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Lust und Last des reichen Erbes

Von Jeannette Villachica

Reflexionen

Heuer hat das Europäische Hansemuseum in Lübeck eröffnet. Es vereint archäologische Ausgrabungen, auf die man während der Errichtung des Museums stieß, und Fakten zur Geschichte des Städtebundes.


Der Rundgang beginnt mit einer Irritation. Ein gläserner Fahrstuhl bringt uns hinunter ins mittelalterliche Lübeck: Eine Backsteinkloake aus dem 15. oder 16. Jahrhundert und Mauerreste, die bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen - alles in warmem Licht in Szene gesetzt. Diese und weitere archäologische Schätze wurden während der Bauarbeiten zum Europäischen Hansemuseum entdeckt, das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Ende Mai eröffnete. Das Museum soll die Welt des einflussreichen niederdeutschen Kaufmanns- und späteren Städtebunds als europäische Geschichte erlebbar machen. Nachdem die wertvollen Funde auftauchten, sollten sie in die Ausstellung integriert werden - keine leichte Aufgabe für die Architekten und Ausstellungsdesigner vom Studio Andreas Heller aus Hamburg. In der Ausstellung selbst erfährt man jedoch (bisher) nichts über diese Hintergründe, weshalb sich uns sofort die Frage aufdrängt: Was haben diese Mauerreste mit der Hanse zu tun, außer dass sie aus derselben Zeit stammen?

Vom 13. bis ins 16. Jahrhundert hinein waren die norddeutschen Hafenstädte Dreh- und Angelpunkt des Handels in Ost- und Nordsee, und Lübeck war ihr Zentrum. Lübeck hatte 1143 als erste deutsche Siedlung an der Ostsee die Stadtrechte erhalten, unterstand seit 1226 nur noch dem deutschen Kaiser und nutzte seine Autonomie und erste Handelsprivilegien, um sich recht schnell zum "Haupt der Hanse" hochzuschwingen. 200 Jahre nach der Gründung war Lübeck nach Köln bereits die zweitgrößte Stadt des Regnum Teutonicum. Von den Ufern des Flusses Trave aus, der rund 17 Kilometer von der Altstadt entfernt in die Ostsee mündet, entwickelte sich ein Verbund, dem zu seiner Blütezeit im 14./15. Jahrhundert rund 200 Städte angehörten, von Oslo und Riga, Visby auf Gotland, über Krakau und Köln bis nach Lissabon und Newcastle.

Idealer Standort

Insofern ist der Burghügel zwischen der Trave und der mittelalterlichen Lübecker Altstadt, die seit 1987 den Unesco-Weltkulturerbe Titel trägt, eigentlich der ideale Standort für ein Museum über die Hanse. Der trutzige Neubau fügt sich auch mit seiner Backsteinoptik gut in die Altstadt ein und ist dennoch ein Hingucker. Doch das reiche architektonische Erbe Lübecks erschwert die Konzentration auf das Thema der Ausstellung. Die archäologischen Ausgrabungen, aber auch die neuzeitlichen Spuren der bewegten Geschichte des angrenzenden Burgklosters, die die Ausstellungsmacher sichtbar gemacht haben, drängen sich für manchen Besucher, der gekommen ist, um etwas über die Hanse zu erfahren, zu sehr in den Vordergrund.

In den oberen Etagen des Burgklosters, einem wunderschön restaurierten ehemaligen Dominikanerkonvent aus dem 13. Jahrhundert, endet der komplexe Rundgang mit Vitrinen zur vielfältigen Rezeption der Hanse. Von dort hat man einen malerischen Blick über die Trave und den Hafen. Ein guter Ort, um die Ausstellung noch einmal Revue passieren zu lassen.

