Amnesty International" wurden hier zwischen 1993 und 2005 370 Frauen und Mädchen, vorwiegend zwischen 12 und 25 Jahren, ermordet: vergewaltigt, gefoltert, anschließend erwürgt oder er stochen. 2006 erschien "Luchadoras" auf Französisch. Die Frauenmorde sind seither keineswegs zurückgegangen. Im Gegenteil: Im Jahr 2009 wurden 117 Frauenleichen aufgefunden, im Jahr darauf ist die Zahl auf mindestens 306 gestiegen - die Zählungen schwanken.

Adams "Luchadoras" ist nicht der erste Versuch, dem Entsetzen etwas entgegenzuhalten. "Der Teil von den Verbrechen" lautet der vierte Teil aus Roberto Bolaños fünfteiligem Roman "2666", den der chilenische Autor, der lange Zeit in Mexiko gelebt hatte, 2004 hinterließ: ein Vermächtnis des Grauens. Im Tonfall des Chronisten und mit der protokollarischen Nüchternheit des Gerichtsmediziners notiert der Autor im Stakkato der Tage und Monate zwischen 1993 und 1997 111 Leichenfunde ermordeter Frauen, wenn man den Selbstmord der Lehrerin Perla Beatriz Ochoterena hinzunimmt, die das Morden nicht länger ertragen konnte.

Einer der häufigsten Schlusssätze am Ende der Protokolle lautet: "Der Fall kam zu den Akten." Nach und nach deuten sich hinter der Erfolglosigkeit der Polizei nicht allein Unfähigkeit, sondern komplexe Verstrickungen mit dem Mordgeschehen selbst an, die zu Mafiaclans und in Politikerkreise führen.

Dennoch ist bezeichnend, dass eine Reihe der Mörder - die einzigen vermutlich, die aufzudecken die Ermittler den Schneid haben - sich im Umfeld der Opfer befinden und dass ihnen, wie etwa das beispielhafte Geständnis Jaime Pachecos zum Ausdruck bringt, als Motiv Eifersucht ausreicht: "Nicht auf einen bestimmten Mann, sondern auf alle Männer, mit denen seine Frau in Kontakt hätte kommen können, oder auf die Situation, die neu und unerträglich war."

Gewalt mit System

Die Willkür der Gefühle, deren einziges Ventil Aggression ist, stellt auch Adam in "Luchadoras" eindrucksvoll dar. Bemerkenswert ist, wie es der Autorin mit sparsamen Mitteln gelingt, ein System der Gewalt zwischen den Geschlechtern anzudeuten, zugleich aber auch ein gesellschaftliches Wechselspiel sichtbar zu machen: zwischen Arbeitsplatz in den Maquiladoras - den Billiglohnfabriken in desolaten Randgebieten -, den lokalen Gangs und der Polizei. Eines der spannendsten ästhetischen Mittel, das die Zeichnerin zum Einsatz bringt, ist die Sprache der Blicke: der drohende Blick soll Angst verbreiten, der gesenkte reagiert auf Einschüchterung, der schamlose entkleidet das Gegenüber bis zur Nacktheit, der lüsterne Blick ist zugleich verächtlich, und der Touristenblick, dessen Prothese die Kamera ist, ist ahnungslos.

Neben Angst und Einschüchterung steht der Mut der Protagonistin Alma als Beispiel des versuchten Widerstands. Das Wrestlingmatch, das in der Mitte des Comics in Ciudad Juárez stattfindet und dem Comic seinen Titel verleiht - luchadora heißt Ringkämpferin -, ist schließlich ein Sinnbild für den Kampf der Frauen inmitten einer Gesellschaft, in der der Femizid regelrecht auf der Tagesordnung steht.

Martin Reiterer, geboren 1966, lebt in Wien. Er ist Germanist und Kulturpublizist, und befasst sich vor allem mit Comics.