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Rückkehr an die Weltspitze

Von Reinhard Heinisch

Reflexionen
Überall in China schießen Einkaufszentren, Vergnügungsparks und neue Konzernzentralen aus dem Boden. Seit heuer hat das Land die weltgrößte Volkswirtschaft.
© Foto: Reinhard Heinisch

China war seit der Antike das größte und reichste Land überhaupt. Nun schickt es sich an, diesen Status wieder herzustellen - mit Widersprüchen innen und außen. Der Westen braucht dringend eine kenntnisreichere Auseinandersetzung mit der neuen Weltmacht.


Wer ständig mit Überproportionalem konfrontiert ist, verliert rasch den Sinn für Proportionen. So geht es gegenwärtigen Chinareisenden. Städte wie Xi’an oder Peking eröffnen jedes Jahr eine neue U-Bahnlinie, geplant sind allein in der Hauptstadt bis 2020 über 1000 Kilometer neuer Metros. Binnen zehn Jahren baute China mit 18.000 Kilometern das größte Hochgeschwindigkeitsbahnnetz der Welt - und noch immer ist kein Ende der Entwicklung abzusehen.

Boom im Hinterland

Mittlerweile reicht auch das chinesische Autobahnnetz an die Dimensionen des amerikanischen Inter-State-Highway-Systems heran. Jeder, der sich chinesischen Großstädten nähert, wird der Hochhaustrabantenstädte gewahr, die der Bevölkerung einer europäischen Großstadt Platz bieten. Längst hat dieser Boom auch das Hinterland erfasst - und beinahe alle Gegenden Chinas bieten das gleiche Bild neuer Infrastruktur und allgemeiner Bautätigkeit.

Überall schießen überdimensionale Einkaufszentren, Vergnügungsparks, neue Konzernzentralen, vielspurige Straßen, Bahnhöfe und Flughäfen aus dem Boden. Neue Hafenanlagen wie in Dalian, Tianjin, Ningbo oder zuletzt Dandong, an sich mehr gewaltige künstliche Inselkomplexe als Häfen im eigentlichen Sinn, sind so groß, dass man sie besser über Google Earth erfassen kann als vor Ort. In drei Jahren hat China allein mehr an Beton verbaut als die USA im gesamten 20. Jahrhundert.

Auffälliger noch als Motorisierung und Bauboom ist die elektronische Vernetzung Chinas. Bei knapp einer Milliarde Handys sind achthundert Millionen Smartphones im Umlauf, und an die 500 Millionen Chinesen sind regelmäßig im Internet aktiv. Der Zusammenstoß zweier Fußgänger, weil beide auf ihr Handy starren, ist mittlerweile zu einem gängigen Klischee in Chinas neuer Zeit geworden.

Zwar werden viele der großen westlichen Internetportale oder selbst die Online-Ausgaben der meisten österreichischen Zeitungen nicht zugelassen, oder bedürfen einer Spezialsoftware, so fällt dies den meisten Chinesen nicht auf. Längst gibt es eine gigantische parallele Internet-Welt made in China, wo es für alles Entsprechungen gibt: Statt Facebook, Twitter, WhatsApp, Google oder Yahoo bieten sich den Internetnutzern im Reich der Mitte neben mehr als einem Dutzend kleinerer sozialer Netzwerke noch die Giganten Sina Weibo und WeChat oder Suchmachinen wie Baidu und Soso. Der Konzern Alibaba, der dieser Tage in den USA an die Börse ging, fungiert etwa in der Rolle von Amazon, und hat mittlerweile weit mehr Kunden als dieser und eBay zusammen.

Noch mehr als die Dimension dieser Modernisierung erstaunt ihre Geschwindigkeit: Noch 1993 lag etwa die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der chinesischen Bahn bei lächerlichen 48 km/h. Die Modernisierung hatte gerade einmal bestimme Sonderwirtschaftszonen in den Küstengebieten um Shanghai und Hongkong erreicht. Kaum zwei Jahrzehnte davor war man gewohnt, dass in China regelmäßig Millionen bei Hungersnöten und Tausende bei Naturkatastrophen ums Leben kamen.

