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Straße der Widersprüche

Von Sándor Békési

Reflexionen
Mariahilfer Straße zwischen Gerngross und Herzmansky, um 1902.

Die Mariahilfer Straße wird im Rückblick gern als großstädtischer Boulevard, als Inbegriff gründerzeitlicher Modernität dargestellt. Doch dieser Straßenzug war nie ein einheitliches Gebilde.


Ein häufiges Missverständnis über die Mariahilfer Straße besagt, sie sei als Bahnhofstraße konzipiert worden. Die innere Mariahilfer Straße gehört aber zu jenen traditionellen Ausfallsstraßen, die nach Errichtung der großen Kopfbahnhöfe nolens volens auch die Rolle einer Bahnhofstraße übernahmen. Die klassische Raumfigur einer zwischen Zentrum und Bahnhof eigens errichteten repräsentativen Straße fehlt im Wiener Stadtgefüge. Der Bahnhof kam hier zur Straße - und nicht umgekehrt.

Der Bahnhof der Kaiserin Elisabeth-Westbahn wurde Ende der 1850er Jahre noch außerhalb des Linienwalls errichtet. Das heißt, um zu ihm zu gelangen, hatte man bis 1890 das Linientor zu passieren - und gegebenenfalls mit Kontrollen zu rechnen. Zudem ließ die erste Direktverbindung des Westbahnhofs mit der Innenstadt rund zwei Jahrzehnte nach Einführung der Tramway in Wien, bis 1885, auf sich warten. Bis dahin musste die enge Passage zwischen Lastenstraße (heute Zweierlinie) und Stiftgasse großräumig über die Burggasse umfahren werden.

Doch die Stadtmorphologie wirkte den Boulevard-Bestrebungen weiter entgegen. Auf der Steigung in diesem Abschnitt benötigte die Pferdeeisenbahn einen zusätzlichen Vorspann - ein Umstand, der somit für zwei Unterbrechungen und längere Wartezeiten sorgte. Die Mariahilfer Straße ist also nicht nur eine "Bahnhofstraße", in der man den Bahnhof gar nicht sieht, sondern auch eine, auf der man den Bahnhof lange Zeit nur mühsam erreichte.

Eine deutliche Beschleunigung brachte 1901 die Elektrifizierung der Straßenbahn. Diese erfolgte, ähnlich wie die auf der Ringstraße, mittels Unterleitungen, um das Stadtbild zu schonen. Dies hatte aber weniger mit der Repräsentativität dieses Straßenzuges zu tun, sondern eher mit den regelmäßigen Fahrten des Hofes nach Schönbrunn. Der Kaiser soll die durch Oberleitungen "verunstalteten" Straßen nicht besonders geschätzt haben.

Blühender Handel

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es entlang der Mariahilfer Straße in der Tat zu einem deutlichen Aufschwung des Hotel- und Gastgewerbes sowie des Einzelhandels. Dabei waren selbst die beiden größten hiesigen Kaufhäuser, Gerngross und Herzmansky, in erster Linie Textilgeschäfte und hatten bei weitem nicht die Ausdehnung und das umfassende Warensortiment der riesigen Warenhäuser in Städten wie Paris oder Berlin. Dennoch kam es zu einem Zuwachs an Bedeutung und Verkehr. Er lässt sich allerdings nur zum Teil auf den Bahnhofstraßeneffekt zurückführen. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte ja der Westbahnhof nicht zu den wichtigsten Bahnhöfen der Stadt. Vielmehr machten der angrenzende Bekleidungsgewerbe-Cluster und die zunehmende Kaufkraft im ehemaligen Vorstadtgürtel die Mariahilfer Straße zur "Ausstellungsstraße" des Handels. Wie der Wirtschafts- und Stadthistoriker Gerhard Meißl betont, war hier die mittelständische, kleinstrukturierte - und scheinbar antiurbane Betriebsstruktur auf großstädtische Weise wirksam geworden. Relikte dieser ausgedehnten Wiener Hinterhofindustrie sind noch in der Schulhof-Passage oder im Durchhaus Raimundhof sichtbar und mögen den Eindruck erwecken, dass die Zeit quasi still steht.

Um 1900 galt die Mariahilfer Straße bereits als die größte Geschäftsstraße Wiens, in der man Zeitungsberichten zufolge "immer den Pulsschlag der Zeit fühlt, in der man gedrängt und geschoben wird, wenn man nicht selbst drängt oder schiebt", und wo man das Gefühl hat: "Hier sind wir Großstadt".

