Zum Hauptinhalt springen

Kollision mit der Aktualität

Von Manuel Chemineau

Reflexionen

Michel Houellebecqs neuer Roman, "Unterwerfung", soeben auf Deutsch erschienen, in welchem Frankreich zu einer islamischen Republik wird, ist eine Mischung aus Satire, Politfiktion, Zukunftsroman und Essay.


Das neueste Buch von Michel Houellebecq, "Soumission", ist unter dem Titel "Unterwerfung" seit dem 16. Jänner nun auch auf Deutsch verfügbar. Schon lange vor seinem Erscheinen in der französischen Fassung am 7. Jänner, dem Tag der Attentate auf "Charlie Hebdo" und der blutigen Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, wurde es heftig kommentiert und diskutiert. Vor allem das Thema des Buches stand dabei im Mittelpunkt der Darstellungen, weniger hingegen die literarischen Ansprüche.

Einsamer Professor

Trotz Kollision mit der Aktualität darf man jedoch nicht vergessen, dass Michel Houellebecq seinen Roman nicht als Kommentar zum Blutbad des 7. Jänner verfasst hat. "Unterwerfung" wird erzählt aus der Perspektive eines einsamen, desillusionierten Literaturprofessors der Pariser Universität Sorbonne, der seine aktuelle Lage sowie jene des europäischen Kulturraumes in Wechselwirkung mit dem Werk und Schicksal des Schriftstellers Joris-Karl Huysmans (1848-1907) sieht. Verwoben in die Handlung findet man immer wieder schöne Passagen über das Lebensschicksal und Werk von Huysmans. Dieser ehemalige Naturalist diagnostizierte am Ende des 19. Jahrhunderts den Untergang des Abendlandes und suchte sein Heil im katholischen Glauben und der Bewunderung der sakralen Kunst.

Bei Houellebecq schreiben wir das Jahr 2022, vor dem Hintergrund eines erstarkten Front National und des identitären Diskurses wird, auf Grund von politischen Allianzen, der Leader einer (aus heutiger Sicht fiktiven) gemäßigten islamischen Partei "Fraternité Islamique" zum Präsidenten gewählt (in der deutschen Ausgabe wird diese Partei wahlweise "Bruderschaft der Muslime" oder "Muslimbrüder" genannt, was zu unglücklichen Verwechslungen mit tatsächlich existierenden politischen Bewegungen in der arabischen Welt führen könnte). Dieser macht aus Frankreich eine islamische Republik, die sich zwar durch ihre scheinbare Milde, aber auch die tiefgreifende Umwälzung der Gesellschaft auszeichnet. Ein derartiges Szenario ist nicht die genuine Idee Houellebecqs, ein solches kursierte als Farce bereits in den Medien, wie etwa in einem Artikel von Luc Le Vaillant in "Libération" am 8. November 2011.

Im Roman äußern sich die Merkmale dieser neuen islamistischen Gesellschaft beispielsweise durch Kopftuchpflicht, die konsequente Unterdrückung und Verkindlichung der Frauen im Rahmen eines radikalen Patriarchats, Polygamie oder die Reduzierung der sozio-ökonomischen Struktur auf die Familie. Die Arbeitslosigkeit wird dadurch bekämpft, indem die Frauen aus dem Arbeitsmarkt vertrieben werden. Auf wirtschaftlicher Ebene bestehen "die wichtigsten praktischen Maßnahmen, die von der neuen Regierung umgesetzt wurden, de facto darin, alle staatlichen Hilfen zu streichen [. . .] und andererseits dem Handwerk und den selbstständig Erwerbstätigen erhebliche steuerliche Erleichterungen zuzugestehen".

Konvertierter Rektor

Das Cover der deutschsprachigen Ausgabe, die seit 16. Jänner erhältlich ist. Aus dem Französischen übersetzt wurde das Buch von Norma Cassau und Bernd Wilczek. Dumont Verlag, Köln 2015, 280 Seiten, 22,99 Euro.