Der Hamburger Bühnenbildner und Architekt Andreas Heller hat mit seinem Team aus Architekten und Designern vor allem in Norddeutschland zahlreiche Neu- und Umbauten von Museen und kulturhistorische Ausstellungen konzipiert und realisiert. Unter anderem stammen das "Deutsche Auswandererhaus" in Bremerhaven und die Neugestaltung der Ausstellung im denkmalgeschützten Lübecker Buddenbrookhaus von ihm, ersteres 2007 mit dem European Museum of the Year Award und letzere 2002 mit dem Museumspreis des Europarates ausgezeichnet. Im Europäischen Hansemuseum geht sein Mix aus Inszenierung und leicht zugänglicher Information, unter anderem durch äußere Umstände bedingt, jedoch nicht recht auf.

Die facettenreiche Geschichte der Hanse wird, ausgehend von der Lübecker Stadtgeschichte, schlaglichtartig erzählt. Sie beginnt im Museum - ein fixes Gründungsdatum gibt es nicht, genauso wenig wie einen Schlusspunkt - mit dem Zusammenschluss von Kaufleuten aus Westfalen, Groningen und Lübeck, die im Jahr 1193 gemeinsam zu Handelsgesprächen im russischen Nowgorod fuhren. Illustriert wird dies im ersten Ausstellungsraum durch zwei originalgroße Nachbildungen hölzerner Koggen mit Warenbündeln, Fässern und Fellen an Deck, die halb im hohen Schilf verschwinden.

Auf der anderen Seite des Durchgangs - die fast durchweg fensterlosen Räume sind meist klein, die Gänge schmal und Sitzgelegenheiten gibt es (noch) fast keine - hängen im Dunkeln leuchtende Schaubilder, etwa über die damaligen Fernhandelswege. Teile der Info-Tafeln sind auch auf Englisch, Russisch und Schwedisch verfasst. Das Ziel lautet Viersprachigkeit, auch bei E-Readern, Audio-Stationen und anderen interaktiven Medien.

Auf Räume wie diesen mit Inszenierungen, die alle Sinne ansprechen sollen, folgen Räume in grauem Beton mit schwarzweißen Texttafeln und spärlich bestückten Vitrinen, die das Vorherige wissenschaftlich untermauern.

Nüchterne Information

Dieses Hin und Her wiederholt sich im gesamten Neubau. Zu den Inszenierungen gehören eine Verkaufshalle der Tuchhändler in Brügge mit originalgetreu nachgewebtem Tuch und Fellen aus Russland, der prunkvolle "Stalhof" in London, der wichtigsten ausländischen Niederlassung der Hanse, und eine Verkaufshalle mit Stockfisch im norwegischen Bergen. In den extrem nüchternen Info-Räumen ist etwa die Replik einer Urkunde zu sehen, mit der König Eduard VI. im Jahr 1547 deutschen Kaufleuten das letzte große Handelsprivileg in England gewährte. Und ein Stück Birkenrinde mit lateinischer Inschrift, das die längere Anwesenheit Deutscher in Nowgorod belegen soll. Die Einheimischen dort schrieben auf Birkenrinde statt auf Papier, verwendeten aber kyrillische Zeichen.

Ab Mitte des 13. Jahrhunderts entwickelten sich aus den genossenschaftlichen Verbindungen Städtebündnisse. Die Großkaufleute fuhren nun seltener selbst zur See und zogen in die Rathäuser der Hansestädte ein. Zwischen 1356 und 1669 besprachen ihre Vertreter einmal jährlich auf den Hansetagen, wie sie ihre Interessen - etwa den Schutz vor Piraterie und die Durchsetzung und Verteidigung ihrer Handelsfreiheit und Rechtssicherheit - nicht mehr nur durch Finanzmacht, sondern mit politischen Mitteln durchsetzen könnten. Mit lauteren und unlauteren Mitteln, mit Handelssperren und Kaperkriegen auf See kämpften diese Bürger - nicht selbst, sondern sie ließen kämpfen - gegen Fürsten und Könige und waren dabei mal mehr, mal weniger erfolgreich. Die meisten Kriege richteten sich gegen die dänischen Könige, die die Hauptlinien des Seehandels zwischen dem rohstoffreichen Osten und dem gewerblich hoch entwickelten Westen kontrollierten.