Bauliche Gegensätze

Trotz dieser Entwicklung zum Mondänen und Urbanen bewahrte die Mariahilfer Straße auch nach der Jahrhundertwende noch ihren teilweise vorstädtischen Charakter. So war sie von großen baulichen Gegensätzen geprägt: An der Grenze zwischen Mariahilf und Neubau wechselte sich moderne großstädtische Architektur mit Alt-Wiener Häusern ab. Die zunehmende Glitzerwelt der Warenhäuser spiegelte sich nur selten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Herzmansky und Gerngross überdauerten nicht wenige vormoderne Wohnhäuser mit ihren bloß zwei, drei Stockwerken auf bemerkenswerte Weise die Gründerzeit.

Die Mariahilfer Straße wurde nicht auf einmal planmäßig und noch weniger nach Pariser Beispiel als ein Boulevard umgestaltet. Vielmehr war auch hier die Wiener Praxis der bloß allmählichen Verbreiterung bestehender Straßenzüge beim jeweiligen Umbau der Häuser am Werk.

Auch Max Winter, der in einem ausführlichen Bericht in der "Arbeiterzeitung" 1903 die Mariahilfer Straße als einen geradezu paradigmatischen Ort moderner Dynamik und kapitalistischer Warenzirkulation darstellt, geprägt von Lärmen und Hasten, von Stoßen und Drängen, von grellem Lichterglanz und schreiender Reklame, wähnte sich hier gleichzeitig "in das älteste Wien" versetzt.

Er wunderte sich über die "Seltsamkeiten dieser Straße" und fragte sich: "Die teure Mariahilferstraße, wo jeder Klafter Grund ein kleines Vermögen kostet, wie ist es doch möglich, dass sie noch für so und so viele alte und älteste Häuschen Raum hat, dass diese steinernen Greise noch nicht von ihren mächtig anstrebenden Nachbarn erdrückt wurden?" So erhoben sich die beiden eleganten Großkaufhäuser lange Zeit weit über ihre deutlich niedrigeren und bescheideneren Nachbarbauten. Vis-à-vis vom Gerngross bildet bis heute das Haus "Zum großen Blumenstock" aus dem 18. Jahrhundert einen auffallenden Kontrast. Um 1900 wirkte es insofern moderner als heute, da es - wie damals nicht unüblich - reich mit Werbeschildern behängt war.

Der Kontrast zum "Glanz und Pflanz" (Winter) war jedoch nicht nur architektonischer Natur. Kaum verließ man die bürgerliche Einkaufsmeile über die Königsklostergasse, die bis 1887 Bettlerstiege hieß, so gelangte man nach wenigen Schritten gleichsam in eine andere Welt, ins noch nicht regulierte Geviert zwischen der heutigen Pfauengasse und der Theobaldgasse. Dort befand sich nicht einmal hundert Meter vom noblen Warenhaus E. Esders (heute Leiner) entfernt eine der schäbigsten Häuserzeilen Wiens.

Sie hatte man selbst in Lenobels ansonsten peniblem Häuserverzeichnis diskret ausgelassen. Um wieder den sozialkritischen Journalisten und Stadtreporter Max Winter zu zitieren: "Da kann man an jede Tür anklopfen und überall wird einem das nackte Elend öffnen. Lange, schmale Höfe, Wohnung an Wohnung, finstere Küchen, dumpfe, kleine Zimmer daran, überall Kinder in Fülle, viere hat die eine, gar ihrer fünf die Nachbarin . . ."

"Magyarhilfer Straße"

Kommen wir nun in einem großen Sprung der Gegenwart näher, auch wenn wir zunächst beim Thema ökonomischer Ungleichheit bleiben: Die Konkurrenz der neuen Einkaufszentren, der Bevölkerungs- und Gewerberückgang in den angrenzenden Bezirken führte ab den späten 1970er Jahren zu einer wirtschaftlichen Schwächung der Mariahilfer Straße. Dieser Prozess wurde durch den Bau der U-Bahn ab Mitte der 1980er Jahre noch verstärkt. Das war zugleich die Hochzeit des ungarischen Einkaufstourismus in Wien, der seitdem im kollektiven Gedächtnis diese Krise markiert.