Das unmittelbare Umfeld des Ich-Erzählers François (was etymologisch so viel wie "französisch" heißt), die Universität und literarische Welt, stehen nun unter islamistischer Herrschaft und großzügiger Finanzierungen der Petromonarchie. Der bisherige Rektor muss einem zum Islam konvertierten weichen, einem Philosophen, der zum Thema "René Guénon und Nietzsche" arbeitet. ". . . Es ist nicht zu leugnen, dass sich Guénon, wenn man alles von ihm liest, als ziemlich mieser Autor erweist", wird der Metaphysiker und spätere Sufi von François beschrieben. Der neue Rektor erhält von Houellebecq den Namen Rediger - eine ironische Anspielung auf den scharfen islamkritischen Polemiker und Philosophieprofessor Robert Redeker, der heute unter Polizeischutz lebt und in den letzten Jahren auf Grund seiner islamkritischen Aussagen immer wieder ins Blickfeld der Medien rückte.

Generelle Gefügigkeit

Die Akademiker stehen vor der Wahl, entweder eine großzügige Pensionierung anzunehmen, oder wie bisher weiterzumachen mit der Voraussetzung, dass sie sich insofern islamkonform verhalten, als sie in ihrem Unterricht und ihrer Forschung der Religion eine unkritische Sonderstellung gewähren. Ein Literaturwissenschafter, dessen Thema der Poet Arthur Rimbaud ist, muss beispielsweise nicht viel ändern, sondern bloß darauf achten, dass er die hypothetische Konvertierung zum Islam desselben am Ende seines Lebens als erwiesene Tatsache darstellt.

Die Machtübernahme des neuen Führers, der die Extremisten seines Lagers in Schach hält, verläuft gewaltfrei, die grundlegende Neuordnung der Gesellschaft geht mit einer sanften Akzeptanz und generellen Gefügigkeit ("Soumis-sion") über die Bühne, was dem Buch mitunter einen bedrückenden Charakter gibt. Im Hinblick auf die Rolle, in die die Frauen gezwungen werden, mutet es außerdem unrealistisch an, dass derartige Bedingungen und Unterdrückungen protest- und widerstandslos hingenommen werden.

Tatsächlich liest sich auch das Buch nicht wie eine feine Gesellschaftsbeschreibung, sondern eher wie der Wachtraum eines einsamen, autistischen, fatalistischen, in seinen sexuellen Obsessionen und Untergangsfantasien verfangenen Menschen. Verdichtet und reduziert auf das Wesentliche, ist die von François beschriebene Wirklichkeit keine objektive Welt, sondern ihre fantasmatische Rekonstruktion. Seine Kapitulation wird zur generellen Kapitulation.

Da das Buch explizit mehrere Lesarten fordert und ermöglicht, ist es nicht nur als Politfiktion zu verstehen, sondern auch als Essay zum Werk Huysmans (der diesen Autor wieder ins Licht rückt) und als Zukunftsroman. Als solcher lässt er sich in die lange literarische Tradition der utopischen Erzählungen einreihen, von Cyrano de Bergerac über Mercier bis Huxley und vor allem Orwell, der in "1984" ebenso eine "Unterwerfung" beziehungsweise "Kapitulation" gegenüber einer totalitären Macht beschreibt.

Orwells und Houellebecqs Romane ähneln einander in vielerlei Hinsicht. So heißt es am Schluss von "1984": "Er liebte Big Brother" - und bei Houellebecq etwas lakonischer: "Es wäre die Chance auf ein zweites Leben . . . ich hätte nichts zu bereuen." Houellebecqs Statisten sind jedoch - im Gegensatz zu Orwell - bekannte Politiker, Fernsehmoderatoren unserer Zeit, was dem Roman den provokativen Charakter eines Pamphlets gibt.

