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Die geistige Essenz des Nichtstuns

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Von Aristoteles’ "Vita Contemplativa" bis zur "Tunix- Bewegung", reicht die philosophische Nobilitierung des ruhigen, besinnlichen Lebens. Materialien zur Kulturgeschichte der Muße.


"Was soll das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand? - Nur mit Gelassenheit und Sanftmut in der heiligen Stille der Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern".

So beschreibt Julius, der Protagonist von Friedrich Schlegels Roman "Lucinde", "die gottähnliche Kunst der Muße". Im kontemplativen Zustand der Muße erfolgt das Zu-sich-Kommen des Menschen, der - ungefragt in die Welt geworfen - durch eine permanente Abfolge von Disziplinierungen zu einem funktionierenden Rädchen der Gesellschaftsmaschinerie wird, die durch Lohnarbeit in Gang gehalten wird. Das trifft besonders auf die zeitgenössische Gesellschaft der fortgeschrittenen Industrieländer zu; sie kann wenig mit Muße anfangen. Der Leistungsträger, der das Bruttonationalprodukt steigern soll, empfindet Muße als Zeitvergeudung.

Denken mit der Uhr

Diese Einsicht nahm Friedrich Nietzsche bereits in seiner Schrift "Die fröhliche Wissenschaft" vorweg: "Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, - man lebt, wie Einer, der fortwährend Etwas versäumen könnte". Das ständige Bestreben nach unbegrenztem Wirtschaftswachstum erfordert von den Individuen einen bedingungslosen Einsatz, in dem die Muße kaum einen Stellenwert einnimmt. Muße wird mit Nichtstun, sogar mit Faulsein gleichgesetzt - und als Störfaktor des Produktivitäts-Furors betrachtet.

Dazu kommt noch die Beschleunigung in verschiedenen Bereichen der Arbeitswelt, die durch die explosionsartige Entwicklung der elektronischen Medien verstärkt wurde. So berichtet die südkoreanische Medientheoretikerin Kim Eun-mee von dem Beschleunigungsdruck, der in der südkoreanischen Gesellschaft vorherrscht. Er sei antrainiert worden, um die Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen. Die Medientheoretikerin bringt auch die Kehrseite der Beschleunigung um jeden Preis auf den Punkt: "Wir haben verlernt, uns Zeit für uns selbst zu nehmen".

Als übermächtiger Gegenspieler der Muße fungierte die Arbeit, die speziell seit der "Industriellen Revolution" im 19. Jahrhundert als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet wurde. Die Arbeit - gleichsam der Fetisch sowohl der kapitalistischen als auch der sozialistischen Ideologien - galt als höchstes Gut, das nicht hinterfragt werden durfte. Die Devise "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" war die Parole, die sich explizit gegen diejenigen richtete, die sich der Muße hingaben. Auf der Strecke blieben dabei elementare Bedürfnisse des Menschen, die mit dem Wunsch nach einem sinnvollen, selbstbestimmten Leben zu tun haben.

Schon früh regte sich Widerstand gegen die Verabsolutierung der Arbeit, die sich heute - im Zeitalter der flexiblen Arbeitnehmer, die ständig abrufbar sind - noch verstärkt hat. Der Radikalsozialist Paul Lafargue - Schwiegersohn von Karl Marx - veröffentlichte 1883 das Pamphlet "Recht auf Faulheit", in dem er "den sonderbaren Wahnsinn" der Arbeitssucht mit satirischen Mitteln attackierte. "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht", schrieb Lafargue, "diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende Arbeitssucht, getrieben bis zur Erschöpfung der Lebensenergie des Einzelnen und seiner Nachkommen".

Oberfaulpelz Oblomov

In seinem Manifest propagierte Lafargue das Recht auf Faulheit, das auch in den Schriften anarchistischer Theoretiker wie Michail Bakunin auftaucht. Diese Forderung wurde auch von den Protagonisten der 1968er Studentenrevolte erhoben; und sie tauchte in der "Tunix-Bewegung" auf, die der französische Philosoph Michel Foucault unterstützte, und setzte sich bis zu den "Glücklichen Arbeitslosen" fort. Karl Marx zeigte wenig Verständnis für das Plädoyer seines Schwiegersohns, war und ist doch die Faulheit das am meisten geächtete Laster der kapitalistischen Gesellschaft, wie der verstorbene Literaturwissenschafter Gert Mattenklott in seinem Buch "Blindgänger. Physiognomische Essais" anmerkte. Dementsprechend fiel die Reak- tion von Marx aus: Er beschimpfte Lafargue als "Kreolenschädel" und drohte, ihn "an die Luft zu setzen".

Das Musterbeispiel für eine völlige Verweigerung jeglicher Tätigkeit ist der Antiheld des Romans "Oblomov", den der russische Schriftsteller Iwan Gontscharow verfasste. Die Titelfigur Oblomov ist - auf dem Sofa liegend - hauptsächlich damit beschäftigt, sich jeder Tätigkeit zu enthalten - oder sie aufzuschieben. Das Zentrum seines Lebens, das durch die materielle Sicherheit eines Landbesitzes abgesichert ist, stellt der Mittagsschlaf dar, der nahtlos in Tagträumereien übergeht: "Er hatte sich gleich nach dem Aufwachen vorgenommen aufzustehen, sich zu waschen und nach dem Teetrinken ordentlich nachzudenken", heißt es im Roman, "etwa eine halbe Stunde lang lag er da und quälte sich mit diesem Vorsatze ab; dann aber sagte er sich, dass er auch noch nach dem Tee Zeit haben werde".

