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Gemeinschaft neu denken

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Jean-Luc Nancy folgt in seinem Denken der "Dekonstruktion" Jacques Derridas.corbis/Francesco Acerbis

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy feiert am 26. Juli seinen 75. Geburtstag. In seinem Werk widmet er sich zunehmend gesellschaftspolitischen Fragestellungen, etwa jener nach dem Wesen von Gemeinschaft.


"Die Philosophie als eine Art Weltanschauung, die ein Weltbild entwirft, ist zu einem Ende gekommen. Für mich ist es wichtig, diese Vorstellung endlich aufzugeben". Diese lakonische Aussage des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, die im Gespräch mit dem Autor erfolgte, verweist auf die Positionierung seines Denkens. Es bewegt sich im Umfeld der Postmoderne, die er nicht als modisches Schlagwort versteht, sondern als ein beharrliches Umkreisen der Probleme, die nach dem Ende der "großen Erzählungen" des Kommunismus und des Neoliberalismus bestehen. Nancy ist davon überzeugt, dass nicht nur die "großen Erzählungen" gescheitert sind, sondern auch alle Philosophien, die ein universal gültiges Weltbild entwarfen; Jean-Paul Sartre war der letzte Repräsentant einer Philosophie, in der ein in sich geschlossenes Weltbild auf dem Fundament ideologischer Theoreme ausgebildet wurde.

Aufgrund dieser Einsicht fühlt sich Nancy der philosophischen Arbeitsweise der Dekonstruktion verpflichtet, wie sie sein Freund Jacques Derrida entfaltete. Unter Dekonstruktion verstand der "Megastar der Postmoderne" die genaue Analyse der Architektonik von Denkgebäuden, die darauf hinaus lief, deren Aufbau akribisch nachzuzeichnen und zu zeigen, welche Strategien die jeweiligen Konstrukte ermöglichen. In sich kohärente philosophische Systeme entpuppten sich als hierarchische Konstruktionen oder als "immanente Gebilde", wie sie Nancy bezeichnete. Und genau diese "Immanenz" will Nancy in seinen Texten aufbrechen. Er befasst sich in zahlreichen Büchern mit philosophischen, gesellschaftspolitischen, ästhetischen und religionsphilosophischen Themen, die er mit einem mäandernden Gestus dekonstruiert. Dabei bietet er keine einfachen Lösungen oder Rezepte an, die es zu befolgen gilt. Nancy präsentiert ein Patchwork von fragmentarischen Überlegungen, die von Abschweifungen und Randgängen begleitet werden. Die Lektüre seiner Schriften ist nicht einfach; sie erfordert viel Geduld und die Bereitschaft, sich auf das nicht-lineare Denken des Philosophen einzulassen.

Fremdes Herz

Geboren wurde Jean-Luc Nancy am 26. Juli 1940 in Caudéran, einem ehemaligen, heute eingemeindeten Vorort von Bordeaux. Nach dem Studium der Philosophie, das er mit einer Arbeit über Immanuel Kant abschloss, lehrte er an der Université Marc Bloch in Straßburg und nahm zahlreiche Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten; unter anderen an der Freien Universität Berlin und der University of California an. Er arbeitete eng mit dem 2007 verstorbenen Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe zusammen und stand in einem produktiven Gedankenaustausch mit Jacques Derrida.

Die öffentlichen Ämter legte Nancy nach einer Herztransplantation zurück, deren physische und psychische Auswirkungen er in seiner Publikation "Der Eindringling / Das fremde Herz" beschrieb. Er empfand das Spenderherz als "Eindringling", der sein Leben nunmehr fremdbestimmte. "Fremdartiges offenbart sich im Herzen dessen, was sich nie als Herz zu erkennen gegeben hat. Bislang war das Herz fremd, weil es nicht einmal wahr- und aufgenommen werden konnte. Von jetzt an lässt es nach, wird es schwächer. Diese Fremdheit bringt mich zu mir, macht mein Verhältnis zu mir selber aus. Ich bin, weil ich krank bin."

