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Offene Dialoge und Kunstwerke

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Ein Grundsatz von "Poetik und Hermeneutik" war das Einbeziehen literarischer Werke in den wissenschaftlichen Diskurs. Vlahovic

Die in den 1960er Jahren in Deutschland gegründete Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" versuchte sich an einer fruchtbaren Annäherung von Literatur, Philosophie und Anthropologie. - Eine Erinnerung.


"Die Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik war als ein Projekt angelegt, das die Geisteswissenschaften in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg völlig umstürzen und auf neue Grundlagen stellen sollte." - "Diese Gruppe war ein Modell wissenschaftlicher Arbeit, die zeigte, wie man wissenschaftliche Produktivität durch freundschaftliche Zusammenarbeit erzielen konnte."

Diese beiden Aussagen der Anglistin und Kulturwissenschafterin Aleida Assmann und des Ägyptologen Jan Assmann charakterisieren die Tätigkeit dieser Forschungsgruppe, die der deutschen Literaturwissenschaft wesentliche Impulse verlieh. Die Bemerkungen fielen während einer Tagung am Deutschen Literaturarchiv in Marbach, die einige der Mitglieder von "Poetik und Hermeneutik" und jene Forscher versammelte, die sich mit der Gruppe wissenschaftlich befassen.

"Rezeptionsästhetik"

Gegründet wurde "Poetik und Hermeneutik" unter anderen von dem Philosophen Hans Blumenberg und dem Romanisten Hans Robert Jauß im Jahr 1963 in Gießen. Als philosophischer Anreger der Gruppe fungierte Hans-Georg Gadamer, der die Hermeneutik als eine Theorie deutete, die der Verständigung dient. Nach übereinstimmender Aussage mehrerer Mitglieder agierten Blumenberg und Jauß als bestimmendes Tandem, das vor allem in der Frühphase die Geschicke der Gruppe leitete. Blumenberg (1920-1996) befasste sich in seiner philosophischen Arbeit hauptsächlich mit dem Mythos, den er als wesentlichste Instanz der Kulturgeschichte ansah. Deswegen bezog er sich in seinen Büchern häufig auf literarische Quellen, was ihn in eine gewisse Nähe zu den Literaturwissenschaften brachte.

Das wissenschaftliche Werk des Romanisten Hans Robert Jauß (1921-1997) ist mit dem Begriff der "Rezeptionsästhetik" verbunden. Damit ist gemeint, dass die Rolle des Rezipienten, also des Lesers, in die wissenschaftliche Diskussion miteinbezogen wurde. Jauß nahm Abstand von einer unbedingt gültigen Rezeption, die kanonartig eine bestimmte Interpretationsweise hervorbringt und verstand die Deutung von literarischen Werken als offenen Dialog.

Das Mitgliederverzeichnis von "Poetik und Hermeneutik" liest sich wie ein "Who’s who" der deutschen Geisteswissenschaften; vertreten sind unter anderen die Romanisten Karl-Heinz Stierle, Rainer Warning und Harald Weinrich, der Anglist Wolfgang Iser, die Kulturwissenschafterin und Anglistin Aleida Assmann, der Germanist Wolfgang Preisendanz, der Historiker Reinhart Koselleck, der Altphilologe Manfred Fuhrmann, der Ägyptologe Jan Assmann und die Philosophen Dieter Henrich, Manfred Frank, Hermann Lübbe und Odo Marquard.

Die Forschungsgruppe traf sich zwischen 1963 und 1994 insgesamt siebzehn Mal. Dabei wurden keine Referate oder Vorträge gehalten. Jeder Teilnehmer erhielt die Kolloquiumstexte in Form eines ausführlichen Lesebuches; die einzelnen Beiträge wurden dann von einem Referenten vorgestellt und kommentiert. Der Anspruch war interdisziplinär, wobei man bescheidene Ansprüche hatte. Die Interdisziplinarität erschöpfte sich oft in der Formulierung von Anregungen, die zwar kommentiert wurden, aber zu keiner produktiven Auseinandersetzung führten, wie einige Gruppenmitglieder betonten.

Ein Beispiel dafür ist ein Treffen von Literaturwissenschaftern und Linguisten, das mit der Einsicht endete, die Gräben der beiden Disziplinen nicht überwinden zu können. Die Themen der Tagungen waren für den damaligen universitären Alltag höchst ungewöhnlich: "Die nicht mehr schönen Künste", "Positionen der Negativität", "Das Komische", "Das Fest", "Das Gespräch" oder "Das Ende". Über diese Themen diskutierte man lebhaft und oft kontrovers; danach wurden die Texte in umfangreichen Sammelbänden dokumentiert.

