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"Die Arbeit geht ans Herz"

Von Iris Mostegel

Reflexionen

In Berlin kümmert sich die Telefonseelsorge "Doweria" um die Sorgen, Leiden und Ängste russischsprachiger Menschen in Deutschland.


Die Psychologin Tatjana Michalak leitet die russischsprachige Telefonseelsorge.
© Foto: Mostegel

Die Anfänge waren bescheiden. Ein russischer Psychologiestudent in Berlin stellte seine Privatwohnung zur Verfügung: 40 Quadratmeter Fläche, darin ein Sessel, davor ein Schreibtisch und darauf das schwarze Telefon mit Schnur. So sah die russischsprachige Telefonseelsorge vor 15 Jahren aus. Heute: ein Stab von 88 Mitarbeitern im 24-Stunden-Dienst und drei Mal so große Räumlichkeiten. Nur eines ist über die Jahre gleich geblieben: die Sorgen von Menschen aus der früheren Sowjetunion. Fast drei Millionen Personen mit postsowjetischem Migrationshintergrund leben in Deutschland, notiert das deutsche Statistische Bundesamt, das ist neben den USA und Israel die größte russischsprachige Diaspora weltweit.

Es ist 15 Uhr, Schichtwechsel: Die 62-jährige Ludmila S. packt ihre Tasche, ihre junge Kollegin, Marina W., die blonde Psychologiestudentin mit dem goldenen Schal, übernimmt. Sie hatte vor drei Jahren in einer russischen Zeitung in Deutschland eine Annonce von Telefon Doweria (russ.: "Telefon des Vertrauens") gelesen und bewarb sich - sie wolle den Menschen aus ihrer alten Heimat helfen, sagt sie. Mittlerweile hat die heute 30-Jährige zwei Mal im Monat Dienst. Wie alle anderen ist auch sie ehrenamtlich tätig. "Die Arbeit geht ans Herz", erzählt die gebürtige Kasachin mit deutschen Wurzeln, "man wird Zeugin vieler persönlicher Tragödien" - Tragödien, die Marina W. und ihre 87 Kollegen gut verstehen, denn oft ähneln die eigenen Biografien jenen der Anrufer.

Traum und Realität

Deutschland, das Märchen. Deutschland, ein Leben in Würde und Gerechtigkeit. Das war der Traum vieler, die nach dem Fall des Kommunismus ihrer Heimat den Rücken kehrten. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kamen so seit 1990 mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche - Menschen mit deutschen Wurzeln aus der früheren Sowjetunion - sowie 220.000 russischsprachige Juden nach Deutschland.

Manche zogen weiter, die Mehrheit aber blieb. Immerhin waren die Türen weit geöffnet: Während jüdischen Einwanderern als sogenannten "Kontingentflüchtlingen" unbefristete Aufenthaltserlaubnis und Sozialhilfe zustand, wurden Russlanddeutsche wie Marina W. als "deutsche Volkszugehörige" umgehend eingebürgert, obwohl vor allem später Zugewanderte oft kein Deutsch mehr sprachen und zudem in Mentalität wie Kultur ihrer alten Heimat weit näher standen. Probleme waren programmiert, mehr als ein Jahrzehnt lang kam so reichlich Sand ins deutsche Integrationsgetriebe. Der Staat hatte Umfänge und Konsequenzen der riesigen Einwanderungswelle grob unterschätzt.

Auch bei Doweria liefen die Telefone heiß: wertlos gewordene Studienabschlüsse, Probleme mit der Sprache sowie schlechte oder gar keine Jobs auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der nach der Wiedervereinigung ohnehin bis zum Äußersten angespannt war. Das war nicht das glänzende Deutschland, das ihnen aus der Ferne so verlockend zugezwinkert hatte. Vor allem junge Russlanddeutsche waren überfordert, flüchteten auffällig oft in Drogen und Gewalt. "Und dann der Verlust der sozialen Rolle! Zuhause, da war man wer: aufstrebender Jurist oder angesehene Chirurgin. Und dann schnipps! Alles weg. Auf einmal steht man als Pizzalieferant oder Altenpflegerin da", erzählt die 42-jährige Psychologin Tatjana Michalak. Die gebürtige Ukrainerin ist die Leiterin der Telefonseelsorge und war als Achtzehnjährige selbst nach Deutschland eingewandert. Auch ihre Anfänge waren rau gewesen, erzählt sie. Als Einwanderer sei man wie ein kleines Kind, das alles neu erlernen muss. "Und hat man eine Sache geklärt, tun sich fünf neue auf. Innerhalb kurzer Zeit gilt es so viele Informationen zu verarbeiten, dass manche fürs Wichtigste - das Erlernen der Sprache - keinen Kopf mehr hatten." Ein Rollkragenpulli schmiegt sich um den Hals der Psychologin, ihre Finger suchen nach einer Zigarette.

600 Anrufe im Monat

Das Telefon klingelt. Marina W., die Psychologiestudentin, hebt ab, hört zu, macht sich Notizen. Eine Frau braucht dringend Rat: Die pubertierende Tochter macht ihr sehr zu schaffen. Ein paar Schritte von Marina W. entfernt steht ein weiß bezogenes Bett, wo sich die Telefonseelsorger in der Nacht ausruhen dürfen - vorausgesetzt, das Telefon bleibt still. Oft ist das freilich nicht der Fall, denn rund 600 Anrufe gehen jeden Monat ein. "Sogar aus New York meldete sich einmal eine russische Familie", erzählt Michalak. "Die Familie hatte sich Sorgen um eine 40-jährige Verwandte in Berlin gemacht, da diese angekündigt hatte, sich das Leben zu nehmen. Als auch wir die Frau telefonisch nicht mehr erreichten, haben wir Notarzt und Feuerwehr alarmiert und sind in ihre Wohnung. Sie überlebte; sie hatte eine Überdosis Tabletten genommen."