Ein ähnlicher Verweigerungs-Künstler findet sich in Eugène Ionescos Roman "Der Spaziergänger". Dort fällt dem Protagonisten eine Erbschaft zu, die es ihm ermöglicht, seinen Beruf aufzugeben und sich von der Außenwelt zurückzuziehen. Er begnügt sich mit der Rolle eines passiven Betrachters, der sich seinen Gedanken und Träumereien überlässt. "Es gibt Freuden, wenn man abseits bleibt und nichts tut als schauen", bekennt der Ich-Erzähler, "ich fühlte mich dabei sehr wohl". Menschen interessieren ihn kaum; sie dienen ihm bloß als Marionetten, seine Bedürfnisse zu befriedigen. "Ich wüsste nicht, was ich zu anderen zu sagen hätte", bekennt der Protagonist, "und was andere sagen, interessiert mich auch nicht. Zwischen ihnen und mir war etwas wie eine unsichtbare Wand".

Ähnlich ergeht es dem Erzähler C. in dem Roman "Der Müßiggänger" des türkischen Autors Yusuf Atilgan. Auch er lebt von einer Erbschaft, flaniert durch die Straßen von Istanbul und begnügt sich ebenfalls mit belanglosen Beobachtungen des Alltagslebens. Das Desinteresse an der Mitwelt führt die beiden Erzähler in die völlige Isolation, die mit einer tiefgehenden Melancholie einhergeht. Die Verachtung des sozial integrierten Menschen schlägt in Verzweiflung um. "Warum kann ich nicht so sein wie ihr?" - fragt sich der Erzähler C., "bin ich der Einzige, der einsam ist?"

Muße als "geistige Tat"

Die Muße steht im Gegensatz zur Faulheit und zum Nichtstun; sie ist gleichsam deren nobilitierte Gestalt; "sie ist eine Zeit der Besinnung auf den metaphysischen Lebenssinn", notierte Gert Mattenklott, "sie ist geistige Tat". Die so verstandene Muße ermöglicht erst eine gediegene philosophische Reflexion, wie sie speziell von dem antiken griechischen Philosophen Aristoteles propagiert wurde. Er unterschied die "Praxis" - die gesamte Lebenstätigkeit des Menschen in allen Bereichen von der "vita contempla-tiva" - der philosophischen Reflexion. Die Praxis sei für das Alltagsleben bestimmend, meinte Aristoteles, die Kontemplation bewirke jedoch den Zustand der "Eudaimonia", der höchsten Glückseligkeit.

"Den Wesen, denen das Denken und die Betrachtung in höherem Grade zukommt, kommt auch die Glückseligkeit in höherem Grade zu, das seinen Wert und seine Würde in sich selbst hat", schrieb Aristoteles in der "Nikomachischen Ethik". Das Sein im Optimum der glücklichen Kontemplation kann sich nur einstellen, wenn man bereit ist, loszulassen, Abstand von den beruflichen Anforderungen zu gewinnen. Zur Muße gehört Gelassenheit; wer Muße hat, relativiert den Pflichtenkanon, der ihm auferlegt wird. Muße ist laut Aristoteles somit die Voraussetzung, über sein eigenes Leben nachzudenken.

Die Kontemplation wurde auch von Epikur, der im vierten Jahrhundert vor Christus lebte, sehr geschätzt. Er zelebrierte die "vita contemplativa" in seinem Garten, im "Kepos", in dem er mit ausgewählten Freunden über philosophische Probleme diskutierte. Am Eingang befand sich ein Schild mit der Aufschrift: "Tritt ein, Fremder! Ein freundlicher Gastgeber wartet dir auf mit Brot und mit Wasser im Überfluss, denn hier werden deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt." Die zwanglosen Unterhaltungen, an denen auch Frauen und Sklaven teilnahmen, kreisten um Themen wie "Was zeichnet ein gelungenes Leben aus?" oder "Wie kann der Einzelne zur Glückseligkeit gelangen?"

Spektakelgesellschaft

Das kontemplative Leben antiker Philosophen wird im Zeitalter des verwalteten Wissenschaftsbetriebs als anachronistisch em-pfunden. Ein Philosoph, der sich dem Publikationsdruck entziehen und nur mehr im kleinen Kreis philosophieren würde, hätte keinen Platz auf der Stufenleiter der Evaluierungen. Was zählt, ist der "öffentliche Intellektuelle", der unermüdlich Stellungnahmen und Einschätzungen zu diversen Themen abgibt und somit Teil der medialen Spektakelgesellschaft wird. Im radikalen Gegensatz dazu stehen diejenigen Philosophen und Schriftsteller, die sich wie Hans Blumenberg oder Ernst Jünger zurückzogen, um "ein Leben im Verborgenen" zu führen, das genügend Zeit für Muße ließ.

Muße ist die einzigartige Chance, sich dem gesellschaftlichen Effizienzdruck zu entziehen. Ihr subversives Potenzial liegt darin, kreative Erfahrungen zu machen, die das Leben der Individuen bereichern. Muße ist die sinnvoll verbrachte Zeit, in der wir keine Rolle spielen müssen und intensiv leben können. Es ist dies eine Form der Muße, die durchaus mit jenem Zustand korrespondiert, den Theodor W. Adorno in seinem Buch "Minima Moralia" beschrieben hat: "Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung könnte an die Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten".

Literaturhinweise:Gisela Dischner: Wörterbuch des Müßiggängers. Aisthesis Verlag, Edition Sirius, 2009, 330 Seiten, 25,50 Euro.Yusuf Atilgan: Der Müßiggänger. Roman. Aus dem Türkischen von Antje Bauer. Unionsverlag 2007, 256 Seiten, 19,90 Euro.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.