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Antimoderner Freigeist

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Charles Péguy (1873-1914), hier auf einem Bild aus dem Jahr 1910.
© Foto: adoc-photos/Corbis

1914 fiel der französische Schriftsteller Charles Péguy an der Front im Ersten Weltkrieg. In Frankreich war er lange als reaktionär verschrien. Im hundertsten Todesjahr erlebt Péguy eine Wiederkehr.


"Schießen, Schießen, schießen, Herrgott!", schreit der Leutnant Charles Péguy, bevor eine Kugel aus deutscher Artillerie seine Stirn zertrümmert. Es ist der 5. September 1914, ein Tag vor dem "Wunder an der Marne", dem entscheidenden Wendepunkt der Materialschlacht zwischen Deutschland und Frankreich. Einige Tage zuvor schrieb er seiner Frau: "Wenn ich nicht zurückkomme, bitte ich euch, jedes Jahr nach Chartres zu pilgern." Er kam nicht mehr zurück.

Péguy fällt an der Front. Mit 41 Jahren. La Grande Guerre hat sich in Frankreich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Am 17. September 1914 verfasst Maurice Barrès einen Nachruf auf Péguy im "L’Echo de Paris": "Da haben wir ihn heilig. Dieser Tote ist ein Führer, dieser Tote wird mehr als je handeln, dieser Tote wird mehr als jeder andere lebendig." Er wurde verklärt, und dann vergessen. Man wollte ihn in das Massengrab der "France moisie" werfen, in jene xenophobe Ecke, die der Schrifsteller Philippe Sollers in seinem viel zitierten Buch beschreibt. Doch irgendwie steht Péguy immer auf. Und findet Anhänger. "Die Péguysten sind zurück", titelte der "Figaro" heuer. Wer war dieser Mann? Und wer sind seine Adepten?

Charles Péguy wurde am 7. Jänner 1873 in Orléans geboren. Er hatte keine Geschwister, sein Vater starb an den Folgen einer Kriegsverletzung. Er wuchs in einer Handwerkerfamilie auf, die Mutter verdingte sich als Stuhlflechterin. Es ist eine einfache, aber glückliche Kindheit. Im Feaubourg Bourgogne in Orléans läutet alle Stunde der Kirchturm der Chappelle des Pères, Kutscher fahren klackernd über das Kopfsteinpflaster, fröhliche Kinder führen ihre Hunde aus.

Sozialist

Später wird Péguy wehmütig auf dieses idyllische Landleben zurückblicken. Der junge Charles war bis zum Baccalauréat ein tadelloser Schüler. Für die Aufnahmeprüfung an der Ecole normale supérieure braucht er jedoch drei Anläufe. Péguy versperrt sich nicht in seine Studierstube, sondern trifft sich mit Kommilitonen. Für die streikenden Arbeiter von Carmaux sammelt er Geld. In Paris wird der Mann aus der Provinz politisiert. Jean Jaurès ist sein großes Vorbild. 1895 tritt er schließlich der sozialistischen Partei bei, aus der er vier Jahre später wieder austreten sollte.

Die Abschlussprüfung schafft er nicht. Er eröffnet eine kleine Buchhandlung, die "Librairie Georges Bellais". Der Buchhändler verlegt sich alsbald aufs Schreiben. In der Rue de la Sorbonne gibt er ab 1900 bis zu seinem Tod die "Cahiers de la Quinzaine" heraus, eine 15-tägig erscheinende Revue mit literarischen Essays, Kommentaren, Kritikern und Kolumnen. Die Cahiers waren von Anfang an ein prekäres Projekt, es fehlte an Investoren und Abonnenten. Péguy verteilte die druckfrischen Exemplare zum Teil selbst.

