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Das Nordkorea Afrikas

Von Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen
Kriegsruinen in Massawa, der eritreischen Hafenstadt am Roten Meer. Foto: Spreitzhofer

Ein Besuch in Eritrea, der Diktatur am Horn von Afrika, das seine Flüchtlinge auch im Ausland unter Kontrolle hat.


Es ist heiß auf Massawa, sehr heiß. 36 Grad Nachttemperatur am Roten Meer, wabernd staubige Schwüle zwischen den Ruinen der kolonialen Paläste aus italienischer Vergangenheit. Einige hundert Menschen wohnen noch hier. Man holt Wasser aus den Behelfsbrunnen, um Tee zu machen, und sucht ein sicheres Plätzchen für die Nacht, um seine Seildrahtbetten im Freien aufzustellen. Der Pool im legendären Red Sea Hotel jenseits des Dammes ist leer, und die heißen Parties der 1960er Jahre sind eine schwarz-weiße Fotovergangenheit in der leeren Lobby.

Die Bahnlinie hinauf ins Hochland, nach Asmara, verkehrt nur einmal wöchentlich, wenn überhaupt, vorbei an den Ruinen italo-kolonialer Thermalkurorte. Der Bahnhof selbst ist geschlossen und mit Brettern vernagelt. In der Wartehalle hausen Menschen, am Bahnsteig trocknen Socken an einem rostigen Kranwagen aus Milano, Baujahr 1935. Daneben ein Panzermonument unter Palmen, wo Veteranen auf Knopfdruck brackiges Wasser durch die Rohre schießen lassen. Davor einige wurmstichige Dhaus (Segelschiffe, Anm.) im dunstigen Schlick. Stille. Die guten Schiffe sind längst weg. Die meisten Menschen auch, nicht erst seit der letzten äthiopischen Offensive in Eritreas einzigem nennenswerten Hafen: "Der Hauptgrund für die Flucht ist die unglaubliche Unterdrückung aller Freiheitsrechte durch die Regierung", sagt Leslie Lefkow, die stellvertretende Afrika-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Quelle: Wikipedia

Flucht auf Landweg

Eine Opposition gibt es in dem Land ebenso wenig wie unabhängige Medien oder zivilgesellschaftliche Gruppen. Jüngste UN-Untersuchungen - auf Basis von Aussagen von Vertretern der Diaspora - sprechen von "sehr klaren Mustern" des Missbrauchs und Menschenrechtsverletzungen, von täglicher Folter, willkürlichen Festnahmen und unmenschlichen Haftbedingungen in Schächten und Erdhöhlen. Mindestens 3000 Eritreer verlassen nach Schätzungen der Vereinten Nationen jeden Monat das Land, Tendenz unverändert.

Die meisten flüchten auf dem Landweg. In Israel sollen sich gegenwärtig 40.000 eritreische Staatsbürger aufhalten, im benachbarten Äthiopien 87.000, im Sudan 125.000. Laut UN-Flüchtlingswerk sind weltweit rund 260.000 Eritreer als Flüchtlinge registriert. Ohne den blutigen Bürgerkrieg im Nahen Osten würde Eritrea einen traurigen Rekord halten: Nach den Syrern haben Flüchtlinge aus Eritrea mit 80 Prozent die höchste Anerkennungsrate in der EU. 47.000 Eri-treer sind 2014 nach Europa gekommen, viele in maroden Booten über das Mittelmeer. Nicht wenige haben dort ihr Leben gelassen: Eritrea, das aus dem Altgriechischen abgeleitet so viel wie Rotes Meer bedeutet, ist Blutbäder gewohnt.

Dabei ist der Krieg vorbei, anders als in Syrien oder Somalia, einem weiteren Spitzenreiter in der Flüchtlingsstatistik. Christian Manahl, EU-Botschafter in Eritrea, nennt vor allem zwei Ursachen: hohe Arbeitslosigkeit und einen unbegrenzten "nationalen Dienst". Letzterer umfasst den Militärdienst, der offiziell auf 18 Monate beschränkt ist, aber auch zivile Aufgaben.

