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Neubeginn mit Altlasten

Von Herbert Hutar

Reflexionen

Im Mai 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Aber so bedeutsam diese historische Zäsur auch gewesen ist - die weitverbreitete Vorstellung von einer "Stunde Null" ist dennoch ein Mythos.


1945 und die ersten Nachkriegsjahre: Das war ein verzweifelter Kampf ums Überleben. Nicht alle haben ihn überstanden, Menschen haben sich umgebracht, Menschen sind verhungert. Und wie immer in solchen Notlagen: Es sind als selbstverständlich empfundene Heldentaten, die kaum dokumentiert wurden, ebenso vollbracht worden wie niederträchtige Verbrechen auf Kosten der Schwächeren.

Die Überlebensstrategien und später der Wiederaufbau sind jedoch ohne Vorgaben aus der Nazizeit nicht denkbar. Andererseits ist es gelungen, ein völlig neues Österreichbewusstsein zu schaffen. Alternativen gab es nicht, und die Politik wollte sich aus der Verantwortung für die Nazi-Vergangenheit heraushalten. Erweist sich das Jahr 1945 als "Stunde Null" als bloßer Mythos?

Die Ausgangslage

Der spätere Bundespräsident Adolf Schärf schrieb in seinen Memoiren: "Im Nachhinein scheint es fast unverständlich, wie die Bevölkerung von Wien bis in den Mai 1945 ernährt wurde ... Nur jene, die den Schleichhandel mit sogenannten bewirtschafteten Gütern kontrollierten, hatten keine Ernährungsprobleme." Selten haben Worte eines Politikers die Wahrheit so genau getroffen wie die legendäre Radiorede zu Weihnachten 1945 von Bundeskanzler Leopold Figl: "Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben, ich kann Euch für den Christbaum, wenn Ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich!"

Die Ernten der Jahre 1945 und 1946 erbrachten nur die Hälfte der Vorkriegserträge. Dazu blieb die Versorgung aus den ehemaligen, von den Nazis besetzten Ostgebieten aus. Der Rinderbestand sank auf 70 Prozent, der Schweinebestand - verglichen mit 1938 - auf 30 Prozent. Die hermetisch gezogenen Demarkationslinien zwischen den Besatzungszonen zerschnitten regionale Lebensadern und wurden nur zögernd geöffnet. Über Österreich rollte die größte Flüchtlingswelle seiner Geschichte hinweg: Über eine Million deutscher Soldaten waren auf dem Rückzug, fast ebenso viele Besatzungssoldaten rückten nach. Dazu kamen Fremdarbeiter, Flüchtlinge aus den Ostgebieten, vertriebene Volksdeutsche, Bombenopfer aus dem Reichsgebiet, befreite KZ-Häftlinge.

Die geschlagenen Nazis wüteten noch auf dem Rückzug. Rosa Jochmann, Widerstandskämpferin, KZ-Überlebende und sozialdemokratische Abgeordnete der ersten Stunde, berichtetet 1946 im Parlament: "Die SS hat in ihrer rasenden Wut über den verlorenen Krieg alles vernichtet, was an Lebensmittelvorräten vorhanden war. Als man uns aus dem Lager vertrieben hatte, weil die Russen schon in der Nähe gewesen sind, mussten wir mit ansehen, wie große Mengen kostbarer Lebensmittel verwüstet und unbrauchbar gemacht und Hühner und Schweine vernichtet wurden."

Selbstjustiz und Gewalt

Überfälle, Einbrüche, Diebstähle, Vergewaltigungen, Selbstjustiz: Gewalt war zum Alltag geworden, stellt der Historiker Roman Sandgruber fest. Gestohlen wurde alles: Kartoffeln auf den Feldern, Kupferdrähte von Telefonleitungen, Holz aus den Wäldern. Gemüsehändler hielten die Preise künstlich hoch. Polizeiliche Hausdurchsuchungen arteten in Plündereien aus.

