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Die Sanierung der Union

Von Benjamin Christian Wolf

Reflexionen
Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der USA, auf der Zehn-Dollar-Note.
© vizu/ Wikipedia

In der Frühzeit ihrer Existenz meisterten die Vereinigten Staaten eine schwere Schuldenkrise. Kann die EU aus den Erfahrungen der USA etwas lernen?


Die Finanzmärkte spielen verrückt, Anleihen zahlreicher Staaten kommen unter Druck, die Zinsen steigen und die führenden Politiker der Union versammeln sich, um einen Ausweg aus der sich stetig verschärfenden Situation zu finden. Die bedrängten Staaten drängen auf eine gemeinschaftliche Haftung oder zumindest Hilfe von ihren finanziell soliden Partnerstaaten. Diese aber stellen sich quer: Warum sollten sie, die in den letzten zehn Jahren mit verantwortungsvoller Finanzpolitik ihren Schuldenberg beträchtlich abgetragen haben, für die verschuldeten Partnerländer aufkommen? Bei diesem Treffen soll den versammelten Spitzenpolitikern ein Bericht über die öffentliche Kreditwürdigkeit der Union und ihrer Staaten präsentiert werden.

Was trocken und technisch klingt, enthält einige brisante Vorschläge: Die Union soll alle Schulden der Staaten übernehmen und dafür neue, eigene Anleihen ausgeben, für die alle gemeinsam haften. Der vorstellende Finanzminister argumentiert, das öffentliche Ansehen der Union und all ihrer Mitglieder stünde auf dem Spiel, wenn nicht schnell eine vertrauenswürdige und nachhaltige Lösung für das Schuldenproblem gefunden werde. Die Beratungen sind hitzig.

Drückende Schulden

Dieses Szenario spielte sich im Jahr 1790 in New York ab. In gewisser Weise ereignet es sich aber auch gerade jetzt, 225 Jahre später, in Brüssel. Die führenden Politiker waren Abgeordnete des ersten amerikanischen Kongresses und es ging um die schwierige Frage, wie die junge Union mit den drückenden Schulden aus den Unabhängigkeitskriegen umgehen sollte. In Europa trafen sich am vergangenen Wochenende zum wiederholten Male die Staats- und Regierungschefs der Eurozone, um über die anhaltende Schuldenkrise in Griechenland zu beraten. Die Gefahr der Ansteckung anderer Staaten ist nie ganz fern.

Die amerikanische Verfassung war 1789 in Kraft getreten. Der Bundesstaat verfügte aber noch nicht über eigene Einnahmen, er war völlig von den Beiträgen der Mitgliedsstaaten abhängig. Als eine erste Folge bekam die US-Regierung die Einnahmen aus Zöllen zugesprochen, über die auch die heutige Europäische Union bereits verfügt - eigene Steuern erheben, wie der US-Kongress, darf die EU jedoch nicht.

In den Jahren seit dem Unabhängigkeitskrieg hatten manche Staaten, vor allem jene im Süden der USA ihre Schulden weitgehend abgetragen. Sie lebten gut vom Baumwollhandel. Andere Staaten, vorwiegend jene im Norden des Landes, hatten ihre Schulden vor sich hergeschoben, so dass die Lage jedes Jahr prekärer wurde und schließlich zunehmend die Wirtschaft der gesamten Union belastete. Ähnliches spielte sich unter anderen Vorzeichen in Europa ab, nur dass hier die nördlichen Staaten die finanzpolitisch stabileren und wettbewerbsfähigeren sind, während der Süden mit einem Berg an Schulden und schwindender Wirtschaftskraft kämpft.

Der Widerstand der finanziell verantwortungsvollen Staaten gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden war 1790 naturgemäß gewaltig. Auch im heutigen Europa ist der Widerstand gegen alle Arten von gemeinsamer Haftung bei den soliden Staaten riesengroß. Ob und wie es gelingen wird, trotzdem eine wegweisende Lösung aus dem Dilemma zu finden - das ist die 9,6-Billionen- Euro-Frage. Dies nämlich ist die Höhe des öffentlichen Schuldenstandes der Euroländer im Jahr 2015.

