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Gegen die Gleichgültigkeit

Von Robert Misik

Reflexionen
Antonio Gramsci (1891-1937) - hier zu sehen auf dem Plakat einer sardischen Theatergruppe, die 2014 ein Stück über Gramscis Kindheit aufführte.
© Teatro Massimo Cagliari

Der italienische Kommunist Antonio Gramsci war den politischen Doktrinen seiner Zeit so weit voraus, dass sein theoretisches Werk noch heute Anleitungen zur politischen Praxis bietet.


"Die Straßen sind verschneit und die Landschaft besteht nur aus weißen Hügeln... Wien ist viel trostloser und deprimierender als Moskau. Hier sieht man keine Schlitten, die fröhlich klingelnd durch die weißen Straßen fahren, nur die Straßenbahn rasselt vorbei. Das Leben geht seinen tristen und monotonen Gang." So richtig glücklich war der italienische Kommunist Antonio Gramsci offensichtlich nicht, als er in den zwanziger Jahren ein halbes Jahr in Wien lebte. "Ich bin sehr isoliert", schreibt er an seine Gefährtin Julia Schucht in Moskau. In einem anderen Brief heißt es: "Ich bin immer zu Hause...
allein, lese und schreibe. Ich friere oft; nachts schlafe ich wenig."

Wiener Episoden

Nichts weist heute in der Stadt darauf hin, dass einer der wichtigsten Denker und kommunistischen Aktivisten des 20. Jahrhunderts hier einige Monate verbracht hat. An Stalins Aufenthalt erinnert eine Gedenktafel, Leo Trotzkis Exiljahre in Wien sind noch immer mit einer Fülle an Anekdoten präsent. Aber Gramsci in Wien? Davon weiß man wenig.

Ein paar der Wiener Episoden aus dem Leben des sardischen Revolutionärs kann man jetzt in der nach langen Jahren wieder aufgelegten Biographie Giuseppe Fioris nachlesen. Gramsci war während seines Wien-Aufenthaltes zwischen 1923 und 1924 schon einer der wichtigsten Anführer der italienischen Kommunisten und ihr Vertreter in der Führung der Kommunistischen Internationale in Moskau. Nach der Machtübernahme Mussolinis war die italienische KP wachsender Verfolgung ausgesetzt. Das war der Grund für Gramscis Aufenthalt in Wien: Er sollte so nah wie möglich an Italien "heranrücken". Nach Italien selbst konnte er freilich nicht, da das Mussolini-Regime gegen ihn einen Haftbefehl erlassen hatte.

Ein bunter Strauß politischer Emigranten tummelte sich damals in der Stadt, wie der Literaturwissenschafter Luigi Reitani 1992 in der bisher einzigen Detailstudie über "Antonio Gramsci in Wien" in den "Wiener Geschichtsblättern" schrieb. Etwa der legendäre Victor Serge, der unorthodoxe, eigensinnige kommunistische Denker, der sich nie einer Parteilinie unterwarf.

Mit Georg Lukács, dem ungarischen Philosophen, gingen Serge und Gramsci im neunten Bezirk spazieren. Es gibt ein Foto, das Gramsci und Serge vor der Votivkirche zeigt. Serges Autobiographie "Erinnerungen eines Revolutionärs" verdanken wir ein hübsches Porträt Gramscis, damals Anfang Dreißig: "Antonio Gramsci lebte in Wien als arbeitsamer Emigrant und Bohemien, ging spät zu Bett und stand spät auf, er arbeitete mit dem illegalen Komitee der kommunistischen Partei Italiens zusammen. Er hatte einen schweren Kopf mit hoher und breiter Stirn, schmallippigem Mund auf einem schwächlichen Körper mit breiten Schultern, aber eingeknickt, wie bei einem Buckligen. (. . .) Ungeschickt im Alltagsleben, verirrte er sich abends in wohlbekannten Straßen, nahm die falsche Straßenbahn und kümmerte sich wenig um die Bequemlichkeit des Nachtquartiers. (. . .) In der leichten Luft Wiens lag Blut und Verzweiflung."