Steuerungsprozess

Dass China dieses Jahr die USA als größte Volkswirtschaft überholt und die chinesische Gesellschaft statt mit Unterernährung zunehmend mit Übergewicht und anderen Zivilisationskrankheiten ringt, ist Ergebnis eines unvergleichlichen politischen und ökonomischen Steuerungsprozesses, der, wie genügend Gegenbeispiele belegen, nicht nur vielfach scheitern, sondern in Bürgerkrieg und Chaos enden hätte können. Erfolgt eine allgemeine Mobilisierung der Bevölkerung zu schnell und versagt die staatliche Autorität zu rasch, entlädt sich die unerfüllte Erwartungshaltung oft auf der Straße.

Verändert sich das Land rascher als die Kapazität staatlicher Institutionen, können diese nicht effektiv die Einhaltung der bestehenden Regeln gewährleisten. Ohne verpflichtungsfähige Gesetzgebung und deren staatliche Kontrolle suchen wirtschaftliche Akteure einen direkten Draht zu den politisch Mächtigen, um durch Bestechung und Mitgliedschaft in Machtkartellen die eigenen Interessen zu wahren und die Sicherheit der eigenen Investitionen zu gewährleisten - das Russland Putins ist wohl ein Paradebeispiel hierfür. Letztlich lenken diese Machtkartelle die Ressourcen des Landes in die eigene Tasche um und verhindern so das Entstehen einer immer breiteren Mittelschicht, was wiederum die Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung eines Staates ist.

Zahl der Armen halbiert

Das Reich der Mitte hat jedoch das geschafft, wovon weniger entwickelte Staaten träumen: eine selbsttragende Modernisierung. Damit wurden mit einem Schlag mehr Menschen aus bitterster Armut gehievt als jemals irgendwo zuvor. Dass weltweit der Anzahl der Armen, also der Menschen, die laut Weltbank mit weniger als einem 1,25 Dollar am Tag auskommen müssen, seit den 1980er Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen ist, verdankt man vor allem dem Wandel in China.

Zwar gibt es immer noch große Probleme mit Korruption, doch geht die Führung mit neuer Härte und erstmals bis zum Politbüro dagegen vor. Natürlich ist das Land nach wie vor autoritär regiert. Besonders wenn das Machtmonopol der herrschenden KP in Frage gestellt wird, reagiert der Staat - wie soeben in Hongkong - mit Repression. Dennoch gibt es auch hier Veränderungen und Liberalisierung. Das Justiz- und Strafsystem wird gerade reformiert und beinahe überall gibt es - wenn auch verdeckt - Bürgerprotest. Vor allem im Internet, in Chat-Rooms und sozialen Netzwerken, findet man, zwar staatlich überwacht, geradezu eine Explosion kritischer Kommentare.

Eine Milliarde Handys und 800 Millionen Smartphones sind in China im Umlauf . . .
© Foto: Reinhard Heinisch

Oft ist es ein Katz-und-Mausspiel zwischen Zensoren und cleveren Internetaktivisten. Solange Kritik sachbezogen ist, politisch im Rahmen bleibt und die Grundordnung nicht in Frage stellt, kann sie auch geduldet und sogar für Reformen instrumentalisiert werden. Besonders allergisch reagiert das Regime jedoch auf politische Agitation, vor allem, wenn man meint, das westliche Ausland habe die Hand im Spiel, oder wenn die Einheit des Landes in Frage gestellt wird - ein altes Trauma Chinas aus den Tagen kolonialer Besatzung.

Daher stellen die drei Ts - Tiananmen, Tibet und Taiwan - immer noch besondere Tabus dar. Dennoch ist China längst keine totalitäre Diktatur alten Stils mehr, sondern eher eine autoritäre Expertokratie, dominiert von einer Parteiführung in die Jahre gekommener Männer, für die Macht und Ordnung die zentralen bestimmenden Faktoren sind, wobei die Legitimität der KP allein auf dem bisherigen wirtschaftlichen Erfolgen fußt.

Aus westlicher Sicht besteht die Herausforderung des chinesischen Modells in der Verbindung relativer steigernder Prosperität einerseits und autoritär-bürokratischen Steuerungsmechanismen andererseits. Galt einst das Dogma, dass westlicher Wohlstand und westliche Demokratie einander bedingen, so ist China mittlerweile Vorreiter einer Gruppe autoritärer und semiautoritärer Staaten, die wirtschaftlich aufsteigen, sich aber die lästigen Begleiterscheinungen demokratischer Systeme ersparen wollen. Verweise auf diverse Systemkrisen in den USA und Europa sowie der empfundene moralische Verfall westlicher Gesellschaften -- man höre nur die Aussagen russischer oder türkischer Politiker zur angeblichen westlichen Dekadenz - zeigen, dass die liberale Demokratie westlicher Prägung schon bessere Tage hatte.