Besucher des Hansemuseums können sich im Raum "Diplomatie und Politik" an einer Medienstation Streitgespräche auf dem Hansetag in Lübeck im Jahr 1518 anhören, die gut dokumentiert sind. 1980 wurde die Tradition der Hansetage übrigens wieder aufgenommen. Nach dem Vorbild der mittelalterlichen Hanse entstand damals im niederländischen Zwolle die Neue Hanse, ein Städtebund, der den grenzübergreifenden Gedanken wiederbeleben und nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Tourismus im ehemaligen Hanse-Gebiet fördern soll.

Die Hanse wird wegen ihrer europaweiten Kooperation oft als Vorbild für die Europäische Union genannt. Auch wenn sie weitreichende politische und kulturelle Auswirkungen hatte, für die Hanse galt allein der Profit und sie war nur für Kaufleute niederdeutscher Abstammung zugänglich. Diese kehrten immer wieder in ihre Heimat zurück, vielleicht werden die Besucher beim Rundgang deswegen immer wieder nach Lübeck zurückgeführt. Räume über die Pest und die Landgewinnung im mittelalterlichen Lübeck haben jedoch keinen direkten Bezug zur Hanse; beides gab es auch anderswo. Den Platz hätte man zum Beispiel für andere Städte des riesigen Netzwerks nutzen können. Schade, dass man sich bei einem Museum, das sich europäisch nennt, so sehr auf die lokale Stadtgeschichte konzentriert hat.

Einsatz der Bürger

Das chronisch klamme Lübeck hätte sich ein Projekt wie das Europäische Hansemuseum nicht leisten können, gäbe es nicht das traditionell starke bürgerschaftliche Engagement seiner heutigen Einwohner. Alle Sammlungen der beeindruckenden Lübecker Museumslandschaft - vom Buddenbrookhaus und Günter Grass-Haus über Museen für Mittelalterkunst, Moderne Kunst, Völkerkunde, Natur - und Industriegeschichte bis zur Ausstellung "Die Macht des Handels" im Holstentor, die auch auf die Geschichte der Hanse eingeht - sind bürgerlichen Ursprungs.

Das sei hanseatischer Bürgergeist, so Bernd Sachse, Bürgermeister der 214.000-Einwohner-Stadt, anlässlich der Eröffnung des Museums. "Der Kaufmann soll erfolgreich sein, aber er soll auch etwas an die Gemeinschaft zurückgeben." Die rund 50 Millionen Euro, die das Europäische Hansemuseum kostete, wurden zum Großteil von der in Lübeck allgegenwärtigen Possehl-Stiftung getragen; sie entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Nachlass des Kaufmanns Emil Possehl und fördert seitdem soziale und kulturelle Projekte in dessen Heimatstadt. Das Bundesland Schleswig-Holstein hat 9,4 Millionen Euro aus EU-Fördermitteln beigesteuert.

Die Ausstellung wird sich im Laufe der Zeit noch verändern, schon allein, weil das Museum über keine eigene Sammlung verfügt. Die bisher wenig spektakulären Leihgaben und ihre karge Präsentation machen es gemeinsam mit den sorgsam nach historischen Vorbildern erstellten, aber oft oberflächlich bleibenden Inszenierungen schwer, sich in die Lebenswelt der Hanse einzufühlen. Die Exponate, die die Besucher am meisten in eine andere Welt eintauchen lassen, sind die Grabungen im Untergrund und das Burgkloster. Sie stehen jedoch für sich, einen direkten Bezug zur Hanse gibt es nicht.

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt und arbeitet als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.

Autorin des Buches "Und dann kam der Richtige. Frauen erzählen die Liebesgeschichten ihres Lebens" (Herder, 2013).