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Ruinen der Erinnerung

Von Katharina Wappel

Reflexionen

Im Juni 1944 vernichteten die Nationalsozialisten das französische Dorf Oradour-sur-Glane. Nur sechs Menschen überlebten das Massaker. Der 90-jährige Robert Hébras ist einer davon.


Monsieur Hébras wirkt erstaunlich fit für seine 90 Jahre, die er soeben gefeiert hat und eingedenk dessen, was er in seinem Leben schon erleiden musste: Er ist einer der wenigen Überlebenden des Massakers von Oradour- sur-Glane. Oradour, ein klingender Name, der in Frankreich jedem Einzelnen einen kleinen Schauer über den Rücken jagt. Denn hier weiß man, egal welcher sozialen Schicht man angehört oder welchen Bildungsgrad man hat, wofür dieses im zentralfranzösischen Limousin gelegene Dorf steht: Vernichtung. Längst ist das Dorf, das als Symbol gilt für das Leid, das die Nazis im Zweiten Weltkrieg angerichtet haben, hier ins kulturelle Gedächtnis eingegangen, längst die Stadt, deren Einwohner von der SS auf brutalste Weise ausgerottet wurden, zu einem Lieu de Mémoire geworden. In Österreich hingegen ist diese traurige Geschichte weniger bekannt. Auf die Frage, ob er daher bereit wäre, seine Erlebnisse noch einmal zu schildern, nickt Monsieur Hébras. Ja das ist er.

Es war der zehnte Juni 1944. In Oradour war alles ruhig, vom Krieg bekam man hier nicht viel mit. Die meisten Leute hatten noch nicht einmal einen Deutschen gesichtet. Wie jeden Tag herrschte auch an diesem Morgen alltägliche Geschäftigkeit, man holte Brot vom Bäcker, erledigte diverse Einkäufe. Gegen 14 Uhr jedoch ändert sich die unbedachte Stimmung plötzlich, als deutsche SS-Soldaten mit Militär-Gefährt Oradour durchqueren. Es ist die 2. Waffen-SS Panzerdivision "Das Reich" unter dem Kommando von Heinz Lammerding, die eigentlich am Weg in die Normandie ist, wo vier Tage zuvor die Alliierten gelandet sind (ein Begriff, den man damals noch nicht verwendet). Robert Hébras, 19 Jahre jung, befindet sich auf der Straße. Als er merkt, dass die Soldaten am Ende des Dorfes anhalten und beginnen, es zu umrunden, schenkt er ihnen seine Aufmerksamkeit.

"Angst hatte niemand"

Sogleich wird allen Bewohnern befohlen, sich am Dorfplatz zu versammeln für eine Ausweiskontrolle, so heißt es. "Angst", so Monsieur Hébras, "hatte niemand, es gab eine gewisse Spannung und das ein oder andere Kind weinte." Eine geschickte Taktik vonseiten der Deutschen, wie sich im Nachhinein herausstellte. Denn würden die Einwohner von Oradour auch nur ahnen, was ihnen bevorsteht, sie würden sich mit aller Kraft wehren. Doch es gibt keinen Anlass.