In der Dritten Republik in Frankreich herrschte eine ausländerfeindliche und antisemitische Stimmung vor, die den Boden für das spätere Vichy-Regime bereitete. Die Spannungen zwischen revolutionären, sozialistischen und nationalistischen Kräften brachten die Dritte Republik an den Rand des Abgrunds. Die Mehrheiten wechselten ständig, die Premierminister hielten sich kaum länger als ein Jahr im Amt. Als 1894 Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats verurteilt wird, schlägt sich Péguy auf die Seite der Verteidiger des jüdischen Hauptmanns. Es ist die Geburtsstunde der Intellektuellen. Der Schriftsteller Emile Zola verfasst seine berühmte Schrift "J’accuse", der sozialistische Abgeordnete Jean Jaurès fordert den Kriegsminister in einem offenen Brief heraus. Péguy unterzeichnet derweil Petitionen. Er war ein "Dreyfusard" der ersten Stunde, doch sein Engagement geriet in Vergessenheit.

Am 4. Juli 1900 notiert Péguy in seinen "Cahiers de la Quinzaine", deren Abonnent auch Dreyfus ist: "Was haben wir vor uns gesehen, wenn nicht einen solchen Haufen Schmutz und Hässlichkeiten, mit denen wir es uns gemein machten, wir mussten inständig hoffen, dass so etwas nie wieder in der Geschichte der Welt stattfindet." Die Librairie Georges Bellais wird in der hitzigen Debatte zum intellektuellen Treffpunkt im Quartier Latin.

Für Péguy ist die Dreyfus-Affäre genuin religiösen Ursprungs, die dann ins Politische umschlägt. Péguy ist von einem solchen Furor ergriffen, dass er zu schwerem rhetorischen Geschütz greift: "Es ist nicht nur die Ehre unseres ganzen Volkes in der Gegenwart, es ist die historische Ehre unseres Volkes, die ganze historische Ehre unserer ganzen Rasse, die Ehre unserer Vorfahren, die Ehre unserer Kinder." Sprach da ein glühender Patriot? Oder ein Rassist? Der Rekurs auf die Rasse sollte zu Missverständnissen führen. Mit demselben Argumentationsregister trommelte der Revanchist Maurice Barrès gegen Dreyfus.

Die Dreyfus-Affäre und antiklerikale Wende sollte nicht nur zum Bruch Péguys mit den Sozialisten, sondern auch mit der Dritten Republik und der Weltanschauung an sich führen. 1910 erscheint "Notre jeunesse", seine politischste und polemischste Schrift. Es ist ein mehr oder weniger gelungenes Pamphlet, eine Abrechnung mit der politischen Klasse.

"Reines Blut"

Solche Literatur zirkuliert damals viel, und sie wäre wohl nicht weiter rezipiert worden, hätte Péguy nicht diesen verhängnisvollen Satz geschrieben: "Ich werde mein reines Blut so zurückgeben, wie ich es empfangen habe." Dabei stammt er gar nicht von Péguy selbst, er ist ein Zitat Corneilles aus dem "Cid". Doch diese Sentenz wurde ihm wie ein Stigma angehängt. Seinen Gegnern gilt sie als Beleg für seine antisemitische und rassistische Gesinnung.

Wie ein Besessener macht sich Péguy über seine Texte her. Seine Sätze schreibt er ohne Konzept nieder, so wie sie ihm einfallen: Modernes Schreiben eines Anti-Modernen. Paris, Symbol der Dekadenz seit Baudelaire, wird von Péguy so beschrieben: "Modernismus, ein Rendez-vous des Irrglaubens." Der Schriftsteller staunt ungläubig, wie der Fortschritt das Frankreich seiner Erinnerungen verändert. In Paris wird Anfang des 20. Jahrhunderts die Métro gebaut, der Architekt Haussmann verwandelt das mittelalterlich-pittoreske Paris in ein monumental-monotones Straßenraster.

Péguy hatte eine Sehnsucht nach der "Ancienne France", dieses alte, bäuerlich geprägte Land, die Idylle im Pays de Loire. Das Werk "L’Argent", welches 1913, ein Jahr vor seinem Tod, publiziert wird, ist eine Ode an das Landleben: "Es gab nicht diese Art schrecklicher wirtschaftliche Strangulation, die gegenwärtig, Jahr für Jahr, Einzug hält. Man verdiente nichts. Man gab nichts aus. Und jeder lebte. (. . .) In meiner Zeit sangen sie alle."