Allgegenwärtige Propaganda in dem seit 22 Jahren unabhängigen Staat, dessen Grenzkonflikte mit Äthiopien nach wie vor nicht beigelegt sind. Foto: Spreitzhofer

Wanda etwa muss Lehrerin sein, obwohl sie das nie wollte: Sie unterrichtet eine Klasse mit 65 Kindern im Rahmen des "National Service", Ende ungewiss. "Ich denke, das wird noch lange so weitergehen", sagt sie und surft auf ihrem gelben Smartphone, das ihr Bruder, der längst in Dubai lebt, ihr zukommen hat lassen. Asmara selbst hat sie noch nie verlassen, denn Travel Permits oder gar Reisepässe für Eritreer sind nur in Ausnahmefällen zu bekommen.

Italienisches Zentrum

Asmara, die Hauptstadt Eritreas, liegt auf 2300 Metern. Eine leise, geduckte Stadt, sauber, umgeben von grauen Hügeln mit Forts und vielen Senderanlagen, ohne glitzernde Wolkenkratzer. Das charmante, altitalienische Zentrum erstrahlt in pastellfarbenem Art Nouveau, mit Brunnen und toskanischen Türmchen. Moscheen und Kathedralen stehen in trauter, überreligiöser Eintracht. Auch Kinos gibt es viele, wie etwa das Impero mit seinen 1800 Plätzen, auch wenn die meisten heute oft Lagerhallen sind. Die Albergo Italia ist immer noch da, oder die Pensione Pisa, gleich neben dem kleinen Frisiersalon Gianni & Gina, dessen Schaufenstergestaltung aus Mussolinis Zeiten stammen muss. Der Latte Macchiato in der Pasticceria Moderna mundet hervorragend, und vor der Pizzeria Napoli stehen etliche Fashionistas Schlange, die sich auch in Mailand eingekleidet haben könnten.

Das Nationalmuseum ist wegen Renovierung geschlossen, auch wenn die Kassadame trotzdem da ist, Dienst ist Dienst. Geschichtsbewältigung ist wieder einmal angesagt, wenn schon die Gegenwart totgeschwiegen werden muss. Man spricht leise, geht langsam und fällt am liebsten nicht auf. Kein lautes Wort irgendwo, kein Hupen. Selbst die Fiat 600, die Fahrschulautos der "Africa Driving School", klingen gedämpft. Keine Uniform weit und breit, von einem eritreischen Carabiniere mit grüner Schirmmütze abgesehen, der unaufgeregt Kaffee in den Arkaden der früher wohl prächtigen Oper aus den 1920er Jahren trinkt, wo die letzte Aufführung schon lange her sein muss. Man sitzt, schaut und schweigt.

Dass die nationale Stasi hier aus und ein geht, ganz in Zivil, ist kein Geheimnis. Es gibt in Eritrea weder Meinungs- noch Versammlungsfreiheit. Der falschen Reli- gion anzugehören, etwa einer Pfingstkirche, endet mit Haftstrafen. Selbst touristische Klosterbesuche sind genehmigungspflichtig und haben einen bürokratischen Vorlauf von vielen Monaten. Wer sich dagegen auflehnt, riskiert sein Leben und die Zukunft seiner Verwandten im Land.

Von 1890 bis 1941 italienische Kolonie, stand Eritrea danach unter britischer Verwaltung und wurde 1961 zur Provinz Eritrea des Äthiopischen Kaiserreiches von Haile Selassie. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1993 hat die Regierung unter Langzeitpräsident Isayas Afewerki - Amnesty International zufolge - mindestens 10.000 Menschen festgenommen, vorwiegend aus politischen und religiösen Gründen. Meron Estephanos, Gründerin der Internationalen Kommission von Flüchtlingen aus Eritrea, gibt sich gegenüber BBC keinen Illusionen hin: "Wir haben eines der repressivsten Regime der Welt. Die Menschen haben einfach alle Hoffnung verloren".

"Ein-Mann-Staat"

Das Land ist heute eines der ärmsten der Welt. Dabei war Eri-trea einmal ein afrikanischer Musterstaat, mit einer vorbildlichen Verfassung. Das war kurz nach Ende des 30-jährigen Unabhängigkeitskrieges gegen Äthio-pien. Heute gilt das Land als Nordkorea Afrikas, isoliert von seinen Nachbarn Sudan und Äthiopien, abgeschottet und vom früheren Rebellenführer Afewerki mit eiserner Hand regiert - nach Ansicht der äthiopischen Regierung agiert der 69-jährige Staats- und Regierungschef so, als sei er immer noch im Busch: von vermeintlichen Feinden umgeben, gegen die nur ein allgegenwärtiger Sicherheitsapparat hilft.

