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Verräterische Papillarlinien

Von Ulrich Zander

Reflexionen

Vor mehr als 150 Jahren wurde erstmals die Bedeutung von Fingerabdrücken für die Identifizierung von Personen erkannt. Mittlerweile hat die "Daktyloskopie" viele Täter überführt.


Am Abend des 29. Juni 1892 stürzt die 26-jährige Gelegenheitsarbeiterin Francisca Rojas schreiend aus ihrer Hütte in Necochea, einem Dorf an der argentinischen Atlantikküste: "Meine Kinder . . . o Gott, die Kinder!" Der sechsjährige Bub und das vierjährige Mädchen der alleinerziehenden Mutter liegen erschlagen in ihrem Blut. Die Polizei verhaftet einen Farmarbeiter, der Francisca sexuell bedrängte.

"Wenn sie ihn nicht erhöre", so hat er ihrer Aussage gemäß gedroht, "wolle er ihr das Liebste nehmen, was sie besitzt." Polizeiinspektor Alvarez aus La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, übernimmt die Untersuchung und stellt fest, dass der Verdächtige ein Alibi besitzt. Alvarez ist mit seinem Latein am Ende, als ein Sonnenstrahl auf einen blutigen Daumenabdruck an der Schlafkammertür fällt. Der Ermittler sägt das Stück heraus, nimmt die Abdrücke der Dorfbewohner - und bald ist klar: Francisca Rojas ist die Mörderin. Sie gesteht. Tatmotiv war ihr Liebhaber, dem die Kinder lästig waren.

Die ersten Fälle

Erstmals in der Kriminalgeschichte wurde ein Kapitalverbrechen durch einen Fingerabdruck am Tatort aufgeklärt. Das war möglich geworden, weil Inspektor Alvarez und Juan Vucetich, Verwaltungsangestellter der Polizei von La Plata, unter einem Dach arbeiteten. Vucetich hatte den Auftrag, ein Büro für anthropometrische Messungen einzurichten. Das galt damals als einzige Methode, Verbrecher, vor allem Rückfalltäter, zweifelsfrei zu identifizieren. Das System hatte der Leiter des Pariser Erkennungsdienstes, Alphonse Bertillon, entwickelt. Es beruhte auf der exakten Feststellung und Archivierung ausgesuchter menschlicher Körpermaße. Die Bertillonage hatte die Welt erobert, erwies sich aber auch als umständlich und fehlerhaft.

Vucetich dagegen wusste um die Einzigartigkeit menschlicher Fingerabdrücke - und erkannte deren Wert für die Kriminalistik. Er studierte die "Papillarlinien", jene feinen Linien, Schleifen und Bögen auf den Fingerkuppen - und begann Abdrücke zu sammeln. Seine neue Leidenschaft nannte er Daktyloskopie - von griechisch Daktylos = Finger, und scopein = schauen. Trotz des bahnbrechenden Erfolges von Necochea lehnten Vucetichs Vorgesetzte die Daktyloskopie ab. Doch nach und nach konnte er weitere Mörder durch Fingerabdrücke überführen und Selbstmörder identifizieren. Im Juni 1896 war der Bann gebrochen: die Provinzpolizei Buenos Aires schaffte die Anthropometrie ab und führte die Daktyloskopie ein. Bald darauf folgte als weltweit erstes Land ganz Argentinien. Und bis 1908 die anderen Staaten Südamerikas.

Im Jahre 1916 beabsichtigte Vucetich, die gesamte Bevölkerung Argentiniens via Fingerabdruck zu erfassen. Die Regierung war begeistert, doch das Volk lehnte es ab, sich "wie Verbrecher" registrieren zu lassen. Daraufhin fiel Vucetich in Ungnade und starb arm und verbittert. Heute trägt jedes argentinische Personaldokument den Daumenabdruck seines Besitzers.

