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Das Trauma der Vergangenheit

Von Barbara Eder

In den Jahren 1915 und 1916 wurden die Armenier systematisch verfolgt und ermordet. Die Erinnerung an den Genozid prägt auch 100 Jahre danach grundlegend das Selbstverständnis des armenischen Staates.


Das Mahnmal für die Opfer des Genozids auf der Schwalbenfestung in Armeniens Hauptstadt Jerewan.
© CTHOE/ Wikimedia Commons

Im Jahr 1921 ging ein junger Orientreisender aus Amerika in Venedig an Bord eines Schiffes, das ihn nach Istanbul bringen sollte. Unter den Mitreisenden befanden sich besonders viele Armenier, darunter einer, "dessen Vater, Mutter und drei Schwestern in Trapezunt vor seinen Augen von den Türken in kleine Stücke zerhackt wurden". Der Reisende, es war Schriftsteller John Dos Passos, wurde mit den Erzählungen der Überlebenden eines Genozids konfrontiert, die ihre Diaspora-Existenzen seither auf Schiffen fortsetzen mussten.

Der Vernichtungsplan

In den Jahren 1915 bis 1916 wurden die dazumal im Osmanischen Reich lebenden Armenier Opfer eines ethnisch-rassistischen Vernichtungsplans, der nach aktuellen Schätzungen 800. 000 bis 1,5 Millionen Menschenleben gefordert hat. Dieser begann mit einer Razzia gegen die armenische Intelligentsia von Konstantinopel im April des Jahres 1915 und wurde mit dem Erlass eines Deportations-Gesetzes seitens des jungtürkischen "Komitees für Einheit und Fortschritt" im Mai desselben Jahres fortgesetzt. Bis zum Juni 1915 wurden die Armenier und Armenierinnen an zentralen Orten des Landes zentriert und entweder sofort ermordet oder auf Befehl des türkischen Innenministers Mehmet Talaat auf Todesmärsche in Richtung der syrischen Wüste geschickt.

Während der Deportationen starb die Mehrheit in Folge von Hunger, Krankheiten, Dehydrierung und Erschöpfung. Familien wurden getrennt, alte und kranke Menschen sowie Frauen und Kinder oftmals am Wegesrand ausgesetzt. Es gibt sowohl Berichte, die bestätigen, dass syrische Beduinen, Kurden und Türken sich der Deportierten annahmen, wie auch solche, die vom Gegenteil erzählen: In der Wüste zurückgelassene Kinder wurden nicht selten auf Sklavenmärkten verkauft oder mit dem Ziel, sie zu türkisieren, in neuen Familien untergebracht.

Über all dies wurde die internationale Öffentlichkeit gezielt im Unwissen gehalten. In Folge von Zensurmaßnahmen durften deutsche Journalisten nichts von den Verbrechen des Kriegspartners Türkei berichten und auf Seiten der deutschen sowie der österreichisch-ungarischen Diplomatie wurde trotz besseren Wissens nichts getan, um den Genozid zu verhindern. Nach Meinung des österreichisch-ungarischen Botschafters in Konstantinopel, Markgraf Pallavicini, wäre eine Intervention gegen die an den Armeniern verübten Gräuel nur deshalb einer Erwägung wert gewesen, weil man der Entente damit ein Argument liefere, um gegen den eigenen Bündnispartner Türkei vorzugehen.

Auch der deutsche Botschafter im Osmanischen Reich, Hans von Wangenheim, hat nichts in seiner Möglichkeit Stehendes unternommen, um die andauernden Gewalttaten zu beenden. Seitens der sich im Dreibund mit Italien befindlichen Allianz von Österreich-Ungarn und Deutschland wurde die Mitverantwortung für den Genozid an den Armeniern später mit dem Argument einer diplomatisch notwendigen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei geleugnet. Anlässlich einer parlamentarischen Anfrage vom Jänner 1916 wurde das genozidale Geschehen damit abgetan, dass man den Armeniern dazumal nur "neue Wohnstätten" zugewiesen hätte.

Während Deutschland und Österreich-Ungarn keinen aktiven Widerstand aufbrachten, intervenierten die USA auf diplomatischer und humanitärer Ebene. Der amerikanische Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, verfasste im Mai 1915 eine Erklärung, in der er die Türken davor warnte, ein juristisch zu verfolgendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, und sie aufforderte, die Deportationen sofort zu stoppen.

Zögerliche Hilfe

Morgenthau erhielt zahllose Besuche von verstörten Armeniern, die ihm von den Verbrechen berichteten. Er wandte sich darauf hin an die amerikanische Regierung, die unter dem Vorwand, die eigene Neutralität beibehalten zu wollen, ihm weitere Unterstützung versagte. Obwohl seitens der USA eine militärische Intervention möglich gewesen wäre, fand diese vor allem aus Sorge um die eigene Infrastruktur auf türkischem Gebiet nicht statt. Nachdem der Befehl erteilt wurde, Erzurum von Christen zu säubern und an einem Nachmittag 10.000 Menschen ermordet wurden, klärte eine Titelstory der "New York Times" die amerikanische Öffentlichkeit über den Völkermord auf.

Dass es sich bei den Ereignissen von 1915/16 um Aktionen im Rahmen der gezielten Ermordung einer ethnischen und religiösen Minderheit im Osmanischen Reich handelt, ist unter Historikern heute eine unbestrittene Tatsache, deren Leugnung in Frankreich per Gesetz unter Strafe steht. Von der türkischen Regierung wird dies nach wie vor bestritten - trotz jüngerer Revisionsversuche des sozialdemokratischen Politikers Gürbüz Çapan, der massiven Kritik an der offiziellen türkischen Haltung zum Genozid durch Orhan Pamuk und der Solidaritätsbekundungen der "Taksim"-Aktivisten gegen Rassismus und Nationalismus 2010.