Man werde nun die Häuser nach Waffen durchsuchen, anschließend würden die Einwohner wieder freigelassen. Die Frauen und Kinder werden schließlich von den Männern getrennt und vom Platz weggeführt. Die Männer teilt man in verschieden große Gruppen ein. Monsieur Hébras findet sich in der letzten, etwas größeren Gruppe wieder. Sie werden in verschiedene Scheunen im Dorf verteilt, die Gruppe von Monsieur Hébras wird in die "Grange Laudy" gebracht, die einzige, in der fünf Männer überleben werden. Nichts ahnend sitzen die Männer also in der Scheune, plaudern. Bis schließlich ein SS-Offizier durch die Menge geht und alle zum Aufstehen bringt. Es folgt ein explosionsartiger Knall, von dem man heute noch nicht weiß, woher er kam. Doch die SS-Männer sind informiert: Es ist das Signal. Sie beginnen, auf die Männer zu schießen. In allen Scheunen fallen die "Radounauds" (die Einwohner Oradours) zu Boden, aber nicht alle sind sofort tot. Auch Monsieur Hébras fällt und findet sich unter seinen blutenden Kollegen wieder. "Es ist schwer, Ihnen zu sagen, wie es sich anfühlt, wenn man das warme Blut spürt, das aus den Körpern der anderen auf einen rinnt. Da merkt man schon, was das bedeutet." Doch es ist damit noch nicht vorbei. Die SS-Männer versetzen all jenen, die noch leben, den Gnadenschuss. Monsieur Hébras bleibt unentdeckt. Anschließend verteilen sie Heu über die Körper und zünden es an. "Aber es waren nicht alle tot. Manche mussten lebendig verbrennen. . . und als das Feuer mich erreicht, bleibt mir nichts anderes übrig: Entweder ich verbrenne auch bei lebendigem Leib, oder ich befreie mich von unten und flüchte ins Freie. Mir war klar, dass ich trotzdem sterben würde, von den Soldaten getötet." Doch als Monsieur Hébras gemeinsam mit vier anderen Männern aus der Scheune kommt, sind keine Soldaten da. Die Männer schaffen die Flucht, trotz der Schusswunden. Das gesamte Dorf jedoch steht in Flammen. Und - viel schlimmer - was Monsieur Hébras noch nicht weiß: Frauen und Kinder, darunter seine Mutter und seine zwei Schwestern, wurden in der Zwischenzeit in der Kirche ebenfalls exekutiert. Eine veritable Hinrichtung auch hier: Erst eine Gasbombe mitten in die Menge platziert, anschließend die Maschinengewehrsalven und Handgranaten und schließlich auch hier das Feuer. Viele Frauen, viele Kinder mussten lebendig verbrennen. Nur eine Frau, Madame Rouffanche, schafft es, aus dem Kirchenfenster zu springen und ihr Leben zu retten, indem sie sich anschließend tot stellt. Eine zweite Frau mit ihrem Säugling, die es ihr gleichtut, wird durch die Schreie ihres Babys von der SS entdeckt und exekutiert.

Schockstarre danach

Monsieur Hébras findet danach bei seiner dritten Schwester Unterkunft, wo er auch seinen Vater, der an diesem Tag außerhalb zu arbeiten hatte, wieder trifft. Dieser ist es, der am nächsten Tag nach Oradour zurückfährt, um zu sehen, was mit den Frauen und Kindern passiert ist. Als er mit der Schreckensnachricht zurückkommt, verfällt Robert in eine Schockstarre, die eine Woche lang anhält, an die er keine Erinnerung mehr hat. 642 Menschen mussten an diesem Tag sterben. Nur sechs überlebten, einige andere konnten sich rechtzeitig verstecken. Warum diese organisierte Ausrottung eines ganzen Dorfes stattfand, ist bis heute unklar. Viele Spekulationen gibt es wohl: So wurde etwa Sturmbannführer Helmut Kämpfe, enger Freund des Sturmbannführers Adolf Diekmann (dem Anführer in Oradour), einige Tage zuvor in der Gegend entführt. Der Regimentskommandeur Stadler soll daraufhin befohlen haben, in Oradour Geiseln zu nehmen, um die Freilassung Kämpfes zu erzwingen - tatsächlich wurde der Bürgermeister in Oradour aufgefordert, Geiseln auszuwählen, dieser jedoch sah sich dazu nicht in der Lage, woraufhin es auf Diekmanns Befehl zu dem Massaker kam.

Eine andere Theorie lautet, man habe Oradour-sur-Glane verwechselt mit dem ebenfalls im Limousin gelegenen Oradour-sur-Vayres, wo sich ein Kern der Résistance aufgehalten habe. Wahrscheinlicher aber scheint, dass dieses Massaker dazu diente, den Menschen Angst einzujagen. Es war dies eine nur zu bekannte Maßnahme der Nazis, die sie vor allem im Osten Europas durchaus einzusetzen wussten. Mit der Landung der Alliierten in der Normandie erhoben sich gleichzeitig die Partisanen im Limousin und taten alles in ihrer Macht stehende, um das Vorankommen der Panzerdivision "Das Reich" zu erschweren. Man versperrte Straßen, manipulierte Eisenbahnschienen und sprengte Brücken in die Luft, was der Region den Spitznamen "Petite Russie" (Kleinrussland) einbrachte. Die Menschen in Oradour selbst allerdings, so Monsieur Hébras, hatten mit der Résistance gar nichts zu schaffen. Vergeltung für dieses Kriegsverbrechen gab es keine.

