Zum Hauptinhalt springen

Der Abonnent in Schönbrunn

Von Andrea Reisner

Reflexionen

1914 stimmten die Medien eifrig in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein. Die "Wiener Zeitung" setzte mehr auf Sachlichkeit.


Jubelnd liefen die Menschen in den Abgrund. Die Ansichtskarte aus der Anfangszeit des Ersten Weltkriegs zeigt die Wiener Mariahilfer Straße mit Marschkompagnie.
© Wien Museum

Die Titelseite bereitete der Redaktion der "Wiener Zeitung" diesmal keine Arbeit. Sie wurde fixfertig geliefert. Der Autor, ein Beamter durch und durch, hatte schon früher für das Blatt geschrieben, Korrekturen würden nicht nötig sein. Also direkt zum Setzer mit dem Manuskript, der mit Bedacht 14 Bleilettern zu einer denkwürdigen Überschrift aneinanderfügte: "An Meine Völker!" Der Unterzeichner: Kaiser Franz Joseph. Das Datum: Mittwoch, der 29. Juli 1914.

Schon die Extraausgabe vom Vortag war heiß begehrt gewesen. Man wollte schwarz auf weiß haben, was die meisten erwartet, viele auch erhofft hatten: "Oesterreich-Ungarn betrachtet sich (. . .) von diesem Augenblicke an als im Kriegszustande mit Serbien befindlich." Damit war es amtlich. Die wenigen, in kühlem bürokratischem Ton abgefassten Zeilen, unterfertigt von Außenminister Berchtold, hatten die Menschen in Wien und im ganzen Reich in helle Aufregung versetzt; "allenthalben bildeten sich Gruppen, in denen die Bedeutung der amtlichen Kundmachung in patriotischer Erregung besprochen wurde", hieß es in der "Wiener Zeitung".

Und als am nächsten Tag "Seine k. und k. Apostolische Majestät" selbst durch das Manifest (das natürlich mehrere Mitautoren und Bearbeiter hatte) zu seinen Völkern spricht, gibt es kein Halten mehr. Auf den Straßen herrscht Trubel, es finden zahlreiche Kundgebungen statt. In Wien marschieren Veteranen, christliche Jugend sowie städtische Straßenbahner zum Rathaus, bejubelt von einer Tücher schwenkenden Menge. "Hoch Österreich-Ungarn" steht auf einem Transparent. Ein Redner versichert, wenn nötig "Gut und Blut zu opfern für unser Reich, für unsere Dynastie und für unseren heißgeliebten Kaiser". In Klagenfurt steigt ein General vor Freude mit einem Ballon in die Luft und lässt tausende patriotische Aufrufe herabflattern. In Graz zieht ein Pfadfinderkorps durch die Stadt, mit schwarzgelben Fahnen und einem Bild des Kaisers.

Iglau, Lemberg, Agram, Triest - aus allen Ecken des Reiches treffen Stimmungsberichte ein. Sogar die Tschechen, die vergeblich auf ihren Ausgleich und damit mehr Rechte im Vielvölkerstaat gewartet hatten, lassen "Sláva"-Rufe auf den greisen Regenten hören.

Der Prager Bürgermeister Karel Groš erscheint bei Statthalter Fürst Thun, um ihm die "Kaisertreue der Bevölkerung zu verdolmetschen". Selbst in Sarajevo, das noch nicht lange Teil der Monarchie ist, spielen sich "erhebende Szenen ab, die von der großen patriotischen Begeisterung Zeugnis geben." In Travnik, knapp hundert Kilometer nordwestlich von Sarajevo, wollen selbst "Knaben und Greise (. . .) in den Krieg ziehen und sind über die Abweisung unglücklich."

Natürlich gab es im In- wie im Ausland auch kritische Stimmen, aber sie gingen in der allgemeinen Euphorie unter. Die Parole "Nieder mit dem Kriege!" ist zwar auch in der "Wiener Zeitung" zu finden, aber nur im Bericht von einer "Kundgebung zu Gunsten des Friedens" in Paris.