Diese türkische Politik führte etwa dazu, dass im vergangenen Jahr am Gedenktag des Genozids, dem 24. April 2014, am Mahnmal auf der Jerewaner Schwalbenfestung die türkische Flagge verbrannt wurde; mehr als 90 Morde gehen auf das Konto von unterschiedlichen armenischen Terror-Gruppen, die auf das Ausbleiben der Verurteilungen aller am Genozid Beteiligten Selbstjustiz verübten. Während Mehmet Talaat - neben den beiden anderen Paschas Ismail Enver und Ahmed Djemal einer der Hauptverantwortlichen des Genozids - 1921 durch den später freigesprochenen armenischen Studenten Soghomon Tehlirian erschossen wurde, machten einige deutsche Akteure, die in den Genozid involviert waren, während des NS-Regimes beachtliche Karrieren.

Das lange Schweigen

Armenische Selbstironie: Noahs Arche mit Papierflieger. Levon Abrahamian/ Association of Caricaturists of Armenia (Hg.): Armenian Cartoon 2005.

Der Genozid an den Armeniern wurde zur Zeit der sowjetischen Herrschaft unter dem Vorwand, die Freundschaft zwischen den Völkern nicht gefährden zu wollen, tabuisiert. Überlebende des Genozids hatten zwar das Recht, sich in Sowjet-Armenien niederzulassen; über das vorangegangene Geschehen durfte in der Öffentlichkeit dennoch nicht gesprochen werden. Erst im Jahr 1967 wurde auf Druck der Zivilbevölkerung auf der Jerewaner Schwalbenfestung (armenisch: Zizernakaberd) ein Mahnmal errichtet. In seinen Grundrissen ähnelt dieses einer kubistisch-abstrakten, christlichen Kirche. Daneben befindet sich das Gebäude des "Armenian Genocide Museum Institute", das eine Dauer-Ausstellung zum Genozid beherbergt. Architektonisch ist dieses wie ein begehbares Grab angelegt: die Ausstellungshalle ist mit zu Fenstern umfunktionierten Marmorsteinen in Kreuzform ausgekleidet, die als Lichtquellen im Raum dienen.

Die Dauer-Ausstellung baut zu weitern Teilen auf visuellen Quellen mit nur wenigen schriftlichen Hinzufügungen auf. Die verletzten und misshandelten Körper von deportierten Frauen und Kindern stehen im Mittelpunkt einer Repräsentationspolitik, die den Zentren armenischen Lebens vor dem Genozid nur in zwei Bereichen der Ausstellung Bedeutung beimisst.

Inmitten der leinwandgroßen Fotografien findet sich auch ein Bild, das nicht auf die faktische Evidenz des Gewesenem verweist: ein Filmstill aus dem 1919 in den USA produzierten Spielfilm "Ravished Armenia", der auf den Erinnerungen der Genozid-Überlebenden Aurora Madiganian beruht. Auf diesem Kinobild sind die an Kreuzen hängenden, nackten Körper von armenischen Frauen zu sehen.

Die wenigen Fälle von Zivilcourage seitens der türkischen, kurdischen und syrischen Bevölkerung, die armenische Familien versteckte, zu Waisen gemachte Kinder großzog, ihnen zur Ausreise verhalf, sind ebensowenig Teil der Ausstellung wie die unmittelbaren Nachwirkungen des Genozids - heute leben mehr als eine Million Armenier und Armenierinnen in der Diaspora - und seine historische Aufarbeitung. So zeigt sich ein noch junger Staat, der sich auch als christliches Opfer "islamischer Barbaren" zu inszenieren weiß.

Das "Armenian Genocide Museum Institute" ist die einzige Institution auf armenischem Terrain, die derzeit mit der Erforschung des Genozids beschäftigt ist. Folglich hat diese ein Monopol auf die Produktion eines Gedenk-Diskurses, der nicht frei von hagiografischen Darstellungen ist.

Noahs lachende Erben

Abseits der dazugehörigen, ins Register der politischen Theologie verlagerten Genozid-Repräsenta-tion gibt es in Armenien jedoch auch Diskurse des Erinnerns, in deren Rahmen die Motive einer christlichen Ikonografie anders verwendet werden. So etwa hat sich der armenische Zeichner Levon Abrahamian das Bild der Arche Noah aus ironischer Distanz angeeignet. Dieses ist mit dem Gründungsmythos des armenischen Staates verbunden, der der biblischen Erzählung zufolge am Fuße des Berges Ararat von einem direkten Nachkommen Noahs - Hayk, dem ersten Armenier - instituiert worden sein soll. Die Arche über dem Berg Ararat fungierte während der Zeit der öffentlichen Tabuisierung des Genozids auch als Bild für eine verlorene Heimat, die heute auf türkischem Territorium liegt.

In Abrahamians Zeichnung wird Noahs Boot zu einem Vehikel, dessen Insassen einer in Gestalt eines Papierflugzeuges ins Bild hineinragenden Nachricht mit Skepsis begegnen. Dabei könnte es sich durchaus um eine frohe Botschaft handeln: Die Zeit des Exodus ist vorbei und das Tor zur neuen Welt für die Bewohner und Bewohnerinnen der alten Arche längst geöffnet.

Barbara Eder studierte Soziologie und Philosophie in Wien und Berlin. Von 2013- 2014 war sie an der W.-Brjussow-Universität in Jerewan tätig. Derzeit arbeitet sie an dem Erzählband "Warten auf Archen".