Das kann als Schwäche des Buches als Zukunftsroman gesehen werden, verliert dieses doch so seine Universalität und überzeitliche Gültigkeit. Der utopische Roman fußt zwar immer auf der Gegenwart des Autors mit seinen spezifischen Sorgen und Fragestellungen, doch müssen vordergründig grundsätzlichere Fragen behandelt werden, wenn das Buch einen universelleren Charakter gewinnen will. Orwell ging es primär um die Manipulation durch Sprache und die Notwendigkeit totalitärer Regime, eine neue Sprache zu kreieren, die das Andersdenken unmöglich macht.

Damit sind wir bei einem der eigentlichen Themen des Romans. Denn viel mehr als nur um die oberflächliche Beschreibung einer islamistischen Gesellschaft geht es hier um die Etablierung einer Theokratie, die die laizistische französische Republik auflöst. Dabei handelt es sich um eine Gesellschaftsordnung, die ihre Legitimität aus dem Religiösen schöpft und eine Priesterschaft als politische Ordnungshüter etabliert. Wesentliche Merkmale, die beschrieben werden, sind die Pervertierung der Sprache, Personenkult zugunsten des politschen/religiösen Führers, sakrale Werke als unbestreitbares Fundament für soziale Gesetze, Massenfaszination und Rituale, Ausgrenzung und im schlimmsten Fall Tötung der Gegner (oder Andersdenkenden/Andersgläubigen), Belohnung der Kollaborateure oder Korruption der Vernunft.

Untergangssorgen

Dass ein solches System als Erlösung erscheinen kann, nährt sich aus der Diagnose, dass sich die moderne Welt des Abendlandes in einem Prozess des Untergangs befindet. Solche Untergangssorgen, die oft um Jahrhundertwechsel herum zu entstehen scheinen, werden gerne mit Werte- und Sinnverlust innerhalb einer Gesellschaft begründet. Es ist jedoch vielmehr so, dass die Gesellschaft sich in einem Säkularisierungsprozess befindet und die Glaubenseinrichtungen einen Kundenschwund und Machtverlust verzeichnen müssen.

Das vermeintliche Scheitern des aufgeklärten Humanismus führt (wie damals bei Huysmans) zur Überzeugung, dass der Wunsch nach Spiritualität (was immer dieses Wort bedeuten mag) von religiösen Praktiken erfüllt werden kann - was im Buch von Houellebecq durch leise Ernüchterung und Ironie zunichte gemacht wird. So auch, wenn der (Anti-)Held, auf den Spuren Huysmans’, einen Aufenthalt im Kloster Ligugé plant, nach ein paar Stunden jedoch wieder abreist, weil sich die erhoffte "Magie" nicht einstellen wollte.

Einen Schlüsselmoment im Roman bilden die Gespräche zwischen François und seinem neuen Rektor Rediger, die später zu seiner "Unterwerfung" führen. Die Reden Redigers wollte Houellebecq augenscheinlich brillant gestalten, sogar Syllogismen und die tautologische Scheinlogik erscheinen François überzeugend. In einer verführerischen Rhetorik lässt der Rektor kreationistische Thesen im ästhetischen Gewand vorbeiziehen, Verdrehungen wissenschaftlicher Erkenntnisse oder die bizarre Vorstellung einer sozialen Evolutionstheorie. Oder etwa einen zeitgemäßen Gott 2.0: "Der Artikel versuchte den Nachweis zu erbringen, dass einzig und allein eine Religion dazu imstande sei, eine echte Verbindung zwischen den einzelnen Menschen herzustellen. Wenn man . . . die Gesamtheit der Individuen miteinander verbinden will, [kann] die Lösung nur darin bestehen, auf eine höhere Ebene zu wechseln, auf der sich ein einziger Punkt befinde, genannt Gott, mit dem die Gesamtheit der Individuen verbunden sei und über den sie wiederum miteinander verbunden seien."