In der "Wiener Abendpost", der Spätausgabe der "Wiener Zeitung", füllte am 28. Juli ein ausführlicher Bericht aus England vom 27. Juli mehr als eine Spalte. Der britische Außenminister Edward Grey warnte Europa: "Es muß jedem, der nachdenkt, klar sein, daß in dem Augenblick, wo der Streit aufhört, einer zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu sein, und einer wird, in dem eine andere Großmacht verwickelt ist, dies mit einer der größten Katastrophen enden kann, die jemals den Kontinent Europas heimgesucht hat". Grey plädierte für eine Beilegung der "gegenwärtigen Schwierigkeiten" am Verhandlungstisch. Vergeblich.

Der Frieden hatte eindeutig ausgedient. Alle Zeichen standen auf Krieg. Es wunderte sicher niemanden, dass die "Wiener Zeitung" am 30. Juli nüchtern bekanntgab: "Der für den 15. bis 19. September nach Wien einberufen gewesene Weltfriedenskongreß wurde (. . .) abgesagt." Mit Bertha von Suttner, die am 21. Juni an Magenkrebs gestorben war, war bereits einige Wochen zuvor eine beharrliche Mahnerin gegen den kriegsverherrlichenden Zeitgeist verstummt.

Gezückter Rotstift

Die Zeitungen, die damals enormen Einfluss auf die Bevölkerung ausübten, schlugen kaum kritische, nicht einmal zurückhaltende Töne an. Die Blätter stimmten begeistert ins allgemeine Hurra-Geschrei ein. Dabei bedeutete der Krieg auch für Journalisten einen scharfen Einschnitt: Noch vor der Kriegserklärung an Serbien wurde die Vorzensur für periodische Druckwerke eingeführt. Begründung: Man wolle so die Weitergabe kriegswichtiger Informationen ans Ausland verhindern. Für die cisleithanische Reichshälfte oblag dies dem neu gegründeten "Kriegsüberwachungsamt", genauer der dort angesiedelten Zensurgruppe (die auch Briefe oder Telegramme kontrollierte).

Berichte über militärisch relevante Nachrichten mussten prinzipiell vorher freigegeben werden. Lehnte sich ein Journalist bei Themenwahl, Interpretationen oder Formulierungen zu weit aus dem Fenster, zückte der Zensor den Rotstift und der Text bzw. die Passage musste aus der Publikation entfernt werden. Da bei den täglich erscheinenden Blättern die Zeit bis zum Andruck drängte, wurden die unerwünschten Stellen kurzerhand aus dem fertigen Bleisatz herausgestemmt. Zurück blieb ein weißer Fleck. Blätter wie die bürgerlich-liberale "Neue Freie Presse" oder die konservative "Reichspost" hatten kaum Probleme mit den oft kleinlichen Beamten, entsprach doch die Linie der Redaktionen der der Regierung. Andere, sehr bald die "Arbeiterzeitung", provozierten Eingriffe, ganz nach dem Motto: Ein weißer Fleck sagt oft mehr als tausend diktierte Worte.

Außenminister Leopold Graf Berchtold (l.) unterzeichnete die Kriegserklärung vom 28. Juli 1914; Emil Löbl (M.), damaliger "WZ"-Chefredakteur; Prinz Eugen, der 1717 Belgrad eroberte.
© wikipedia, Archiv

Die Situation in der "Wiener Zeitung" war freilich eine besondere. Das offiziöse Organ des Kaiserhauses befasste sich vor allem mit Angelegenheiten, die den Staat betrafen. Zur Hauptleserschaft zählte in erster Linie die hohe Beamtenschaft: Ministerialräte, Hofräte, Sektionschefs - sie alle hatten wohl die "Wiener Zeitung" täglich auf dem Schreibtisch liegen. Und auch der oberste Beamte im Staat, der Kaiser selbst, schlug in aller Herrgottsfrühe als erstes die "Wiener Zeitung" auf, um die Morgenausgabe genau zu studieren. In dem Blatt, das er als das seine ansah, hatte naturgemäß jedes Wort zu stimmen. Wer sich eher für Kultur interessierte, mochte die täglich erscheinende "WZ"-Spätausgabe "Wiener Abendpost" mit ihrem vergleichsweise lockeren, feuilletonistischen Stil bevorzugen; dem obersten Bürokraten lag das Kulturorgan aber weniger am Herzen. (Übrigens: Als er 1905 einen Leitartikel zur Wahlrechtsreform verfasste, wurde dieser dennoch in der "Abendpost" veröffentlicht. Immerhin war es so möglich, dass er nach der Übergabe an die Redaktion noch am selben Tag erschien. Den Artikel publizierte man zwar, wie damals üblich, ohne Namensnennung oder Kürzel, Kundige erkannten aber gleich, wer da am Wort war.)