Ein Zeuge in einem späteren Gerichtsverfahren gegen den ohnehin bereits vorbestraften Polizeichef von Hietzing bekundete: "Die Herren haben sich auch um andere Sachen als um Lebensmittel gekümmert. Nach und nach waren im Haus etwa 20 Polizisten versammelt, darunter Burschen von 14 bis 20 Jahren. Einer der Polizisten sprengte einen Kasten auf, nahm ein Paar Schuhe heraus und zog sie gleich an. Ein anderer hat einen Anzug genommen." Das berichtet die Historikerin Ulla Kurz. Orson Welles’ Film "Der dritte Mann", in dem gestohlenes Penicillin verfälscht wurde und Todesopfer kühl in Kauf genommen wurden, wobei auch die Besatzungsmächte ins Zwielicht gerieten, erweist sich als beispielhaft für die Zustände im Nachkriegs-Wien. (Zu Orson Welles siehe auch Beitrag auf Seite 27.)

Leistung der Frauen

Ist von Wiederaufbau die Rede, drängt sich das Klischee der "Männer von Kaprun" auf. Tatsächlich wurde ein Großteil der Wiederaufbauarbeit jedoch von den Frauen geleistet. Die Hausarbeit geriet zur Überlebensarbeit mit gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Lebensmittelkarten gab es nur für Tätigkeiten in Betrieben. In Wien waren im Mai 1945 rund 200.000 Frauen in Büros und Fabriken beschäftigt, was die Zahl der Männer leicht übersteigt. Dazu kam die "Schuttverordnung" vom Juli 1945, mit der auch Frauen zur behördlich kon-trollierten Beseitigung von Kriegsschäden zwangsverpflichtet wurden. Anstellen um Lebensmittel, Schwarzmarkt und Hamsterfahrten, Kochen, Versorgen der Kinder, Herstellen und Flicken von Bekleidung teils aus alten Uniformen, notdürftiges Abdichten von zerbrochenen Fenstern gehörten zum Alltag. Heizmaterial wurde im Wienerwald gesammelt, Frauen schleppten auch Eisenbahnschwellen nach Hause und zersägten sie in der Küche. Aus Lehm, Kohlestaub und Wasser wurden Ersatz-Briketts gepresst. Das alles war begleitet von ständigem Hunger.

Eine im 8. Monat schwangere Frau schrieb in einem Leserbrief in der Zeitschrift "Die Frau": "Was ich Hunger leide, brauche ich nicht zu schildern. Von Kochen kann bald keine Rede mehr sein. Was nützen die Aufrufe in der Zeitung, wenn man doch nichts bekommt als Brot und Milch, die anderen Dinge kriege ich in der zweiten, oft auch erst in der dritten Woche. Ich muss in der Nacht aufstehen, vor lauter Hunger, und Wasser trinken. Brot kann ich mir nicht nehmen, ich muss ja auf die Kinder schauen, dass ihnen ein Stück für die Schule bleibt."

Auch die kargen Lebensmittelzuteilungen, für die in Zeitungen wochenweise aufgerufen wurde, haben offenbar nur schlecht funktioniert, und das bei 1000 bis 1500 Kalorien pro Tag. Die Löhne konnten mit den Lebensmittelpreisen nicht Schritt halten. Noch 1947 kam es in Wien, aber auch im obersteirischen Industriegebiet zu Streiks und Massendemonstrationen.

Also versuchten die Menschen, auf Hamsterfahrten etwas zu ergattern. Eine damals 44 Jahre alte Buchhalterin schildert: "Mit 20 Kilo Marillen im Rucksack bin ich in Melk zum Zug gegangen, eine Station zu Fuß, also wie ich dann aufs Waggondach hinaufgekommen bin, weiß ich heute nicht mehr, Kraft in den Händen hab’ ich nie viel gehabt. Zum Anhalten hat es nichts gegeben, Rücken an Rücken sind wir da oben gesessen." Hamsterfahrten gab es allerdings schon im Krieg.

Die Alliierten und die Neutralen wie Schweden, Dänemark, die Schweiz, Irland und Portugal organisierten bald Nahrungsmittelhilfe. Die sogenannte 1.Mai-Spende der Roten Armee brachte im Mai 1945 nur kurze Erleichterung. Es gab pro Person: 1 Kilo Brot, 150 Gramm Fleisch, 50 Gramm Öl, 400 Gramm Hülsenfrüchte und 150 Gramm Zucker. Erst im März 1946, also nach dem Katastrophenwinter, lief die Nahrungsmittelhilfe der Vereinten Nationen, der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), an, ebenso die CARE-Paketaktion (Care = Cooperative for American Remittances for Europe).