Ferner werden Begriffe neu definiert: Freiheit wird etwa als das Recht aufgefasst, machen zu dürfen, was befohlen wird. Hier wird an Diskurse erinnert, die in französischsprachigen Medien grassieren, wie etwa jene von dem smarten Fernseh-Theologen Tariq Ramadan, oder auch des Publizisten Abdennour Bidar, die das Kunststück vollbracht haben, den Menschen nur dann als frei zu bezeichnen, wenn er die Marionette eines Gottes ist.

Und die Rolle der Frau?

Als der schließlich beinahe überzeugte Erzähler dennoch Zweifel daran hegt, ob er wirklich Lust dazu hat, das dominante Männchen in einer Polygamie zu spielen, erklärt ihm Rediger, dass diese doch ganz im Sinne der natürlichen Selektion sei, indem nämlich den "Fähigsten" zur Fortpflanzung verholfen wird, während sie anderen verwehrt bleibt.

Und die Rolle der Frau dabei? "Ursprünglich fühlen sich natürlich auch die Frauen in erster Linie von den körperlichen Vorzügen angezogen; mithilfe einer entsprechenden Erziehung ist es jedoch möglich, sie davon zu überzeugen, dass das nicht das Wesentliche ist. Man kann sie beispielsweise dazu bringen, sich von reichen Männern angezogen zu fühlen - und schließlich erfordert es im Vergleich zum Durchschnitt schon ein wenig mehr Intelligenz und Schläue, um Reichtum zu erlangen. Man kann sie sogar in gewisser Weise vom hohen erotischen Wert von Hochschulprofessoren überzeugen . . ." Satiriker Houellebecq in Hochform.

So präsentiert sich der Roman als Mischung aus Satire, Politfiktion, Zukunftsroman und Essay. Bei aller thematischen Brisanz und Aktualität macht das Buch dennoch den Eindruck, etwas zu schnell geschrieben worden zu sein. Stellenweise stilistisch lasch, weist es weniger Dichte als andere Romane des Franzosen auf. Houellebecq-Fans werden dennoch auf ihre Kosten kommen.

Manuel Chemineau, geboren in Paris, lebt in Wien. Kulturhistoriker, Literaturwissenschafter und Übersetzer, unterrichtet an der Universität Wien.

Medialer Schlagabtausch
Houellebecqs Roman provoziert in Frankreich scharfe Kontroversen.
Michel Houellebecqs sechster Roman, "Soumission", sorgte bereits vor seinem Erscheinen in Frankreich für heftige Debatten:
Laurent Joffrin, Chefredakteur von "Libération", wirft dem Autor vor, mit der Angst vor dem Islam zu spielen, und mit seinem Bild eines vom Wertezerfall und inter-ethnischen Konflikten entkräfteten Frankreich den Argumenten von Marine le Pen noch zu literarischen Ehren zu verhelfen (er führe sie im Café Flore ein).
Ein "Geschenk an Marine le Pen" ortete auch David Pujadas, der Houellebecq in sein "Journal Télé" auf France 2 lud.
Sylvain Bourmeax vom Radiosender France Culture spricht gar von "literarischem Selbstmord".
Siegfried Forster von Radio France International wiederum hält das Werk für literarisch hochwertig, politisch so hellsichtig wie explosiv – und sieht manche Parallele zu Heinrich Manns Roman "Der Untertan".
Jérôme Béglé vom Magazin "Le Point" würdigt das Buch als inspirierte Theorie über das Ende unserer Zivilisation.
Éric Conan vom Magazin "Marianne" rückt u.a. die im Buch enthaltene Medienkritik ("Blindheit der Eliten" wie in den 1930ern) in den Fokus.
Für literarisch gelungen und "plausibel", wenngleich nicht gewiss hält Alain Finkielkraut Houellebecqs Vision eines islamisierten Frankreich.
Schriftstellerkollege Emmanuel Carrère preist in "Le Monde" das "sublime Buch" und hält es für durchaus möglich, dass der Islam die "Zukunft Europas" wird – so wie der jüdisch-christliche Glaube die "Zukunft der Antike" war.
(Zusammenstellung: Ingeborg Waldinger).