Mit der Goldwaage

Die "WZ"-Redaktion musste bei ihrer Arbeit also auch ihren wichtigsten Abonnenten (und fallweisen freien Mitarbeiter) in Schönbrunn vor Augen haben. Seine Majestät erwartete von den Blattmachern, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, jede Formulierung geprüft und erwogen wurde, ob nun relative Pressefreiheit (Staatsgrundgesetz 1867) herrschte oder nicht. Schlimmer wurde es allerdings im Krieg, als jegliche Front-Berichterstattung von der Regierung vorgegeben war.

Emil Löbl, der seit 1909 als Chefredakteur der "Wiener Zeitung" amtierte, sah in ihr die "hohe Schule des Wiener Journalismus" - eben weil man lernte, mit dem richtigen Feingefühl zu schreiben. Der 1863 geborene Wiener war Beamter und Journalist gleichermaßen. Noch als Student hatte er im reichsrätlichen Stenographenbüro gewirkt. Er lernte die Mitglieder beider Kammern, Herren- und Abgeordnetenhaus, kennen und wurde in allen Belangen des Reiches gründlich unterwiesen. Seine Aufgabe bestand darin, die Ansprachen der Abgeordneten wortgetreu aufzunehmen. Da manche Redner undeutlich oder unzusammenhängend sprachen, er aber am Ende einen schlüssigen, möglichst präzisen Text vorlegen musste, erhielt er obendrein eine Schulung in Logik und Stilistik. Beides konnte er für seine spätere Arbeit als Journalist gut gebrauchen.

Als er zur "Wiener Zeitung" kam - die Redaktion befand sich damals in der Bäckerstraße, gegenüber dem ehemaligen Universitätsgebäude - war dort noch der legendäre Friedrich Uhl als Chefredakteur in Amt und Würden, bevor er 1900, wie es heißt auf Betreiben des Thronfolgers Franz Ferdinand, seinen Posten räumen musste.

Mitten im Krieg, 1917, der alte Kaiser lebte nicht mehr, verließ Chefredakteur Löbl das Blatt und wechselte zum auflagenstarken "Neuen Wiener Tagblatt" des Konzerns Steyrermühl. Der aus einer jüdischen Familie stammende Löbl durfte 1938 nicht mehr im Unternehmen bleiben. Als einer der letzten Juden starb er 1942 im Wiener Rothschild-Spital eines natürlichen Todes. Er entging damit knapp der Deportation.

Zurück ins Jahr 1914. Mag sein, dass die "Wiener Zeitung" nicht die kurzweiligste Lektüre war. Aber wer die amtlichen Meldungen durchackerte, konnte sich auf solider Basis umfassend über die Vorgänge im Staat informieren. Etwa am 28. Juli 1914. An diesem Tag erschien die Antwortnote der Serben auf das Ultimatum des Habsburgerreichs in voller Länge - Absatz für Absatz kommentiert mit den österreich-ungarischen Stellungnahmen. Eine hochinteressante Quelle für staatspolitisch Interessierte.

Auch ein Blick in das vom redaktionellen Teil abgetrennt erscheinende Amtsblatt konnte Ungeahntes zutage bringen. Hier wurden beispielsweise unter der fetten Überschrift "Erkenntnisse" jene Publikationen bzw. genaue Textstellen angegeben, die von den k.k. Landesgerichten als Preßgerichten im Nachhinein beschlagnahmt worden waren. Schon die angeführten Textsplitter zur Kennzeichnung von Anfang und Ende der betreffenden Passagen lassen Eindrücke erhaschen.

Bruchstücke wie "für den Frieden (Stürmischer Beifall)", "Provokateure der Kriege (Stürmischer Beifall)" oder "Generalstreik nötig" sprechen Bände. Darüber hinaus ist die penible Auflistung eine wertvolle Dokumentation für die Nachwelt, um - mit Hilfe eines Zeitungsarchivs - nachzuvollziehen, was dem damaligen System gegen den Strich ging.