An Vorschlägen, Modellen und Gegenmaßnahmen mangelt es inzwischen nicht mehr. Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, EFSF, ESM, Anleihenkäufe der EZB, LTRO, Bankenunion, Fiskalunion - die europäische Schuldenkrise hat geradezu ein Feuerwerk an Ideen und komplizierten Begriffen hervorgebracht, die das Lesen eines einschlägigen Artikels oft zu einer Übung in Kryptologie machen. Was aber taugen all diese Vorschläge und wie steht ihre Chance auf Verwirklichung? Und wie haben die USA damals ihr Problem gelöst?

Ein Mann, ein Satz

Im Zentrum der amerikanischen Schuldenkrise steht ein Mann: Alexander Hamilton. In seiner Jugend kämpft er im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, später arbeitet er an der Ausarbeitung der Verfassung mit und wird schließlich zum ersten Finanzminister der USA ernannt. Als solcher legt er 1790 dem Kongress den "First Report on Public Credit" vor.

Hamilton ist klug, er weiß, dass die soliden Staaten nur höchst ungern ihre Bonität für ihre verschuldeten Partnerländer aufs Spiel setzen werden. Außerdem weiß er sehr gut um die Angst der Amerikaner vor einem zu starken Zentralismus. Immerhin haben sie sich gerade mit Revolution und Waffengewalt von der Herrschaft des fernen London befreit. Während der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung streitet sich Hamilton immer wieder mit Thomas Jefferson und James Madison, die beide den Zentralstaat möglichst schwach halten wollen. Hamiltons Credo hingegen lautet: "Learn to think continentally."

Ein erster Überzeugungsversuch im April 1790 scheitert. Der Kongress lehnt die Vorlage ab und die Finanzlage der Staaten verschärft sich weiter, auch viele Veteranen stehen nun ohne Einkommen dar. Doch drei Monate später treffen die Gründungsväter sich bei einem Abendessen und können einen Deal aushandeln: Der Plan Hamiltons soll angenommen werden, wenn im Gegenzug die Hauptstadt von Philadelphia in die Südstaaten verlegt wird, an den Potomac River.

Mit Washington D.C. als Gegenleistung stimmen nun auch die Südstaaten zu. Laut Hamiltons Plan übernimmt die US-Regierung die Schulden aller Bundesstaaten und bezahlt den Investoren Zinsen von vier Prozent. Dafür erhält sie die Zolleinnahmen der Union und darf eigenständig Verbrauchssteuern erheben. Um die Rückzahlung der Kreditbeträge muss sich jedoch weiterhin jeder Staat selbst kümmern.

Zudem sind alle Staaten verpflichtet, in Zukunft einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und keine Schulden mehr zu machen. Falls doch, wird der Zentralstaat nicht für sie einstehen. Hamiltons Taktik geht auf. Die Finanzlage entspannt sich schnell und die Wirtschaft, endlich von der großen Unsicherheit befreit, legt einen Wachstumsspurt hin. Könnte Ähnliches auch in der Europäischen Union stattfinden?

Prinzipiell ja. Was jedoch fehlt, ist eine politische Leitfigur wie Hamilton und eine Vision, die über den nahen Horizont hinausgeht. Viele der nun diskutierten Instrumente, ob komplette oder teilweise Haftung, könnten zur Beruhigung der Lage beitragen. Die gesamte Union könnte sich deutlich billiger Geld leihen und damit den Krisenstaaten Zeit verschaffen. Das kann durchaus, wie in den USA, zu einem weiteren Integrationsschub und zu einer stärker wachsenden Wirtschaft beitragen.

Wer auf dieses historische Beispiel verweist, sollte allerdings auch die Gegenleistung der einzelnen Staaten nicht verschweigen: Sie übernehmen die Pflicht, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Die Aktion ist außerdem einmalig, d. h. es wird keine gesamtschuldnerische Haftung für eventuelle zukünftige Verbindlichkeiten der Staaten geben. Außerdem geben die Staaten ein gehöriges Maß an Souveränität an die Union ab, sowohl was die eigene Haushaltspolitik, als auch was die Steuerpolitik betrifft. All das gehört zusammen und müsste auch bei einer Reform der EU koordiniert geschehen.