Schutz vor der Polizei

Mit den sozialdemokratischen Stadtpolitikern des Roten Wien hatten die kommunistischen Untergrundaktivisten kaum Kontakt. Die sagenumwobene Angelika Balabanoff, die damals auch in Wien Hof hielt, war gut vernetzt und kümmerte sich darum, dass sich die Sozialdemokraten für Gramsci bei den Polizeibehörden einsetzten, sodass er in Ruhe gelassen wurde. Gramsci wohnte zur Untermiete, erst in der Schönbrunnerstraße, später in der Florianigasse hinter dem Rathaus.

Gramsci stammte aus kleinbürgerlichen, aber ökonomisch angespannten Verhältnissen. Zeitweise konnte sich die Familie nicht einmal leisten, den blitzgescheiten Jungen ans Gymnasium zu schicken. Er war schwächlich, schon als Kind wuchs ihm ein Buckel. An Philosophie, Kunst und Kultur interessiert, wurde Gramsci nach seinem Weggang aus Sardinien in Turin in den 1910er Jahren erst eine Art aktivistischer Journalist, bis er später zum journalistischen Aktivisten wurde.

Gramscis Politischwerden vollzog sich in einem Kreis junger intellektueller Gleichgesinnter. In der kleinen Turiner sozialistischen Zelle hatten sie auch zunehmend Kontakte mit den Industriearbeitern der Stadt. Gramsci, der Aufsätze über "Das Kapital" von Marx ebenso schrieb wie Satiren und Essays über das Theater Pirandellos, war immer "ein völlig unabhängiger Einzelkämpfer" (Fiori). Schon damals entwickelte er - mehr instinktiv - die Überzeugung, "dass jeder Revolution eine intensive kritische und kulturelle Arbeit vorausgehen muss".

In einem seiner Artikel schrieb er fast als Bekenntnis: "Wie Friedrich Hebbel glaube ich: Leben heißt Partei ergreifen . . . Gleichgültigkeit ist ein mächtiger Faktor in der Geschichte . . . Deswegen hasse ich die, die nicht Partei ergreifen, die gleichgültig sind."

Denk- und Leidensweg

Gramscis Wiener Episode nahm ein überraschendes Ende: Mussolinis Machtübernahme etablierte ja nicht sofort einen Totalfaschismus, es gab weiterhin Wahlen und auch ein Parlament. Gramsci wurde in Abwesenheit ins Parlament gewählt und hatte damit parlamentarische Immunität. Erst Ende 1926 wurde jede Opposition zerschlagen und Gramsci inhaftiert. Es begann ein Leidensweg, der für sein heutiges Bild als Märtyrer des Widerstandes und des freien Denkens verantwortlich ist.

Gramscis Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, bis er sterbenskrank war. Doch er arbeitete mit Besessenheit an seinem intellektuellen Nachlass, der Begründung seiner eigenen politischen Theorie, die er in seinen legendären Gefängnisheften aufschrieb - von Beginn an getragen von der Absicht, "dass man etwas für ewig tun müsste".

Robert Misik.

Gramscis Gefängnishefte sind ein monumentales Werk, das in der deutschen Ausgabe viele tausend Seiten und zehn Bände füllt. Unter den denkbar widrigsten Umständen verfasst, machte es den schreibenden, sterbenden Kerkerinsassen zum "originärsten Denker, den es seit 1917 im Westen gegeben hat" (Eric J. Hobsbawm). Von den kommunistischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts ist der Gramsci der Gefängnishefte der einzige, der uns heute noch Relevantes zu sagen hat. Mehr noch: Seine Arbeiten sind heute Kanon der gesamten politischen Philosophie.

