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Bücher als Überlebensmittel

Von Jochen Jung

Reflexionen

Literatur entspringt dem Grundbedürfnis, Erkenntnis und Phantasie mit Hilfe von Sprache in Kunst zu verwandeln - und zu verbreiten. Zur Lage der Verlage.


Nein, eine Krankheit ist die Liebe zu den Büchern wirklich nicht, aber so etwas wie ein Tic vielleicht schon, eine Angewohnheit, die sich nicht austreiben lässt und unter der der Betroffene in der Regel nicht leidet, im Gegenteil: der er gern nachgibt. Leiden würde er erst, wenn er das nicht mehr dürfte oder könnte. Die Beschäftigung mit den Büchern dann wie auch immer zum Beruf zu machen, ist nur konsequent.

Vorab: Im Folgenden wird von Büchern die Rede sein und dabei das gemeint sein, was sie enthalten: Literatur. Seit dem Aufkommen von E-Books ist ja häufig mehr von dem Transportmittel die Rede - um nicht zu sagen: von der Verpackung - als von dem, was da transportiert werden soll. Bisweilen kommt es mir daher so vor, als würde es nur um die Flaschen gehen und nicht um den Wein.

Die Veränderungen in der Buchwelt der letzten Jahrzehnte sind in der Tat gewaltig, aber in Wahrheit nicht so sehr wegen der technischen Neuerungen, die der Computer ermöglicht hat, sondern wegen der immer radikaleren Ergebenheit gegenüber den Märkten. Natürlich haben sich die Verleger als die Händler, die sie auch sind, immer schon um die Möglichkeiten des Absatzes gekümmert und kümmern müssen, aber sie haben ihr Handeln nicht so rückhaltlos davon abhängig gemacht wie die heutigen.

Der Weg vom Autor zum Leser war einst ein anderer, und so lange ist das noch gar nicht her: Da saß einer, schrieb und schrieb, was er schreiben zu müssen glaubte, oft genug unter Aufopferung von Finanzen, Zeit, Beziehungen, und schickte das dann an einen Verleger, von dem er Bücher kannte, die ihm und anderen gefallen hatten. Der wiederum las es (oder ließ es von seinem Lektor lesen und nachdrücklich empfehlen), akzeptierte es, legte es der Herstellung vor und legte es gleichzeitig seinen Vertretern ans Herz, die dann das Gleiche bei der Buchhändlerin versuchten, jeder auf seine Art. Die überlegte dann, ob sie dafür Kunden finden würde, nahm es im positiven Fall ins Sortiment und wartete auf den Käufer, dem sie es mit Erfolg empfehlen würde, falls ihr nicht schon die Wochenendzeitung diese Arbeit abgenommen hatte.

Heute geht man in den Verlagen davon aus, dass man schließlich kein Anfänger ist und bereits auf Erfahrungen mit der Leserschaft zurückgreifen kann: Man weiß doch, was die Leserin lesen will, sie wird für risikophob, phantasielos und durchschaubar gehalten. Das lässt sich natürlich noch durch eine gewiefte Marketingabteilung professionalisieren, die den Verleger (oder Verlagsleiter, Programmdirektor etc.) berät: Die weiß, wonach gesucht wird und wie man das Gesuchte propagiert.

Der Käufer/Leser steht also nicht mehr am Ende, sondern am Anfang der Entscheidungskette, er weiß es nur nicht. Wenn Sie nun meinen, das sei doch in allen Branchen so, die mit etwas handeln, dann haben Sie Recht: Es geht im publikumsorientierten Verlagswesen nicht mehr anders zu als im Handel mit Unterwäsche oder im Tourismus.

Ein kleines Moment der Unsicherheit zeigt sich freilich noch darin, dass man zwar meint, genau das produziert zu haben, was die Kundin sucht, aber die Konkurrenz glaubt das auch: Also muss man sein Produkt der möglichen Leserin so verlockend, wie es gerade noch geht, unter die Nase halten, die glaubt, auf eigene Faust zu schnüffeln. Das Gros der Käufer will aber gar nicht mehr suchen: Es will nur noch gefunden werden.

Es versteht sich, dass sich solche Methoden nur die großen Verlage leisten können: Zur Finanzierung eines Reklamestreifens in einer der großen deutschen Qualitätszeitungen (ganz zu schweigen von den Wochenzeitschriften) muss man im Durchschnitt 5000 Exemplare verkauft haben - und was hilft schon Einmalwerbung?

Improvisation und Selbstausbeutung

Unvergesslich ist mir ein stöhnender Ausruf des Kollegen Michael Krüger vom Hanser Verlag, der mir sagte, der neue Kundera sei eine dramatische Pleite, man habe nur 100.000 Bücher verkauft. Auf mein ratloses Kleinverlegerstaunen hin klärte er mich auf, die Werbung sei auf 200.000 angelegt worden. So kann man den Gewinn verlieren, ehe man ihn überhaupt hatte. (Eben dieser Kollege riet mir freundlicherweise von entsprechendem Verhalten ab, als der Verlag Jung und Jung zum ersten Mal den Deutschen Buchpreis gewann: Ich solle höchstens in Branchenblättern inserieren, alles andere solle ich dem Preis selbst überlassen. Und wie Recht er hatte!)