Im Prozess von Bordeaux 1953, der vor einem Militärgericht für Deutsche und Franzosen getrennt stattfand, gab es kaum Verurteilungen. Ein Todesurteil, fünf Haftstrafen und einen Freispruch auf deutscher Seite, wobei die Häftlinge nach kurzer Zeit an Deutschland übergeben und dort freigelassen wurden. Ein Todesurteil und 13 Haftstrafen gab es für die Elsässer, die jedoch durch ein kurz darauf verabschiedetes Amnestiegesetz entlassen wurden. Denn diese sogenannten "Malgré-nous" (etwa "Wider-unseren-Willen") seien nicht freiwillig in der SS gewesen, so heißt es. Zudem wollte man den Versöhnungsprozess der Völker nicht gefährden. Als Farce bezeichnen viele daher diesen Prozess, wie auch Monsieur Hébras, der seine Zeugenaussage in nur zehn Minuten machen musste. Die meisten der an die 150 Täter lebten ihr Leben zu Ende, als wäre nichts geschehen.

Gewaltige Gedenkstätte

Was bleibt, ist die Erinnerung und eine gewaltige Gedenkstätte. Denn das Besondere an Oradour ist, dass die Ruinen des Dorfes seit dem Massaker in ihrem Originalzustand erhalten werden. Es ist dies nicht vergleichbar mit anderen Mahnmälern, etwa von Künstlern, die, egal wie gelungen, doch immer abstrakt bleiben. Nicht so in Oradour: Ausgebrannte Autos, abgebrannte Häuser, so weit das Auge reicht. Kein Haus trägt mehr ein Dach. Die Straßen leer gefegt, kein Geräusch, nur Stille und die eigene grausame Vorstellung jener Ereignisse, die sich hier zugetragen haben. Die Kirchturmdächer verbrannt, die Glocke, geschmolzen und gefallen, liegt am Boden der Kirche, von der aus man aufgrund des fehlenden Dachs freien Blick in den Himmel hat.

Monsieur Hébras hat nach einiger Zeit des Hasses begonnen zu verzeihen. Es war Willy Brandt, der ihn als Erster nach Deutschland eingeladen hat, um über seine Erlebnisse zu berichten. Seither hat Monsieur Hébras die Rolle des Versöhners angenommen. Er bemüht sich um Verständigung und Freundschaft zwischen Deutschland, Österreich und Frankreich (wie auch dem Elsass), was ihm anfänglich nicht viele Freunde in Frankreich eingebracht hat.

Besonders wichtig ist ihm die Arbeit mit Kindern. Unermüdlich erzählt er den jungen Generationen, was er erlebt hat, so schwer es ihm auch fällt, immer wieder diese grausame Erinnerung zu durchleben. Warum er es dennoch tut? "Ich möchte ihnen vermitteln, dass der Friede ein großer Reichtum ist. Dass wir alle Menschen sind und dass wir, auch wenn wir durch eine Sprache getrennt werden, alle gleichwertig sind." Europa, wenn es auch nicht perfekt sei, sei ihm daher sehr wichtig, denn dank der Europäischen Gemeinschaft habe es seit 70 Jahren keinen Krieg gegeben. Er stockt kurz und starrt auf die Tischplatte. "Leider spielen sich heute Dramen in der Welt ab, die noch schlimmer sind als Oradour. Ich glaube, der Mensch wird nie verstehen, wird Kriege führen, solange er existiert." Bleibt zu wünschen, dass Monsieur Hébras noch viele Geburtstage feiern wird, um genau hiergegen, so lange wie möglich, anzukämpfen.

Katharina Wappel, geboren 1986, Studium der Romanistik und Germanistik, arbeitet als freie Journalistin für die "Wiener Zeitung".