Demokratiedefizite

All diese Konzepte stehen aber einem grundsätzlichen Problem gegenüber: dem wachsenden Demokratiedefizit der Europäischen Union. Je mehr sich die Union anschickt, Kernbereiche der staatlichen Souveränität zu berühren - und dazu gehören das Budgetrecht, das Recht, Steuern zu erheben, Sozialsysteme zu gestalten oder auch die Kontrolle der nationalen Finanzsysteme -, desto brisanter wird die Frage nach der demokratischen Legitimation.

Die Entscheidungsfindung durch das Netzwerk der technokratischen Institutionen, namentlich der Europäischen Kommis-
sion und der Europäischen Zentralbank, sowie dem intergouvernementalen Europäischen Rat stößt dabei zunehmend an seine Grenzen. Die USA haben dieses Problem in mehreren Schritten gelöst. Zum einen gibt es eine klare Kompetenzteilung zwischen den Bundesstaaten und der Zentralregierung. Der US-Kongress, zusammengesetzt aus national gewählten Abgeordneten und in Bundesstaaten gewählten Senatoren, verfügt weiters über das Recht, eine Einkommenssteuer zu erheben - allerdings erst seit 1913 und dafür war der 16. Zusatzartikel der Amerikanischen Verfassung nötig.

In Europa hingegen hat nicht das Europäische Parlament die entscheidende Macht, sondern Minister und Regierungen der Nationalstaaten, und das bei nur wenig Transparenz. Viele wichtige Reformen könnten überhaupt nicht im Gemeinschaftsverfahren beschlossen werden und verlangen eine EU-Vertragsänderung, die wiederum die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedsstaats voraussetzt.

Auf Dauer kann eine so schwer durchschaubare Politik im 21. Jahrhundert aber nur begrenzt funktionieren. Nicht von ungefähr werden die Rufe nach Transparenz, Mitbestimmung und klarer politischer Verantwortlichkeit immer lauter. Eine wirklich demokratische Union, möglicherweise mit einem Parlament und einer Länderkammer, einer gewählten Regierung und einem direkt gewählten Präsidenten könnte - so Europa dies will - mit deutlich größerer demokratischer Legitimation agieren. Das Ziel wäre nicht, einen europäischen Superstaat zu kreieren, sondern die EU mit ihren bereits bestehenden Kompetenzen demokratischer zu gestalten

Permanente Reform

Die USA hatten während der ersten eineinhalb Jahrhunderte ihrer Existenz einen relativ schwachen Zentralstaat, und selbst nach den Sozialprogrammen Roosevelts und dem Aufbau des Wohlfahrtsstaats liegt die Staatsquote insgesamt noch weit unter der europäischen. Sie hatten jedoch von Anfang an eine dynamische Demokratie als Basis, die in den Kommunen beginnt und ihre Vitalität über die Bundesstaaten bis zur Wahl des Kongresses und des Präsidenten erhält.

Dieses pulsierende demokratische Gemeinwesen erlaubte es den Vereinigten Staaten, die Krisen der Jahrhunderte zu bewältigen und sich stetig zu reformieren, sei es durch mehr Integration oder durch Dezentralisierung. Wenn man die amerikanische Erfahrung als Lehre sehen will, wird es also nur durch eine mutige Demokratisierung der europäischen Politik gelingen, die Krise dauerhaft zu überwinden.

Benjamin Christian Wolf, geboren 1991, studierte Journalismus und Geschichte. Das Interesse am Projekt Europa wurde durch ein Praktikum beim Online-Magazin "Cafébabel" in Paris gestärkt, der internationale Blick durch das Studium an der Diplomatischen Akademie in Wien. Seine Themen sind Geschichte, Wirtschaft, Politik, Kultur und die Sichtweise der Menschen auf sich selbst.