Apropos Kleinverleger: In der Regel kann er sich für einen Titel nicht einmal Werbung in einer Literaturzeitschrift leisten, und also muss er viele seiner Bücher in der Hoffnung, dass einzelne Titel oder deren Autor durch irgendetwas entdeckt werden und auf unvorhergesehene Weise unter die Leute kommen. Wenn nicht, wird es den Büchern wie sehr, sehr vielen aus großen, mittleren und kleinen Verlagen ergehen: Sie liegen lange in irgendwelchen Lagern, bis endlich die Buchhaltung und der Steuerberater das entsprechende Zeichen geben und sie makuliert werden.

Die Rechnungen, die die Großen und die Kleinen für sich aufmachen, sind naturgemäß sehr unterschiedlich. Ein Unternehmen mit mindestens hundert festangestellten Mitarbeitern muss mindestens zweimal im Jahr einen sehr gut verkauften Titel haben, sonst stimmt die Rechnung nicht. Die Kleineren bis Kleinen - und Österreich hat außer Zsolnay/Deuticke, die zum deutschen Hanser-Konzern gehören, nur Kleine - arbeiten und rechnen ganz anders: wenige Mitarbeiter müssen die für alle Verlage gleiche Arbeit erledigen, es wird also, abgesehen von der berüchtigten Selbstausbeutung, mehr improvisiert, und vieles muss sozusagen nebenbei gemacht werden. Noch ist meines Wissens kein österreichischer Verleger reich geworden, so manchen aber quälen immer wieder schlaflose Nächte: Die Angestellten kommen oft verlässlicher zu ihrem Geld als der sogenannte Chef.

Alle wollen natürlich erfolgreich sein, die Autoren und die Verlage gleichermaßen, und Erfolg kann man messen. Das Echo der Jahrhunderte kommt später, erlebt werden Verkäufe oder ausbleibende Verkäufe. Bevor man in die Literaturgeschichte eingeht, muss man bekanntlich erst einmal überleben, und auch den Respekt von Freunden und Nachbarn erwirbt man nur selten durch eine gute Besprechung, verlässlich aber durch eine eindrucksvolle Platzierung auf den Sellerlisten.

Das bleibt natürlich auch nicht ohne Folgen für die Literatur. Notorisch ist die Unlust auf den Erwerb und die Lektüre von Gedichtbüchern, so rätselhaft das in meinen Augen auch ist: In einer Zeit, in der niemand mehr Zeit hat, wären Gedichte doch die ideale Lektüre.

Aber Gedichte sind offenbar schon zu sehr Literatur, und das schreckt viele ab. Eindeutig ist der Erfolg von Gedichten, Büchern mit Gedichten, Verlagen mit Gedichten im Programm abhängig vom allgemeinen Bildungsstand der Gesellschaft, also von der Schule, Universität und dem öffentlichen Diskurs über Bücher, Literatur und Kunst.

Geschriebenes, das nicht zweckgebunden ist, also Literatur, ist Kunst und somit wie Musik und bildende Kunst immer auch damit beschäftigt, Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, mit denen sich die Welt darstellen und befragen lässt. Dabei kommen immer Bedürfnisse des Erkenntniswillens, Anerkennung der Metaphysik mit den Mitteln rätselhafter Schönheit, die mehr ist als Geschmack, und ein nie unterdrückbarer Unterhaltungswille zusammen, und das geprägt durch eine individuelle Stimme, die - ich komme wieder zu den Gedichten - nicht in erster Linie daran denkt, auch verstanden zu werden.

Die damit verbundene Herausforderung an den Leser muss von diesem angenommen werden, wenn nicht, bleiben Befremden und Unlust - das heißt, man liest nicht weiter -, wenn aber doch, können Autor wie Leser das beseligende Gefühl erleben, unerwartet von einem Unbekannten verstanden worden zu sein. Das aber ist der eigentliche Sinn aller Kunstbemühung und also auch all jener, die an der Vermittlung arbeiten. Verlangt wird dazu Risikobereitschaft von beiden Seiten, und das ist selten. Noch seltener ist, dass die Vermittlerseite, also die Verlage, tatsächlich mitspielen.

Gedichtbücher sind immer kalkuliertes Minusgeschäft, daran ändern auch Jan Wagners unfassbare 35.000 verkaufte Exemplare seines mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten letzten Gedichtbandes ("Regentonnenvariationen") nichts. So leicht lässt sich das Publikum nicht umpolen. Viel lieber kommt man ihm dort entgegen, wo es sich verlässlich schon länger aufhält, wie man an den derzeit noch viel unfassbarer beliebten Krimis ablesen kann, die ja schon nicht mehr als Welle auf uns zukommen, sondern als kontinuierlich steigender Grundwasserpegel, auf dem mittlerweile die meisten Verlage Regatta segeln. Dass dabei nach den Gesetzen des Marktes bei Überangebot diversifiziert werden muss, hat ja dazu geführt, dass bald jedes Dorf, das auf sich hält, seinen Regionalkrimi hat.