Schlechtes Image

Trotz seiner zweifellos großen Erfolge bisher hat China im Westen eine denkbar schlechte Presse. Die USA blicken mit Argwohn auf den rasch wachsenden chinesischen Militärapparat und Pekings zunehmende Präsenz in Entwicklungsländern. In Europa wiederum gilt China mittlerweile als der Umweltsünder schlechthin. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es das Land der verpesteten Luft, des vergifteten Wassers, der zersiedelten Landschaft und der ungenießbaren Lebensmittel. Nahtlos dazu fügt sich das ebenso wenig schmeichelhafte Bild der schrecklichen Arbeitsbedingungen und wachsenden Ungleichheit.

Wenn China einmal keine schlechte Presse hat, dann hat es zumeist gar keine. Chinesen, denen die zentrale Weltrolle ihres Landes tagtäglich in den Medien vorgeführt wird, sind fassungslos darüber, wie gering die internationale Wahrnehmung ihres Staates eigentlich ist. Dass Durchschnittseuropäer oder Amerikaner bei der Frage nach chinesischen Politikern, Popgrößen, Sportmannschaften, Filmen, angesagter Musik oder sogar Großkonzernen ahnungslos die Achseln zucken, belegt die geringe "soft power" und schwache mediale Resonanz des Riesenreichs - man vergleiche etwa CNN, Al Jazeera oder Russia Today mit seinem chinesischen Pendent CCTV-News.

Das traditionell nach innen gewandte Reich der Mitte mit seiner eher unzugänglichen Sprache tut sich schwer, andere von seinen Vorstellungen und Absichten zu überzeugen. Selbst ein aggressiv auftretendes Russland kann in unseren Breiten reihenweise auf Putin-Versteher zählen, während man etwa Sympathisanten Xi Jinpings -- seines Zeichens Präsident, Parteichef der KP und somit neuer mächtiger Mann Chinas - eher vergebens sucht. Zwar gilt Xi in China als modern, hemdsärmelig und charismatisch, dennoch wirken seine Auftritte im Ausland eher distanziert und wenig einnehmend. Anders als Obama oder Putin, die in enger Tuchfühlung mit den Massen Wahlschlachten zu schlagen hatten, fehlt dem chinesischen Staatenlenker die Erfahrung im Umgang mit einer Öffentlichkeit westlicher Prägung.

Die Mischung aus Ahnungslosigkeit und Misstrauen gegenüber China trifft nahtlos auf eine chinesische Außenpolitik, die ebenfalls unschlüssig wirkt, wo sich das Land in weiterer Folge hin entwickeln soll. Mit zunehmendem Reichtum haben sich für China die Prioritäten verschoben. Bisher war Peking der Diktion des großen Modernisierers Deng Xiaoping gefolgt, in der Weltpolitik möglichst unauffällig zu bleiben, pragmatisch und nicht ideologisch vorzugehen, und den Westen nicht zu reizen.

Ziel war es, aus dem Westen Kapital und Knowhow für die eigene Modernisierung zu lukrieren und Exportmärkte für die eigenen Produkte zu sichern. Nun steht immer mehr der Wettbewerb um Rohstoffe und globale Einflusszonen im Vordergrund. Peking möchte seine Dominanz vor allem vor der eigenen Haustür auch militärisch absichern und besonders die Rohstoffe in den vorgelagerten Meeren für sich in Anspruch nehmen. Dass Chinas Nachbarn dies mit Argwohn verfolgen und eigene territoriale Ansprüche zu Geltung bringen, ist für Peking nur begrenzt relevant, geht es doch China auch um die Herstellung des Status quo ante, also um die Überwindung des Traumas des Kolonialismus.