Scheinbar ungeordnete Notate und Essays - eine wahre Schatzkammer. Gramsci hat dem kritischen Denken einen neuen Kontinent eröffnet - den der Kultur, des Politischen, der Ideen - und gleichsam nebenbei alle ökonomistischen, deterministischen Verzerrungen des Marxismus seiner Zeit intellektuell vernichtet. Dass die geistigen Strömungen des "Überbaus" eine simple Abbildung der Ökonomie seien - mit diesen Plattitüden räumte Gramsci auf. Solche Vereinfachungen hätten nur zur Folge, so Gramsci, dass der Marxismus "einen Großteil seiner kulturellen Ausstrahlung unter intelligenten Personen" verliere, und beschränkte Intellektuelle anziehe, die glaubten, "sie könnten billig und ohne Mühe die gesamte Geschichte und die gesamte politische Weisheit in der Tasche haben".

Gramsci besteht darauf, "dass man unter Staat außer dem Regierungsapparat auch den privaten Hegemonieapparat oder die Zivilgesellschaft verstehen muss". Dies kumuliert in der berühmten Formel aus den Gefängnisheften: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang". Anders gesagt: In der modernen Gesellschaft ist es nicht so, dass eine kleine Gruppe "Herrschender" die anderen mit Zwang unterdrückt, sondern dass eine "herrschende Ordnung" ihre Stabilität daraus zieht, dass eine Mehrheit an sie glaubt. Politischer Kampf ist der Kampf um die Hegemonien an Ideen, spontanen Weltverständnissen und so weiter.

Gramsci ist sich der Macht der Ideen bewusst, der Religion, ja der Philosophie, besonders, wenn sie in den "Alltagsverstand" des Volkes eingeht, den er die "Folklore der Philosophie" nennt ("Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von Alltagsverstand; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung"). Pointe am Rande: Das Wort "Zivilgesellschaft", heute in aller Munde, ist eine von Gramsci geprägte Vokabel, die selbst schon fast in den "Alltagsverstand" hinabgesunken ist.

Noch und gerade in ihren einfachsten Bildern erweisen die ideologischen Bodensätze ihre Wirksamkeit ("Gesetz ist Gesetz", "Jeder ist seines Glückes Schmied"). Gramsci war jemand, der zeitlebens hinsah, der die einfachen Leute, deren spontane Weltsichten, genauso spannend fand wie Alltagsrituale oder philosophische Konzepte, der im hohen Ansehen der Naturwissenschaften das Kultische wahrnahm, der sich bei Hegel-Lektüre genauso wie bei Populärliteratur, etwa bei den "drei Musketieren" fragte, welche Weltbilder sich in ihnen verdichten und gleichzeitig verbreitet werden.

"Kenntnis des Feldes"

Ideologische Hegemonien zu durchbrechen braucht, so können wir im Anschluss an Gramsci zeitgemäß formulieren, andere Erzählungen, eine "hegemoniale Strategie". Diese ist, so Gramsci, eine Arbeit, "deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist". Darum auch Gramscis Interesse für die volkstümlichen Sedimente der Theorien, die er die "spontane Philosophie" nennt, "die jedermann eigen ist".

Was ist eine Gesellschaft? Welcher Konsens hält sie zusammen und wie wird dieser Konsens organisiert? Welches ist die Bedeutung der Tradition, der Intellektuellen, der Ideen in diesem Feld? Gramsci buchstabiert das durch, anhand von Romanen, aber auch jede Zeitungsnotiz ist ihm Quelle. Welch gefundenes Fressen wäre etwa für Gramsci eine deutsche Bundeskanzlerin, die ihre Austeritätspolitik mit dem Bild der "sparsamen schwäbischen Hausfrau, die nur ausgibt, was sie einnimmt", unter die Leute bringt?

Der kleine zarte Mann hinter Kerkermauern war isoliert und hat das atemberaubendste politisch-philosophische Gesamtwerk des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Ja, es ist sogar eine unbestreitbare und zugleich unerhört klingende Tatsache, dass Gramsci wohl nie dazu gekommen wäre, ein solches Werk zu verfassen, wenn er nicht von Mussolini eingekerkert worden wäre.