Begonnen hatte die Erfolgsgeschichte der Daktyloskopie allerdings an einem anderen Ende der Welt. Am 28. Juli 1858 wollte der Engländer William James Herschel, Verwaltungsbeamter der indischen Provinz Hoogly, unbedingt sicherstellen, dass sein Geschäftspartner, ein Lieferant für Straßenbaumaterial, einen anstehenden Vertrag erfüllte. Herschel misstraute dessen Zuverlässigkeit und nötigte ihn, neben der Unterschrift auch die Fingerabdrücke seiner rechten Hand unter einen Kontrakt zu setzen. Er wollte auf diese Weise erreichen, dass sich der Inder stärker an die Einhaltung des Vertrages gebunden fühlte. Alles ging gut und Herschel war fortan den Fingerabdrücken verfallen. Schon zuvor hatte er Abertausende davon gesammelt und als erster moderner Mensch den praktischen Wert der einzigartigen und unveränderlichen Fingerabdrücke bei der Identifizierung erkannt.

"Unsterbliche" Inder

Mit Hilfe der Daktyloskopie bekam Herschel auch das Phänomen der "unsterblichen indischen Pensionisten" in den Griff. Soldaten, die im Dienste Großbritanniens gestanden hatten, holten sich ihre Pensionszahlungen gerne doppelt und dreifach ab, indem sie schlicht behaupteten, das Geld noch nicht erhalten zu haben. Das war möglich, weil die Männer für europäische Augen angeblich "alle gleich" aussahen und oft dieselben Namen trugen. Gern wurden die Renten auch von Freunden oder Verwandten wiederholt kassiert. Herschel machte Schluss mit diesen Betrügereien, indem er sich Fingerabdrücke sowohl auf die Liste der Pensionisten als auch auf die Empfangsquittungen setzen ließ. So fand die wundersame Langlebigkeit der bengalischen Soldaten ein jähes Ende und Herschel widmete sich wieder seinen Verwaltungsaufgaben.

Auch der als Missionsarzt in Tokio tätige Schotte Henry Faulds war von den charakteristischen Linien fasziniert. Er schrieb in der englischen Zeitschrift "Nature": "Wenn blutige Fingerspuren oder Eindrücke an Ton, Glas und so weiter vorhanden sind, kann dadurch die wissenschaftliche Feststellung des Täters herbeigeführt werden." Er wies auch auf die mögliche Entlastung von Verdächtigen hin. Faulds gebührt das Verdienst, den ersten "Kriminalfall" der Geschichte mit Hilfe eines Fingerabdruckes gelöst zu haben: Ein Lakai hatte sich an seiner Likörflasche bedient . . .

Angeregt durch Faulds’ Veröffentlichung wandte sich der englische Naturforscher Sir Francis Galton im Jahre 1888 dem Stu- dium der Daktyloskopie zu und wies 1892 in seinem Buch "Fingerprints" die Unveränderlichkeit der individuellen Papillarlinien während des gesamten Lebens nach. Galton errechnete, dass die Wahrscheinlichkeit, zwei Menschen mit den gleichen Fingerabdrücken anzutreffen, bei 1:64 Milliarden lag. Dennoch zeigte sich Scotland Yard desinteressiert, zumal es kein brauchbares System gab, einen gespeicherten Abdruck aus einer Menge von Abdrücken wieder zu finden.

Der Durchbruch im Rennen um ein funktionierendes Suchsystem gelang im Jahre 1896 Edward Richard Henry, dem Generalinspekteur der Polizei der britisch-indischen Provinz Bengalen. Er entwickelte nach einem Geistesblitz die Grundzüge für ein umfassendes Klassifizierungssystem des Fingerabdrucks. Es basiert im Wesentlichen auf vier Grundmustern: Sogenannte Schlingen dominieren den Fingerabdruck zu 60 Prozent, Wirbelmuster zu 35 und Bogenmuster zu fünf Prozent. Diese Hauptmuster werden in Untermuster eingeteilt, zum Beispiel einfache Wirbel, die wiederum in Kreise, Ellipsen, Spiralen und allerlei andere Formen eingeteilt werden. Für all die Punkte, Muster und Untermuster steht eine Ziffer. Die Ziffern zusammen ergeben eine Formel, unter der die Fingerabdrücke abgelegt und problemlos wieder gefunden werden können.