Festangestellte

Kommissare

Diese Begeisterung über die Rettung einer von Verbrechen verseuchten Welt durch festangestellte Kommissare aller Art - die dieselben Depressionen und Liebesnöte plagen wie ihre Leser - scheint ungebrochen. Das wird nicht so bleiben, aber ob es Sinn macht, darauf zu warten, dass das kippt, muss jeder Verleger für sich entscheiden; bis dahin spielt man entweder mit, oder eben nicht.

Natürlich kann man auch mit der gehobenen oder besseren oder (Unwort!) Literatur-Literatur "Erfolg" haben, aber die Chancen sind deutlich geringer. Es dauert lang, bis der Anruf aus Stockholm kommt. Es ist ein großes Glück für die österreichische Literatur, dass unsere Verleger den Ehrgeiz zu qualitätvollen Titeln haben und Freude an der Entdeckung junger Talente. Offenbar haben sie auch Buchhändlerinnen und Leserinnen um sich, die dabei mithelfen: Ein Vergleich der Bestsellerlisten zeigt - anders als in den deutschen Listen - immer wieder literarische Titel in den oberen Rängen der österreichischen.

Das allein wird aber das Überleben des stationären Buchhandels und der auf ihn angewiesenen Verlage nicht garantieren. Denn das Verhalten der Kundschaft verändert sich entschieden: Man geht nicht mehr so gern einkaufen, wenn einem die gewünschte Ware auch durch die Post ins Haus geliefert werden kann. Amazon heißt der eine Drache, der den Buchhandel bedroht, der andere wird von den Computerfreaks gefüttert, die nicht einsehen wollen, dass geistige Arbeit bezahlt gehört und nicht einfach alles, nur weil es im Netz ist, auch allen gehört.

Die Zahlen für verkaufte E-Books gehen zwar nur sehr langsam nach oben, aber sie gehen nach oben, und andere Länder zeigen, wo das hinführt. (Siehe dazu auch Artikel auf Seite 35, Anm.) Und für E-Books brauche ich keine Buchhandlung. Nicht zuletzt frisst das schier unersättliche Informations- und Unterhaltungsbedürfnis die Zeit und vor allem die Muße der potentiellen Leserschaft.

Die bürgerliche Gesellschaft verändert sich, Literatur ist offenbar nicht geil, und immer mehr können sich ein Leben ohne Bücher sehr gut vorstellen. Unvorstellbar, was da alles verloren geht: Literatur - das sind ja nicht nur lustige und aufregende Geschichten; vielmehr ist das das Fundament unserer Fähigkeit, Seele und Geist zu erkennen und sich einen Begriff davon zu machen, was Mensch-Sein heißt. Wir müssen daher mehr als bisher in die Bildung investieren, um das zu erhalten, was wir Kultur nennen, einen überlegten Umgang mit der Welt und denen, die auf ihr leben. Bücher sind eben nicht nur Lebens-, sondern auch Überlebensmittel.

Das hat die Politik durchaus begriffen und den Büchern Vorteile in der Warenwelt eingeräumt, die ihr eigenes Überleben zwar nicht sichern, aber doch erleichtern: Der verminderte Mehrwertsteuersatz und der feste Ladenpreis sollten den Produkten einer Branche zur Hilfe kommen, die man für pädagogisch wertvoll und kulturell unersetzlich hielt und hält. Klugerweise hat man damals, Anfang der Neunzigerjahre, darauf verzichtet, Bücher in diesem Sinne unterschiedlich zu bewerten; man wäre in Teufels Küche gekommen, so aber werden die miesesten Trivialschinken mit den gleichen Vorteilen bedacht (da vom gleichen Händler vertrieben) wie etwa die Gedichte von Ingeborg Bachmann.

Diese genannten Vorteile müssen immer wieder (vor allem in Brüssel) mit Hilfe verständnisvoller Politiker verteidigt werden. Allen Beteiligten zum Dank ist das bisher gelungen, auf Dauer gewiss ist da aber leider gar nichts. Es wäre daher zu überlegen, ob nicht der Staat der Gesellschaft zuliebe das gesamte Buchwesen mit klug verwendeten Steuergeldern über alle Verlagsförderung hinaus ähnlich wie die Musik mit Oper und Ballett (oder die Kirche) eines Tages "verstaatlichen" müsste, die Bibliotheken wären dann nur ein Anfang gewesen.

Die Literatur selbst wird gewissermaßen - und sei es auf Privatcomputern - überleben: Sie entspringt dem menschlichen Grundbedürfnis, Erkenntnis und Phantasie mit Hilfe des Alltagsgeräts Sprache in Kunst zu verwandeln. Da das aber immer auch begleitet ist von dem Bedürfnis, das Ergebnis anderen mitzuteilen, brauchen wir Wege der Vervielfältigung und des anschließenden Vertriebs in die Hände anderer: auch eine Form der Mitmenschlichkeit.

Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt a. M., ist österreichischer Verleger (Verlag Jung und Jung, Salzburg) und Schriftsteller (zuletzt "Zwischen Ohlsdorf und Chaville", Haymon 2015).