Es ist immer noch bemerkenswert, wie weit er den philosophischen Doktrinen seiner Zeit voraus war, etwa wenn er schreibt: "Die Menschheit ist noch ganz aristotelisch. Dass das Erkennen ein Sehen statt eines Tuns sei, dass die Wahrheit außer uns sei, bezweifelt niemand, und man riskiert, für verrückt gehalten zu werden, wenn man das Gegenteil behauptet." Dass das Wissen eher eine Praxis als ein Erkennen ist, unterschiedliche Narrative verschiedene "Wissen" produzieren - all das, was später die Postmoderne durchbuchstabierte, blitzte bei Gramsci schon auf. Gedanken, wie sie etwa Jean-François Lyotard in "Das postmoderne Wissen" populär machte, sind ferne Echos auf das, was Gramsci 50 Jahre vorher bedachte

"Sektiererische Abkapselung", schreibt Fiori punktgenau, "war Gramsci zuwider". Sozialismus wird man in modernen Gesellschaften keinen errichten, wenn man putschistische kommunistische Miniparteien aufbaut - das war Gramscis sichere Gewissheit.

Gramscis Aktualität

Es ist ein lustiges Aperçu der Geschichte, dass in den vergangenen Monaten in der internationalen Presse mit deutlichem Erstaunen berichtet wird, dass ein erheblicher Teil der griechischen Syriza-Führung beispielsweise bei "Gramscianern" wie Ernesto Laclau an der Universität Essex studiert hat. Dabei ist es aber genau besehen kein so großes Wunder, dass die erste unabhängige Linkspartei, die es im Westen schaffte, die Mehrheit in ihrem Land zu erringen, ihren Gramsci sehr genau gelernt hat. Er ist zudem ja der einzige kommunistische Denker, den auch Sozialdemokraten seit den achtziger Jahren für sich adoptierten - nicht zuletzt die Sozialdemokratie des früheren Roten Wien, das ja selbst in einem gewissen Sinne "gramscianisch" avant la lettre war - auch so eine Paradoxie der Geschichte, bedenkt man, dass sich Gramsci, der heute in der internationalen Literatur nicht selten in einem Atemzug etwa mit Otto Bauer genannt wird, ganz offenbar für das Rote Wien überhaupt nicht interessierte, während er dort wohnte.

Als Politiker von großer Urteilskraft hatte Gramsci zugleich einen literarischen, philosophischen und poetischen Blick auf die Welt, und er warf ihn auch auf sich selbst, als sich sein "ich" im Gefängnis zu desintegrieren begann. Er denke, schrieb er an seine Schwägerin Tanja Schucht, an einen Schiffbrüchigen, den die Umstände so verformen, dass er ein Menschenfresser werde. Als moralischer Beobachter oder späterer Richter würde man zu klären haben, wie diese Menschen zu Kannibalen werden konnten.

"Aber sind das wirklich dieselben Menschen?", fragte Gramsci. Gibt es ein "ich" jenseits der Umstände? "Ein normaler Mensch kann es sich nicht vorstellen, einen anderen zu essen, ein Schiffbrüchiger nach einiger Zeit sehr wohl und "zwischen den beiden Zeitpunkten . . . hat sich ein Prozess der molekularen Transformation vollzogen"; zu sagen, "dass es sich noch um dieselben Menschen handelt", ist womöglich bloße Konvention.

Gramsci erkannte sich in diesen Schiffbrüchigen wieder. Die Zähne fielen ihm aus, er hatte fortschreitende Lungentuberkulose und eine tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung. Seine Wirbel lösten sich auf, und auf dem Rücken bildeten sich Abzesse. Gramsci befand sich in einem Prozess des langsamen Sterbens, was ihn nicht daran hinderte, noch diese Selbstauflösung literarisch-philosophisch zu kommentieren.

Giuseppe Fiori: Das Leben des Antonio Gramsci. Aus dem Ita-lienischen von Renate Heimbucher und Susanne Schoop. Rotbuch-Verlag, Berlin 2013.

Robert Misik, 49, lebt als Publizist in Wien. Staatspreis für Kulturpublizistik 2009. Bloggt unter www.misik.at. Zahlreiche Bücher, etwa: "Erklär mir die Finanzkrise", (Picus-Verlag, 2013).