Nach dieser Grenzerfahrung bezeichnete sich Nancy als "Überlebenden"; "Nie hat die Fremdheit meiner Identität mich so heftig berührt und sich mit solcher Schärfe bemerkbar gemacht", notierte er. Seinen Körper erlebt Nancy als verletzbares, künstliches Gebilde und unterscheidet sich so von den enthusiastischen Lobeshymnen über den Leib, die Friedrich Nietzsche angestimmt hatte. Zwar teilt er dessen Hinweis auf die Bedeutung des "labyrinthischen Leibes", der ein viel reicheres Phänomen als das Bewusstsein darstellt, nimmt aber eine entscheidende Modifikation vor: Während Nietzsche den Körper enthusiastisch affirmierte und verklärte, bezieht sich Nancy auf das Fragmentarische, Fragile des Körpers; er ist stets gefährdet, von Krankheiten bedroht, verwundbar. "Hier gibt es nur ein offenes, zerschnittenes, seziertes, dekonstruiertes, auseinandergenommenes Subjekt", schreibt er in seinem Text "Corpus".

Das philosophische Werk von Nancy weist zahlreiche Facetten auf: Neben der intensiven Auseinandersetzung mit dem "Corpus" verfasste er eine "Dekonstruktion des Christentums" und publizierte Bücher über verschiedene ästhetische Themen wie etwa "Die Lust an der Zeichnung", "Am Grund der Bilder" und "Die Evidenz des Films". In den letzten Jahren rückten gesellschaftspolitische Reflexionen in den Mittelpunkt seines Schaffens; speziell befasste er sich mit dem Zustand der repräsentativen Demokratie in den westlichen Industriestaaten und entfaltete in mehreren Büchern Konzepte zum Thema Gemeinschaft. Das Modell der repräsentativen Demokratie wurde für ihn "ein exemplarischer Fall von Bedeutungslosigkeit".

Einen wichtigen Grund dafür ortet er in der Dominanz des Ökonomischen, das die kapitalistische Maschine in Gang gesetzt hat. Diese Maschine funktioniert "wertneutral"; zentral ist die Profitmaximierung. Verloren geht dabei das Element einer Sinnsphäre, einer Sinnstiftung, also das, was nicht der Verwertungslogik der kapitalistischen Gesellschaft entspricht. Eben diese Produktion von Sinn sei die unabdingbare Voraussetzung, so Nancy, für eine neue Form der Demokratie, in der die Gemeinschaft einen wesentlichen Stellenwert einnimmt.

Gemeinschaftskonzept

Nancy ist sich der Ambivalenz der Gemeinschaft durchaus bewusst: Einerseits ist dies ein möglicher Entstehungsort für eine neue politisch-soziale Bewegung, andererseits schwingt im Wort "gemein" schon die Niederträchtigkeit totalitärer Ideologien mit, worauf Nancy in seiner jüngsten Publikation "Demokratie und Gemeinschaft" verweist. Um eine neuartige Form der Gemeinschaft zu konzipieren, ist eine Dekonstruktion der üblichen Gemeinschaftskonzepte, wie sie in der faschistischen, realsozialistischen und bürgerlich-liberalen Version vorliegen, erforderlich. Trotz der unterschiedlichen Ausprägungen weisen diese Gesellschaftsformationen eine Gemeinsamkeit auf, nämlich den Willen, eine einheitliche, umfassende Ideologie auszubilden, die eine Identität stiftet, zu der sich die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften rückhaltlos bekennen. Diese Identifikation erfolgt aus dem Bedürfnis der Menschen, ihr existenzielles Vakuum durch das Surrogat eines universell gültigen Wertekanons aufzufüllen. Nancy spricht von "immanenten, identitären" Gemeinschaften, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts viel Unheil angerichtet haben, weil sie mit den Strategien der Ausschließung, des Hasses und der Gewalttätigkeit gearbeitet haben. Die monströse Fratze der Gemeinschaft wurde dann in den Zwangsgemeinschaften des Nationalsozialismus und des Stalinismus sichtbar, in deren Namen Millionen Menschen in den Konzentrationslagern und Gulags ermordet wurden.