Die Protagonisten von "Poetik und Hermeneutik" wandten sich gegen den Konservativismus der deutschen Literaturwissenschaften, der in diesen Jahren noch zu verspüren war. Sie brachen eine verkrustete Tradition auf, die noch vom einem dumpfen Nationalismus und Konservativismus geprägt war und setzten sich leidenschaftlich für zeitgenössische internationale Literatur ein. Sie plädierten für die radikale Moderne mit deren Helden Marcel Proust, James Joyce und Samuel Beckett. Ähnlich wie Umberto Eco, der Gast der Forschergruppe war, befürworteten die Literaturtheoretiker das "offene Kunstwerk", das zu polyphonen Interpretationen anregt, die niemals zu einer abschließenden, gültigen Deutung führen (sollen).

Neben der Öffnung zur zeitgenössischen Moderne erfolgte ein weiterer bahnbrechender Anstoß, der damals weitgehend vom literaturwissenschaftlichen Diskurs tabuisiert wurde; nämlich die Hinwendung zur Anthropologie, also zur konkreten Wissenschaft vom Menschen, die auch dessen körperliche und emotionale Aspekte thematisiert. Neben dem in Gießen emeritierten Philosophen Odo Marquard war es vor allem der in Konstanz lehrende Anglist Wolfgang Iser, der die Bedeutung der Anthropologie für die Literaturwissenschaften hervorhob. Dabei bezog sich Iser (1926-2007) wiederum auf die Arbeiten des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner, der von der "exzentrischen Position" des Menschen sprach.

Damit meinte Plessner, dass das menschliche Individuum - im Gegensatz zum Tier - immer von seinem kulturellen Umfeld geprägt und abhängig ist. Der Mensch - so Plessner - sei von Natur aus "unnatürlich", weil ihm die instinktive Triebregulierung fehle. Er sei ein "Mängelwesen", das nur dank seiner geistigen Fähigkeiten diese Mängel ausgleichen und somit kompensieren könne.

Diese Kompensationsleistung sollte nun auch von der Literaturwissenschaft geleistet werden, postulierte Iser; sie sollte die Imagination des Menschen anregen und behilflich sein, eine eigenständige Welt zu kreieren. Das diesbezügliche Stichwort war "Emergenz", also das Hervorbringen von etwas Neuem, das die vorgegebene Faktizität überschreite.

Die Öffnung der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" zur Anthropologie und zur Lebenswelt hin zeigt sich am Beispiel der Sammelbände VII und XIV, die dem "Komischen" und dem "Fest" gewidmet sind. Da wurde ein umfassendes Panorama dieser Phänomene erschlossen, die bei der damaligen deutschsprachigen Literaturwissenschaft kaum Beachtung fanden. Die Intention der Forschungsgruppe bestand darin, nicht eine "große, einheitliche" Theorie auszuarbeiten, sondern ein Patchwork von verschiedenen Ansätzen anzubieten, die sich aus literaturwissenschaftlichen, philosophischen, historischen und altphilologischen Interpretationen zusammensetzen.

Ungewollte Komik

Die Erkundungen des Komischen führten bis in die griechische Antike. So reflektiert etwa Hans Blumenberg über die ungewollte Komik, die entstand, als der Philosoph Thales von Milet bei astronomischen Beobachtungen in den Brunnen fiel. Es folgen Beiträge über die Darstellung des Komischen in deutschen und französischen Romanen, Reflexionen über die Bedeutung des Komischen für die menschliche Kommunikation und ein Artikel von Odo Marquard mit dem Titel "Exile der Heiterkeit", in dem er dafür plädierte, dass die Heiterkeit für die Philosophie "lebensnotwendig" sei - eine Kompensation, die dem "Mängelwesen Mensch" dazu verhelfe, die ihn oft überfordernde Alltagswelt erträglicher zu machen.

"Poetik und Hermeneutik" war keineswegs eine homogene Gruppe, die eine heile Welt des idealen wissenschaftlichen Diskurses inszenierte. Auch hier gab es das "menschliche, allzu menschliche" Gefüge aus Rivalitäten, Eifersüchten, Disputen um Rangordnungen und Anerkennung. Erste Differenzen waren schon früh aufgetreten; so zog sich etwa Gründungsmitglied Blumenberg schon nach dem Erscheinen der ersten Sammelbände zurück; er fühlte sich durch die wachsende Anzahl an neuen Mitgliedern in den Hintergrund gedrängt; außerdem erwuchs ihm mit dem Philosophen Dieter Henrich, der eine subtile Theorie des Selbstbewusstseins entfaltete, ein scharfer Kritiker.

Es kam auch zu politischen Differenzen, die vor allem durch die Sympathie des Religionsphilosophen Jacob Taubes für die Studentenbewegung der 1968er Jahre ausgelöst wurden. Diese Auseinandersetzungen und eine ausufernde Erweiterung der Gruppenmitgliedschaften führten 1994 zu der Auflösung der Gruppe.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.

Einige Sammelbände von "Poetik und Hermeneutik" sind im Wilhelm Fink Verlag verfügbar.