Ingenieurinnen wie Ärzte, Psychologinnen wie Sozialarbeiter - 88 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alter von 22 bis 80 koordiniert Tatjana Michalak. Sie alle kommen aus den Ländern der früheren Sowjetunion und alle haben das gleiche Motiv: "Wir wollen helfen". Doch ehe sie ans Telefon vorgelassen werden, vergeht ein ganzes Jahr. So lang dauert bei Doweria die Ausbildung zum Telefonseelsorger.

Arbeit am Limit

Für viele Situationen gilt es gut gerüstet zu sein: Was sagt man jemandem, der sich erhängen will? Was rät man einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird und ihn dennoch nicht verlassen will? "Ausnehmend schwierig sind Anrufe von Kriminellen oder Pädophilen", sagt Michalak. "Das geht ans Eingemachte. In dir sträubt sich alles, aber letztendlich musst du auch ihnen helfen." Genau für solche heiklen Fälle gibt es die monatliche Besprechung; da treffen sich alle 88 Telefonseelsorger und tauschen ihre Erfahrungen aus.

In Deutschland ist Doweria - finanziert vom Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg - die einzige russischsprachige Notfallnummer im 24-Stunden-Dienst, doch auch anderswo finden sich Anlaufstellen, der Bedarf ist offenbar noch immer groß. In Düsseldorf etwa gibt es die "Jüdische Hotline", die sich der Sorgen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion annimmt. "Auch bei uns melden sich manche, etwa mit der Frage: "Soll ich mein Kind in einen deutschen oder jüdischen Kindergarten geben?", erzählt Michalak. "Sie sind gespalten: Sie wollen sich integrieren, gleichzeitig aber die eigene Kultur bewahren." Die Mutter von zwei Kindern weiß, wovon sie spricht, auch sie kam 1990 als jüdische Einwanderin nach Deutschland.

Russischsprachige Juden und Russlanddeutsche standen in Deutschland vor ähnlichen Herausforderungen, wenngleich mit einem Unterschied: Russlanddeutsche wussten oft buchstäblich nicht mehr, wer sie waren. In ihren Herkunftsländern galten sie als Deutsche, in Deutschland waren sie die Russen; bis heute macht das vielen - vor allem Älteren - zu schaffen.

Eine Erfolgsgeschichte

Der Strom aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist noch nicht ganz versiegt. Laut staatlichen Statistiken wanderten zu Spitzenzeiten in den 1990ern mehr als 200.000 jährlich ein, seit einigen Jahren sind es um die 2000. Aber: Nach den geräuschvollen Anfangsjahren hat sich das Integrationsgeschehen zu großen Teilen beruhigt. Regierungsvertreter sprechen euphorisch von einer "Erfolgsgeschichte", kritischere Stimmen weisen auf bestehende Defizite hin, doch auch sie anerkennen eines: Relativ gesehen sei man auf gutem Wege. Im Vergleich zu den drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln etwa hätten die russischsprachigen Zuwanderer und deren Kinder weit besser Fuß gefasst; dies nicht zuletzt dank ihres privilegierten Zuwandererstatus sowie der Starthilfen des Staates.

Vor allem bei Jungen ist heute die Arbeitslosigkeit gering, die Bildung gut - darauf legten ihre Eltern großen Wert. "Wir sind wie ein Barometer für den Integrationsverlauf der jüngeren Geschichte", sagt Michalak. "Die hier geborene Generation meldet sich mit ähnlichen Sorgen wie ihre einheimischen Altersgefährten: Liebeskummer, Depressionen, Mobbing." Nur etliche Ältere haderten noch mit klassischen Zuwandererproblemen wie minderen Jobs und Einsamkeit. "Manche fühlen sich so alleine, dass sie täglich anrufen", erzählt Michalak. Sie schmunzelt. "Es gibt etwa einen älteren russischen Herrn, der wegen Depressionen regelmäßig stationär behandelt wird. Selbst aus der Psychiatrie will er mit uns sprechen."

15 Jahre gibt es Telefon Doweria nun: 15 Jahre, in denen mehr als 100.000 Mal das Telefon geklingelt hat. Und die Leiterin Tatjana Michalak ist stets in Bereitschaft, denn fühlt sich ein Telefonseelsorger mit einer Situation überfordert, kann er sich über ein Notfalltelefon rund um die Uhr bei ihr Rat holen. Die 42-Jährige nimmt einen Zug von ihrer Zigarette und lächelt. "Krisen kennen eben keine Öffnungszeiten."

Iris Mostegel, geboren 1977, Kindheit in Bagdad. Studium der Arabistik und Politikwissenschaft in Wien und Kairo. Von 2006-12 in Ägypten, seit 2013 freie Journalistin in Wien.

Spätaussiedler
Vor rund 250 Jahren machten sich die ersten deutschen Siedler ins Russische Reich auf, gerufen von der Zarin Katharina II., genannt die Große und selbst gebürtige Deutsche. Die Zarin wollte die riesigen Agrarflächen mit tüchtigen Bauern besiedeln. Es waren vor allem Deutsche, die ihrem Ruf folgten. Steuervorteile, Befreiung vom Militärdienst und andere Privilegien wurden ihnen versprochen.
Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 wurden Russlanddeutsche als "deutsche Feinde" betrachtet. Stalin befahl ihre Deportation, steckte sie in Arbeitslager, viele starben. Nach dem Fall des Kommunismus kehrten die meisten Russlanddeutschen als sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland zurück.