Doch der Gesang wird zu Kriegsgetrommel. 1914 wendet sich der Schriftsteller endgültig von den Sozialisten ab und beschwört die nationale Sache. Wie viele. Er folgte dem Zeitgeist.

In seinem hundertsten Todesjahr erlebt Charles Péguy eine ungeahnte Wiederkehr. Eine breite Allianz aus Schriftstellern und Politikern von links bis rechts sieht sich in der Tradition des Schrifstellers. Edwy Plenel, Chefredakteur der linken Online-Zeitung "Mediapart", erblickt in Péguy ein republikanisches Vorbild, der gegen die nationalistische Rechte in der Dreyfus-Affäre kämpfte. Michel Houellebecq, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, sagt über Péguy: "Alles, was er schreibt, ist schön, seien es die Alexandriner, die Verse oder Prosa." Und der Zentrist François Bayrou, zweimal Präsidentschaftskandidat, sagt, seit er 15 Jahre alt ist, vergehe keine Woche, in der er nicht Péguy lese.

Péguys Leitsatz lautete: "Es gibt etwas Schlimmeres, als ein schlechtes Denken zu haben. Und das ist, eine vorgefertigte Meinung zu haben." Davon können sich Politiker jeder Couleur eine intellektuelle Anleihe nehmen. Der sozialistische Senator Jean-Pierre Sueur aus dem Département Loiret sagt im Gespräch: "Charles Péguy war ein Freigeist. Sein Werk ist von unglaublichem lexikalischem Reichtum. Es gibt bei ihm eine pamphletisch-polemische und eine poetische Seite. Die Mystik, der Glaube an eine moralische Ordnung, stand im Zentrum seines Denkens. Sie wurde nach der Dreyfus-Affäre zerstört. Péguy liebte die Politik, aber er hasste die politisierte Politik. Er war ein christlicher Repu-blikaner, gläubig, antitotalitär - und er hat den Totalitarismus kommen sehen."

1905 schreibt Péguy im "Courrier de Russie" den fast schon prophetischen Satz: "Wenn ein ganzer Teil, ein beträchtlicher Teil der Menschheit auf den Schienen des Todes und der Freiheit voranschreitet, wenn eine riesige Revolution an den Geburtswehen der Freiheiten (. . .) schreckliche Abtreibungen vornimmt - Kriege zwischen den Völkern, Rassenkriege (. . .), - und wenn wir, freie, liberale Völker, Frankreich, England, Italien, Amerika sogar, unter der Brutalität der militärischen Drohung Deutschlands gehalten sind, sind wir gezwungen und gefangen in der Unmöglichkeit, nichts zu machen." Das Schriftstück dokumentiert die heillose Fatalität, mit der Europa in die Katastrophe schlitterte.

Waffen und Werkzeuge

Im August 1914 tritt Péguy mit seinen Kameraden des 276. Infanterieregiments der Reserve in den Krieg ein. Wie Tausende anderer Soldaten legt er nächtliche Gewaltmärsche zurück, schwer bepackt mit Munition und Proviant. Er blieb der Welt fremd. Und sie ihm.

In seinen "Cahiers de la Quinzaine" schrieb er einmal: "Ich werde nie diese aristokratische und bourgeoise Spitze haben (. . .) Dagegen kenne ich die Bajonette sehr gut, weil sie drei-, viereckig ist, weil sie am Ende eines Gewehrs ist. Das ist eine Waffe. Ich hätte mich so gut mit den Waffen des 15. Jahrhunderts geschlagen. Diese Waffen waren Werkzeuge. Diese Waffen waren mit einem Stiel versehene Sensen. Ein Mann war ein Waffenknecht wert. Ein Mensch war ein Mensch wert."

Diese Losung galt 1914 nicht mehr viel. Der Erste Weltkrieg hat mit dem massiven Einsatz von Waffen zu jenen grauenvollen Materialschlachten geführt, die der Schriftsteller kommen sah. Es half ihm nichts. Charles Péguy ist ihnen zum Opfer gefallen.

Adrian Lobe, geboren 1988, lebt als freier Journalist in Stuttgart und schreibt für Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.