Am Schwarzmarkt

Die ärgste Not wurde so gelindert, wenn auch die Lebensmittel weiter rationiert werden mussten. Es herrschte Mangel nahezu an allem, der Schwarzmarkt florierte. Hauptumschlagplätze waren in Wien der Ressel-Park und der Naschmarkt. Im Dezember 1945 kostete Mehl das Zweihundertfache des amtlichen Preises, Zucker und Schmalz waren noch teurer. Die Hälfte der Geschäftemacher waren Ausländer, darunter viele russische Soldaten. Aber auch die Westalliierten waren in Schwarzmarktgeschäfte verstrickt - waren doch amerikanische Zigaretten ("Lucky Strike") das begehrteste Zahlungsmittel. So mancher Besatzungssoldat hat sich da schon etwas dazuverdient oder Erfolg bei jungen Österreicherinnen gehabt.

Galt die "Lucky Strike" als Nobeldevise am Schwarzmarkt, so war der Speck die "Bauerndevise", notiert Roman Sandgruber. Die Lebensmittelbewirtschaftung wurde - nicht zuletzt dank der Auslandshilfe - ab den späten Vierzigerjahren schrittweise abgebaut. Erst acht Jahre nach dem Krieg konnte die Ernährung als gesichert angesehen werden. 1953 wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft.

Neben der Nahrungsmittelnot war die Wohnungsnot die ärgste Belastung für die Menschen. Etwa ein Zehntel aller Wohnungen in Österreich war ganz oder teilweise zerstört. Mehr als die Hälfte davon, nämlich 86.000, in Wien. Das war mehr, als in der Zwischenkriegszeit im "Roten Wien" aufgebaut worden war. Weitere 100.000 Wohnungen waren leicht beschädigt, aber durch Witterungseinflüsse unbewohnbar. Geheizt wurde nur ein Raum. Anleitungen zum Fensterbasteln erschienen in Zeitungen. Strom und Gas wurden nur stundenweise geliefert. Pro Tag gab es je nach Zahl der Personen im Haushalt zwischen einer und 2,5 Kilowattstunden und/oder rund einen Kubikmeter Gas. Verbrauchsüberschreitungen wurden mit tageweisen Liefersperren geahndet.

Es herrschte Trümmerwirtschaft. Schutt wurde nach brauchbarem Baustoff durchsucht, eingestürzte Dachbalken wurden zersägt und verheizt. Schutt wurde nicht weggeräumt, sondern genutzt. Mit Fallschirmseide, Uniformen, Reifengarnen, Gasmasken oder Stahlhelmen ließen sich brauchbare Sachen herstellen: Kochtöpfe, Wintermäntel, Siebe oder Hochzeitskleider.

Vieles, was zum Überleben und zum Wiederaufbau beigetragen hat, ist von den Nazis direkt übernommen worden, weniger aus Nostalgie, sondern weil es zweckmäßig war. So die amtliche Verteilung von Lebensmitteln. Lohnverhandlungen wurden nach den Lohntabellen der "Deutschen Arbeitsfront" geführt. Steuerrecht, Handelsrecht oder Kreditwesen blieben durch das Rechts-Überleitungsgesetz von 1945 bestehen.

Bereits der "Anschluss" 1938 hatte nachhaltige Veränderungen mit sich gebracht: Die geografische Westorientierung der österreichischen Wirtschaft hin zu Deutschland, einschließlich Außenhandel, gehört dazu. Die Zahl der Industriebetriebe in Oberösterreich etwa hat sich zwischen 1937 und 1946 auf 1100 nahezu verdoppelt. Während des Krieges und kurz danach haben viele Unternehmer vor den vorrückenden Russen ihre Betriebe aus dem Osten nach Westen verlegt oder hier neu gegründet. Dazu kommen die großen Investitionsprojekte der Nazis, von Kaprun über die Ennskraftwerke, die Hermann-Göring-Werke (die spätere VOEST) bis zu den Aluminiumwerken Ranshofen und der Chemiefaser Lenzing. Die Entnazifizierung war lückenhaft: Während 28 Prozent der Betroffenen 1945 ihren Job wechseln oder aufgeben mussten, waren es nur fünf Prozent der Selbstständigen. Wie Roman Sandgruber anmerkt, bot Eigentum einen gewissen Schutz vor politischer Säuberung.