Henry hatte es inzwischen zum Stellvertretenden Polizeipräsidenten von London gebracht - und damit war der Weg für die neue Methode frei. Am 21. Juli 1901 ersetzte er in England die Anthropometrie kurzerhand durch die Daktyloskopie. 1903 folgten auf dem Kontinent das Königreich Sachsen, Österreich-Ungarn und die Städte Hamburg, Berlin, Nürnberg und Augsburg. Im Jahre 1905 wurden in London zwei Raubmörder aufgrund eines am Tatort hinterlassenen Abdruckes verurteilt und gehängt. Die beiden Brüder hatten sich, als man ihre Finger auf das Stempelkissen drückte, noch königlich amüsiert.

Im selben Jahr verwendete das berüchtigte Gefängnis "Sing Sing" im Staate New York Fingerprints zur Identifizierung seiner Klientel. Im Jahr darauf folgten die Polizei von St. Louis und das US-Militär. 1911 konnte erstmals in den Vereinigten Staaten ein Verbrecher aufgrund seiner Fingerabdrücke überführt werden. Während der Hoch-Zeit des amerikanischen Gangstertums wurde die Fingerabdruck-Forschung um ungeahnte Erkenntnisse bereichert.

So schnitten, ätzten, brannten sich etliche bereits polizeilich registrierte Berufsverbrecher die Linien von den Fingerkuppen - oder ließen sie operativ entfernen oder verändern. Es hat alles nichts genützt. Nach einiger Zeit wuchsen die alten Muster wieder nach.

Lediglich Frankreich, beziehungsweise der mittlerweile in den Rang eines Nationalheiligen emporgestiegene Bertillon sträubte sich vehement gegen die Abschaffung des veralteten Systems. Als im Jahre 1911 der Italiener Vincenzo Perugia die "Mona Lisa" aus dem Louvre stahl, hätte der Raub anhand der am Tatort zurückgelassenen Fingerabdrücke problemlos aufgeklärt werden können. Und der als Täter verdächtigte Pablo Picasso hätte sich viel Ärger erspart. Perugia war wegen zahlreicher Straftaten Polizei-bekannt und beim Pariser Erkennungsdienst registriert - allerdings unter dem anthropome-trischen System. Und das versagte. Perugia konnte erst 1913 festgenommen werden, als er das berühmte Gemälde einem Kunsthändler zum Kauf anbot.

Räuberisches Äffchen

Im Jahr darauf starb Bertillon und die Anthropometrie wurde fallengelassen. So konnte einer der ungewöhnlichsten Kriminalfälle mit Hilfe der Daktyloskopie im Mutterland der Bertillonage gelöst werden: In Lyon waren aus Räumen mit offenstehenden Fenstern immer wieder Uhren, Schmuck, Besteck und die Gebissprothese einer alten Dame gestohlen worden. Fingerabdrücke des Täters wurden sichergestellt - und boten ein erstaunliches Bild: Alle Linien verliefen vertikal. Der Übeltäter konnte nur ein Affe gewesen sein. Nach und nach nahm man den Lyoner Vertretern dieser Spezies die Fingerabdrücke ab, was in den Räumen des Erkennungsdienstes zu erheblichen Verwüstungen führte. Ein kleiner Affe, Maskottchen eines italienischen Straßenmusikanten, war vom Herrchen zum Diebstahl glänzender Dinge abgerichtet worden. Der Mann kam ins Gefängnis, das Tier in den Zoo.

Auch heute noch, da es den "genetischen Fingerabdruck", also das aus menschlichen Zellen gewonnene DNS-Profil gibt, ist der Fingerabdruck mit seinen über 40 Merkmalen als unveränderliches, einmaliges und individuelles Merkmal für die kriminalistische Arbeit unverzichtbar. Im Wiesbadener Bundeskriminalamt (BKA) sind zurzeit 2,8 Millionen Fingerabdruckblätter, 1,9 Millionen Handflächenabdrucke und 400.000 nicht zuordenbare Spuren registriert. Fingerabdrücke werden in Windeseile über Scanner in das Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungs-System (AFIS) eingelesen und mit Fingerabdruckspuren abgeglichen. Monatlich werden dem BKA rund 29.000 Blätter zur Auswertung übersandt.

Seit 2007 in Deutschland und 2009 in Österreich enthalten alle neu ausgestellten Reisepässe in einem Chip gespeicherte Fingerabdrücke. Es gab auch Widerstand dagegen - genau wie damals im Fall des armen Juan Vucetich . . .

Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf historische, insbesondere kriminalhistorische Themen.