Prag 7, Holesovice, den meisten Besuchern der Stadt wohl nur durch den Bahnhof bekannt, in dem Züge aus ganz Europa einfahren. Mitten durch das Viertel führt die Milada Horáková-Straße hinauf zum großen Letná-Plateau, vorbei an grauen Zinshäusern, die an Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit erinnern.
Der große Aufschwung
Während die Donau-Metropole jedoch nach 1918 an Bedeutung und Bevölkerung verlor, erlebte Prag nach der Ernennung zur Hauptstadt der neuen Tschechoslowakischen Republik einen ungeheuren Aufschwung und Bauboom. Der slowenische Otto Wagner-Schüler Joe Plečnik gestaltete auf Einladung des neuen Staatspräsidenten Tomás Garrigue Masaryk die Prager Burg um, die junge tschechische Architektengarde fand Beschäftigung bei der Errichtung der neuen, am Reißbrett geplanten Stadtviertel, in der die Beamten der Zentralbürokratie, die Angestellten der Firmen- und Bankzentralen, die Lehrer und Professoren ihre Wohnungen bezogen. Dieser "kleine tschechische Mensch" sollte Träger des neuen Staates und seiner Idee werden, die Masaryk in der südböhmischen Stadt Tabor in Anspielung an deren Jahrhunderte weit zurückliegende, revolutionäre, demokratische, militant-hussitische Vergangenheit mit dem Satz "Tabor ist unser Programm" zusammenfasste.
Der unter dem offiziösen Schlagwort der "Entösterreicherung" firmierenden Abrechnung mit der zum Objekt der Verachtung gewordenen Habsburger-Monarchie sollte die mit "Rom" folgen. Die neue, aus Tschechen und Slowaken gebildete Einheits-Na- tion (er-)dachte sich Masaryk als eine des Fortschrittes, der Humanität und Demokratie. Vier Millionen Deutsche, Ungarn und Polen sollten am Aufbau eines Staates mitwirken, in dessen Namen sie nicht vorkamen.
Über die Dächer der Wohnhäuser von Holesovice ragt ein grauer, düster wirkender Kelch hervor, der auf einem Wohnhaus steht, das zugleich Kirchenhaus ist. Der Kelch ist das Symbol der Tschechoslowakischen Kirche, die sich 1920 von Rom mit dem Anspruch zur Nationalkirche der "Tschechoslowaken" zu werden, lossagte und dabei auch an Jan Hus anzuknüpfen suchte. Im Altarraum steht neben der Fahne mit dem Kelch eine tschechoslowakische Standarte. Wie vieles in der Tschechoslowakischen Ersten Republik blieb der Anspruch dieser Kirche jedoch Makulatur, vollzog doch nicht einmal die Mehrheit der oft antikatholischen Tschechen den Übertritt.
Neue Loyalitäten
Das Festhalten der tschechischen Gründerväter der Republik an ihrer nationalen Meistererzählung führte nicht zur angestrebten Verschmelzung, sondern zur Entfremdung der mehrheitlich katholisch-konservativen Slowaken mit dem paternalistisch auftretenden großen tschechischen Bruder. Der Publizist Ferdinand Peroutka wies ironisierend darauf hin, dass die Tschechen des 20. Jahrhunderts nicht Nachfolger der Hussiten, sondern bis vor kurzem noch treue Untertanen seiner Majestät des Kaisers gewesen waren. Er drückte aus, was wohl auch Masaryk ahnte, wenn er jetzt mit Politikern und Beamten zusammenarbeiten musste, die noch wenige Monate zuvor seine Unabhängigkeitsbemühungen mit Loyalitätserklärungen zum Habsburgerreich beantwortet hatten. Sein Gang ins Exil, den er, schon 68-jährig, als Abgeordneter der von ihm gegründeten Realisten-Partei im Wiener Reichsrat im Dezember 1914 angetreten hatte, war ein einsamer gewesen, nur der 30-jährige Prager Soziologe Edvard Benes folgte ihm nach.
Den tschechischen Legionen, die im Rahmen der französischen, italienischen und russischen Armee an der Seite der Entente kämpften, schlossen sich zwar zehntausende Tschechen und Slowaken aus der k.u.k. Armee an, doch blieben sie bis in die letzten Tage des großen Krieges hinein eine Minderheit gegenüber den 90 Prozent loyalen Mannschaften. Während die in Prag zurückgebliebene Ehefrau Masaryks unter Hausarrest stand und der Vater im Exil gegen die Monarchie kämpfte, diente ihr Sohn Jan als österreichischer Offizier.
Die tiefe Spaltung
Als Masaryk am 500. Jahrestag der Verbrennung von Jan Hus in Genf sein Programm präsentierte, wurde gleichzeitig in Prag mit Genehmigung der Behörden das große Hus-Denkmal am Altstädter Ring enthüllt. Die tschechischen politischen Eliten entschieden sich aus Überzeugung, Anpassung und der Strategie des Abwartens für Österreich und hielten daneben Kontakt zum Exil, das bald unter dem Generalverdacht des Hochverrats stehende Volk war führungs- und oft auch orientierungslos.
Nach dem Krieg diente die nicht mehr existierende Monarchie als willkommener Außenfeind, um die tiefe Spaltung, die der Krieg und die Frage der Loyalitäten für die Eliten mit sich gebracht hatten, vergessen zu machen. Der vorher eher belächelte und während des Krieges verfemte Masaryk wurde als "Präsident der Republik" zum Ersatzmonarchen. Wie der alte Kaiser Franz Joseph zeigte er sich gern hoch zu Ross und schlief im eisernen Feldbett. Der noch zu Lebzeiten gepflegte Kult um ihn nahm zeitweilig groteske Formen an.
Die weitgehende Absenz der anderen Nationalitäten in der politischen Realverfassung tat der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht gut. Neben den nicht gelösten, in den 30er Jahren angeheizten Konflikt mit Deutschen und Ungarn trat das Problem, dass auch die Slowaken nicht in das Staatsvolk hineinwuchsen.