Krieg und Fortschritt

Nicht nur in der Wirtschaftsstruktur, auch in der Mentalität hat sich - verglichen mit der Vorkriegszeit - einiges geändert: Zwar konnte Österreich nach dem "Anschluss" nur kurz, bis zum Kriegsausbruch, von der von den Nazis vorangetriebenen Rüstungskonjunktur profitieren, aber im Bewusstsein der Menschen hat die Machbarkeit eines Wirtschaftsaufschwungs den Krieg überdauert. "Technischer Fortschritt" war Teil der Nazi-Ideologie. Und der Krieg selbst bedeutete durch die modernen Waffen einen gewaltigen technischen Lernprozess, der für den Wiederaufbau eine günstige Voraussetzung schuf, meinen Historiker.

Obwohl noch Hunderttausende Männer in Kriegsgefangenschaft waren und trotz der durch Hunger und Schwäche verminderten Arbeitsfähigkeit der Menschen gelang der Wiederaufbau rasant. Bereits im Herbst 1945 wurde der Schilling wieder österreichische Währung. Die Zahl der Beschäftigten stieg im ersten Nachkriegsjahr um 21 Prozent auf 1,76 Millionen, im Jahr darauf um weitere acht Prozent auf 1,9 Millionen, um dann bis 1951 weiter ständig zuzunehmen. Das Wirtschaftswachstum lag 1946 bei 10,3 Prozent, explodierte dann geradezu auf fast 27 Prozent und blieb bis 1951 stets deutlich über der 10-Prozent-Marke, hält der Wirtschaftsforscher Felix Butschek fest. 1952 hatte sich das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 1946 verdoppelt.

Dabei darf die triste Ausgangslage nicht übersehen werden: Bei Kriegsende war die Wirtschaftsleistung nicht einmal halb so groß wie 1937. Zahlreiche Betriebe, vor allem Investitionen der Nazis, waren praktisch "herrenlos". Um dem Zugriff durch die Besatzungsmächte zuvorzukommen und um möglichst schnell eine industrielle Basis für den Wiederaufbau zu schaffen, wurden 1946 und 1947 viele Industriebetriebe und Elektrizitätswerke verstaatlicht oder anderweitig in öffentliches Eigentum übertragen.

Österreich zerfiel in einen durch die Besatzungsmächte begünstigten Westen - und einen benachteiligten, sowjetisch besetzten Osten. Die Russen wollten vor allem Reparationen und demontierten in der Sowjetzone den Maschinenpark empfindlich.

Die größte Schubkraft für den Wiederaufbau kam 1948 von der Marshallplanhilfe, dem European Recovery Program (ERP). Mit einer Milliarde Dollar bekam Österreich pro Kopf die zweithöchste Zuteilung nach Norwegen. Etwa 60 Prozent der Mittel flossen in die Verstaatlichte Industrie, in die Elektrizitätswirtschaft und in die Eisenbahn. Davon profitierte fast ausschließlich der Westen Österreichs. Trotzdem: Der Aufschwung konnte beginnen.

Die berühmte Rede Leopold Figls ist heute nicht mehr im Originalton von 1945 zu hören. Sie wurde 1965 (auf Initiative des ORF-Intendanten Ernst Wolfram Marboe) nachträglich auf Band aufgenommen. Auch dies kann als Zeichen gelten: Die Stunde Null ist nicht ganz so gewesen, wie sie heute gern gesehen wird. Sie ist aber zu einem guten Ende geraten. Also stimmt doch alles - nur nicht so ganz.

Literaturhinweise:Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte. Ueberreuter, Wien 2005.Ulla Kurz: Die Situation der Frau in der Nachkriegszeit. Diplomarbeit, Wien 1991.Felix Butschek: Die österr. Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/Wien 1985.

Herbert Hutar ist Wirtschafts- publizist und Historiker; ehemaliger Leiter der Ö1-Sendung "Saldo", nunmehr als freier Journalist tätig.