Doch die Rolle dieses Handels im niedrigeren Preissegment scheint vielmehr ambivalent gewesen zu sein: Zum einen half er, die baustellenbedingten Umsatzverluste teilweise auszugleichen. Auf der anderen Seite sorgte er für einen Image-Verlust, von dem sich die Mariahilfer Straße nur langsam erholte. Wie Gottfried Pirhofer in seiner vor wenigen Jahren erschienenen Studie über die Mariahilfer Straße anmerkte, war es gerade die traditionelle Mischung aus Groß- und Kleinhandelskapital, die diesmal das zeitweilige Nebeneinander von Großkaufhäusern und "Ramschgeschäften" ermöglichte.

Damals gehörte die Mariahilfer Straße zu jenen Orten in Wien, an denen der Ostblock am deutlichsten zu sehen und zu hören war. Nicht weniger als rund hundert Läden haben sich entlang der Mariahilfer Straße und in den Nebengassen auf die ungarische Kundschaft spezialisiert. Die Reisebusse aus dem östlichen Nachbarland entließen ihre kauflustigen Insassen in der Babenbergerstraße, wo man damals noch parken konnte. Von sogenannten Schleppern wurden sie zielsicher zu "Marika" oder "Radio Budapest" gelotst. Man suchte vor allem günstige Elektrogeräte und Computer, Uhren und Schmuck, Kosmetika und Bekleidung. Dies, um die Mängel der realsozialistischen Wirtschaft auszugleichen, aber auch um neue, westlich orientierte Konsumwünsche zu befriedigen.

Doch die "Magyarhilfer Straße", wie sie im Volksmund zuweilen hieß, nützte nicht nur den meist ungarischstämmigen Geschäftsleuten. Niedermeyer, Herlango und Co. profitierten ebenso vom kurzfristigen "Bombengeschäft". Selbst bei Gerngross trugen die ungarischen Kunden mit bis zu zehn Prozent zum Umsatz bei. Als im April 1989 die Devisenbestimmungen in Ungarn verschärft wurden und die ungarischen Einkaufstouristen plötzlich ausblieben, soll die Gegend um die Mariahilfer Straße wie eine Geisterstadt gewirkt haben. Die "Geschäftsleute sind völlig desperat", schrieb die "Wochenpresse".

Neugestaltungen

Nach der Neugestaltung mit breiteren Gehsteigen und der Eröffnung der U-Bahn 1993 wurde die Straße wieder schick - und zugleich andersherum anachronistisch: Denn man hatte auf die Straßenbahn verzichtet, also jenes öffentliche Verkehrsmittel, das in den Städten weltweit eine Renaissance feierte und mit seinen kurzen Haltestellenabständen gerade in einer Einkaufsstraße durchaus Sinn gemacht hätte; aber auch auf jede Art von Radweg oder Radstreifen.

Vor allem Letzteres ist eine bemerkenswerte Unterlassung der damaligen Wiener Verkehrsplanung - oder besser: Verkehrspolitik bei einer zentralen Radialverbindung der Stadt. Mitte der 1980er Jahre hatte es ja noch planerische Überlegungen für die Einbeziehung eines Radweges in die neue Mariahilfer Straße gegeben. Apropos: Gleichzeitig hatte man die Errichtung einer Fußgängerzone in einem Teilbereich (zwischen Stiftgasse und Andreasgasse) als nachteilig für einen einheitlichen, durchgehenden Straßenraum eines "Boulevards" beurteilt.

Damit sind wir bereits in der unmittelbaren Gegenwart angekommen, in der nun ein eigenartiger Mix aus unterschiedlichen Arten der Verkehrsberuhigung den Straßenzug in drei Abschnitte aufteilt. Ganz klar: Fußgängerzone und Begegnungszone stellen eine eindeutige Verbesserung im Sinne einer umwelt- und sozialverträglichen Mobilität dar. Weniger klar ist, welche Rolle diese große Verkehrsachse als Transitraum der Stadt neben ihrer Funktion als Zielort überhaupt noch spielen wird, und sei es auch nur für Radfahrende. Ein kaum zu lösender Interessenskonflikt? So aber lebt die Tradition der Disparitäten auf der "MaHü" vorerst weiter.

Sándor Békési, geboren 1962 in Budapest, Historiker und Geograph, arbeitet als Kurator im Wien Museum (Departement Topographie und Stadtentwicklung).