Nancy plädiert nun für eine Gemeinschaft, für ein Zusammenleben der Menschen, das nicht von ideologischen oder religiösen Programmen geregelt wird. Er spricht von einem "Mit-Sein", von einer Gemeinschaft, die ohne "große Erzählungen" auskommt, wie sie Religionen, Parteien oder die Nationalstaaten anbieten. Das "Mit-Sein" übernimmt Nancy von Martin Heidegger, der diesen Begriff in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" als Existenzial des Daseins bezeichnet hatte. "Sein ist immer schon Miteinandersein", sagt Nancy im Gespräch und plädiert für "eine Ontologie des Zusammenseins". Das erfordert einen Perspektivenwechsel; im Mittelpunkt steht nicht mehr der Einzelne auf der Suche nach einem "guten, geglückten Leben", sondern die Gemeinschaft, "in der die Individuen nicht nebeneinander leben, sondern ein Gefüge einer gemeinsamen Sinnstiftung entwerfen". Als Beispiel einer solchen Sinnstiftung nennt er die Protestbewegung von Mai 1968, bei der es sich "nicht um Spiele oder Fantasien von Intellektuellen handelt", wie er in "Wahrheit der Demokratie" betont, sondern um einen Angriff gegen die "verwaltende Demokratie", in der in Anlehnung an Friedrich Nietzsche eine "Umwertung aller Werte" erfolgen sollte.

Der Schriftsteller Maurice Blanchot, der in engem Gedankenaustausch mit Nancy über die Thematik der Gemeinschaft stand, brachte diese Umwertung auf den Punkt: "Der Mai 68 hat gezeigt, dass sich ohne Projekt, ohne Verschwörung, mit der Plötzlichkeit eines glücklichen Zusammentreffens eine explosive Kommunikation affirmieren konnte, wie ein Fest, das die erlaubten oder erwarteten sozialen Formen umstieß". Die Bewegung von Mai 68 ist - soweit sie nicht ideologisch verhärtete - ein Beispiel für eine Gemeinschaft, die nichts Geschlossenes, sondern etwas wesentlich Offenes ist. Das Ziel dieser Situations-Gemeinschaft bestand nicht darin, aus einem ideologischen Konzept eine rigide, gesellschaftspolitische Formation zu schaffen, wie es im Nationalsozialismus oder Realsozialismus erfolgte, sondern die Vorstellung von einer Gemeinschaft zu evozieren, die sich weigert, "sich ins Werk zu setzen, und die sich des Willens enthält, eine Vision, ihre Ausrichtung und ihre Ziele vorzulegen und zu diktieren".

Außer-Sich-Sein

Das Fazit von Nancys Ausführungen zum Thema Gemeinschaft lautet: "Die Gemeinschaft ist weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Seins". Nancys philosophische Dekonstruktionen sind als Annäherungen, als "Tappen im Dunklen" zu verstehen - in der Nachfolge von Jacques Derrida - der ein "unerhörtes Denken" propagierte. Eine große Faszination übt dabei das "Undenkbare" aus; jene Sphäre, die sich stets entzieht. Im Gespräch äußert sich Nancy darüber kryptisch: "Die Grundlage des Denkens ist immer dasjenige, was über alles Denkbare hinausgeht; es ist jener Wink von außen, von einem absoluten Jenseits, das nicht als Göttliches bezeichnet werden kann. Es ist keine Überwelt; Blaise Pascal hatte eine Ahnung davon, wenn er schrieb: Der Mensch geht unendlich über den Menschen hinaus".

Nikolaus Halmer, geb. 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.

Literaturhinweise:Jean-Luc Nancy: Werke wie "Demokratie und Gemeinschaft" (2015), "Wahrheit der Demokratie" (2009), "Das Vergessen der Philosophie" (22001) sind im Passagen Verlag erschienen. Im diaphanes Verlag wurden die Bücher "Die herausgeforderte Gemeinschaft" (2007), "singulär plural sein" (22004) und "Corpus" (22003) publiziert. "Der Eindringling / Das fremde Herz" (2000) erschien im Merve Verlag.