Aber auch kleine Leute griffen in diesen Tagen zur "Wiener Zeitung", enthielt sie doch Informationen, die für das tägliche Leben essenziell wurden. Preistreiberei ließ die Kosten für Lebensmittel in die Höhe schießen. Die "WZ" hielt etwa in der Ausgabe vom 29. Juli fest, dass bei "lebhafter Nachfrage" der Preis für die Ochsen auf dem Schlachtviehmarkt St. Marx um bis zu 16 Kronen gestiegen sei. Heimkehrende Urlauber interessierte es wohl, "daß der Verkehr von den an der Adria gelegenen Seebädern, ferner von den Sommerfrischen- und Touristenstationen der Alpenländer nach Wien keine Einschränkung erfährt". Die Information unter dem Titel "Staatlicher Unterhaltbeitrag für Angehörige der Mobilisierten" werden vor allem Frauen studiert haben, die mit den Kindern zurückblieben und nun allein die Verantwortung für deren Wohl trugen.

Vielleicht blieb eine solche Leserin an einer Meldung hängen, in der von "Stellenvermittlung für Frauen, deren Männer einberufen wurden" die Rede war. Wollte sie dem Abwesenden von ihren Sorgen berichten, musste sie die am 30. Juli in der "WZ" kundgetanen "Feldpostvorschriften" kennen. Mit bangen Blicken wird sie die übersichtlich zusammengestellten Berichte von den verschiedenen Fronten unter dem schlichten Titel "Der Krieg." überflogen haben. Und traf ein Paket aus dem Felde ein, das mehr als 5kg wog, ahnte sie dank "WZ" gleich, dass darin der Nachlass ihres gefallenen Mannes sein könnte.

Auf nach "Belgerad"!

Kaiser Franz Joseph las täglich die "Wiener Zeitung". Abb.: Wien Museum

Zur eher sachlichen und insofern vielleicht nicht ganz zeitgemäßen Blattlinie der "WZ" gehörte es auch, der gegnerischen Seite Respekt zu zollen. Überhaupt klingt in der ganzen Rhetorik ein etwas altertümlicher, fast ritterlicher Duktus an. Machte man sich nur anhand der Sprache ein Bild von den Schlachten, müsste man meinen, es wäre zugegangen wie zu Prinz Eugens Zeiten.

Seine Völker den Mörsern, Panzern, Gasgranaten auszusetzen, hieß im Manifest des Kaisers "zum Schwerte zu greifen". An anderer Stelle steht, es "scharen sich die Völker der Monarchie um ihren heißgeliebten Herrscher und um das ruhmvolle alte Panier." Und: "jeder Mann ein Held! Gott segne unsere Klingen!"

Eugen von Savoyen, der große Feldherr der Türkenkriege und Eroberer Belgrads 1717, ist dieser Tage allgegenwärtig. "Prinz Eugen der edle Ritter, / wollt’ dem Kaiser wiedrum kriegen / Stadt und Festung Belgerad. / Er ließ schlagen eine Brucken, / dass man kunnt hinüberrucken, / mit der Armee wohl vor die Stadt."

Dieses beliebte Kriegslied konnte jeder mitsingen, es hallte dauernd durch die Straßen. Und auch in den Zeitungen wird des Prinzen gedacht. So zitiert etwa die "Wiener Abendpost" aus dem "Prager Tagblatt": "Die große Stunde zaubert von selbst das Bild des edlen Prinzen Eugen vor Augen (. . .). Auch heute tragen die Regimenter der alten k. und k. Armee eine höhere Weihe." Dass es die Türken waren, die Eugen einst bei "Belgerad" zurückschlug, passte zwar nicht ganz ins Bild (immerhin war man jetzt mit den Osmanen verbündet und rief in Wien "Hoch dem Sultan!"), aber darüber sah man großzügig hinweg.

Die im Sommer 1914 noch siegessicher Jubelnden mussten bald schmerzhaft erkennen, dass von Ritterlichkeit in diesem Krieg keine Spur mehr war. Sie gaben wirklich kein heldenhaftes Bild ab, die traumatisierten Kriegszitterer oder die Verstümmelten, die in den Schützengräben Erfrorenen, die von den eigenen Vorgesetzten wegen Kleinigkeiten grausam Bestraften, die Millionen Toten - für sie war kein Platz in der Zeitung. Nicht in der "Wiener Zeitung", aber auch in keiner anderen. Die Wahrheit war, wie immer, das erste Opfer des Krieges.

Andrea Reisner, 1982 in Linz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Wien und Berlin. Sie ist Redakteurin der "Wiener Zeitung"-Beilage "Zeitreisen".