Ewiges Großreich

In dessen Folge wurde das Riesenreich vom Westen besetzt, von den Japanern verwüstet und an allen Ecken und Enden seiner Territorien beraubt, dazu zählen nach chinesischer Sichtweise die Mongolei, Taiwan, Tibet, Hongkong, Teile Nepals, der heutige russische Osten sowie die vorgelagerten Inseln. Von ehemaligen Vasallen des Kaiserreiches wie (Süd-)Korea oder gar Aggressoren wie Japan will man sich nach Meinung Pekings nicht die weitere ökonomische Entwicklung verbauen lassen.

In seiner Antrittsrede hat Präsident Xi mit seiner Anspielung auf den chinesischen Traum durchklingen lassen, dass die neue Führung weniger vom Bild Chinas als aufstrebender Macht ausgeht, sondern eher von einer Rückkehr des ewigen Großreiches an die Spitze der Weltordnung. Immerhin war China seit der Antike immer das größte und reichste Land überhaupt. Verfügte es doch mit Ausnahme der letzten 200 Jahre über einen Anteil am Weltbruttosozialprodukt, der größer war als jener aller anderen Staaten inklusive Großbritannien.


Was dann folgte, war geschichtlich gesehen eine kurze und aus Pekinger Sicht unglückliche Abweichung vom Normalzustand, den man jetzt wieder herzustellen sucht. Allein auf Grund der Größenverhältnisse verschieben sich alle Machtindiktoren unweigerlich zu Gunsten Chinas. Ist erst einmal die zwei- oder dreifache Größe der US-Wirtschaft erreicht, wird die chinesische Militärmacht die amerikanische in den Schatten stellen, ohne dabei besonders aufrüsten zu müssen. Damit würden globale Tatsachen geschaffen werden, die es China ermöglichen, Ziele durchzusetzen, ohne einen Schuss abzufeuern.

Insgesamt gesehen bietet die chinesische Außenpolitik dennoch viele Widersprüche. Einerseits ist China bemüht, seinen Aufstieg nicht als bedrohlich erscheinen zu lassen. Die Führung betont stets die internationale Harmonie, spricht von einer neuen maritimen Seidenstraße in den Westen und leistete während der globalen Finanzkrise einen kons-truktiven Beitrag zu deren Überwindung. Auch ist man noch willens, den USA eine Sonderrolle als globale Ordnungsmacht zuzubilligen. Andererseits strebt Peking auch den Aufbau einer multipolaren Weltordnung zusammen mit den anderen sogenannten BRICS-Staaten (Abk. für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, Anm.) an, quasi als Gegengewicht zur US-zentrierten Weltordnung. Allerdings sind die konkreten Ergebnisse dieser Bemühungen bisher eher dürftig.

Selbst die verschiedenen Denkschulen chinesischer Außenpolitik scheinen sich uneins zu sein, welche die eigentliche Rolle Chinas in nächsten Zukunft sein soll: Führungsmacht des globalen Südens, Ordnungsmacht Asiens, Grundpfeiler eines multipolaren Weltsystems oder doch Partner des Westens? Zur dieser Unschlüssigkeit gesellt sich eine in Internetforen gut zu erkennende Unsicherheit und Zukunftsangst der chinesischen Gesellschaft, vor allem der gebildeten Mittelschicht, die sich Problemen wie abnehmender Lebensqualität, rasantem Wettbewerb, rapider Alterung der Gesellschaft und dem Widerspruch zwischen Liberalisierung und Ordnung ausgesetzt sieht und unsicher ist, ob die Führung die Herausforderungen wird meistern können.

Keine Verbündeten

Gerade weil China selbst unterschiedliche Botschaften sendet und verschiedene außenpolitische Stoßrichtungen miteinander konkurrieren, wäre für den Westen eine intensivere und kenntnisreichere Auseinandersetzung mit der neuen Weltmacht dringend notwendig. Andernfalls sind wechselseitige Missverständnisse und Fehlinterpretationen geradezu vorprogrammiert.

China wiederum wird sich damit auseinandersetzen müssen, warum es trotz aller Bemühungen in der eigenen Region praktisch keine Verbündeten und international wenig Freunde hat (sieht man von Nordkorea ab). Fragen sollte sich Peking aber auch, warum trotz großer Investitionen in Sachen Imagepflege und Soft Power sein kulturelles Gewicht und die positive mediale Resonanz international vergleichsweise gering sind.

Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, war lange Jahre Professor für Political Science an der University of Pittsburgh und ist seit 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Im Sommersemester 2014 war er Gastprofessor an der Renmin University of China in Peking.