Nach wie vor kann jeder Eritreer von der Schulbank bis zum Greisenalter jederzeit zum Militärdienst gegen Äthiopien verpflichtet werden, mit dem der Grenzkonflikt weiterhin nicht beigelegt ist, trotz der offiziellen Grenzfixierung 2002.

Der "International Crisis Group" aus Brüssel zufolge hat sich der Einparteienstaat Eritrea längst in einen "Ein-Mann-Staat" verwandelt, in dem kein Widerspruch gegen Afewerki geduldet wird. Unter den Letzten, die das gewagt hatten, war die sogenannte "Gruppe der 15", die sich aus ranghohen Mitgliedern der Regierungspartei "Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit" (PFDJ) zusammensetzte. In einem offenen Brief hatten sie den Präsidenten 2001 aufgefordert, ein Mehrparteiengesetz zu verabschieden.

Der von Eritrea begonnene Grenzkrieg mit Äthiopien, der von 1998 bis 2000 über 100.000 Opfer gefordert und Eritrea wirtschaftlich ruiniert hatte, war ein Jahr zuvor beigelegt worden. Elf der 15 Dissidenten wurden zusammen mit zehn Journalisten umgehend verhaftet. Auch 14 Jahre später bleibt das Schicksal der Häftlinge im Dunkeln.

Auf der jährlich erscheinenden Rangliste der Pressefreiheit, die von "Reporter ohne Grenzen" veröffentlicht wird, nimmt das Land 2015 den 180. und letzten Platz ein. Zumindest die digitale Zensur übernimmt die miserable Infrastruktur der vielen Internet-Cafés, wo der Download von Websites Stunden dauert, falls der Generator überhaupt Strom produziert. Nächtens geht in der Regel das Licht ohnedies bald aus, und oft auch der Ventilator, was bei 36 Grad unerfreulich ist.

"Damals, beim Roten Kreuz, war alles gut. 4700 Nakfa im Monat, pünktlich bezahlt, regelmäßige Arbeitszeiten." Yohannes, der gar nicht Yohannes heißt, aber seinen Namen hier nicht gerne lesen würde, ist heute Fahrer für eine der staatlichen Tourismusagenturen und verdient ein Drittel davon. "Sie haben sämtliche NGOs und die Vertreter der UNO des Landes verwiesen", weiß er seit seiner Kündigung beim Roten Kreuz. Mehr als zweimal monatlich hat er selten zu tun. Denn Fremde sind in Eritrea suspekt, ein Visum ist nur mit vierwöchiger Wartezeit zu bekommen, wenn es Asmara überhaupt genehmigt.

Lauernde Agenten

Yohannes, 43, war davor sieben Jahre Soldat und hat in dieser Zeit jedes Fahrzeug steuern gelernt: vom Motorboot am Roten Meer bis zum Panzer in den staubigen Terrassen an der äthiopischen Grenze. "Mein Sohn ist in der Armee und verdient 500 Nakfa", sagt er in gebrochenem Englisch. Italienisch kann er besser.

Damit kommt man in Downtown Asmara nicht weit - eine Pizza Cardinale ist dort um 160 Nakfa, ein Asmara Coke made in Eritrea um 15 zu haben, das entspricht nach offiziellem Kurs einem US-Dollar. Der Schwarzmarkt bietet für Devisen das Vierfache, bloß riskieren Beteiligte langjährige Gefängnisstrafen und Geldbußen in Millionenhöhe. Und so kostet ein simpler Snack für Ausländer mehr als doppelt so viel wie ein Touristenmenü im Herzen von Florenz, denn ohne gute Freunde ist Geldwechsel lebensgefährlich. Agents Provocateurs der Staatspartei lauern überall, sagt Wanda, 22, die gegen harte Dollars für staatliche Reiseagenturen "Travel Permits" organisieren kann.

Die braucht es, um Asmara überhaupt verlassen zu dürfen. Es gibt sie nur in Asmaras Tourismusministerium, je nach tagespolitischer Stimmung, und nur für ausgewählte Gebiete wie Keren oder Massawa, die nicht im Grenzbereich liegen. Die Straßen zumindest dorthin sind gut asphaltiert und kaum befahren, bestehen aus teils stundenlangen spektakulären Bergstrecken ohne jeden öffentlichen Verkehr, wurden mit chinesischer Hilfe aus militärischen Motiven in die grauen Schluchten gehauen, sind extrem steinschlaggefährdet - und vielfach schon wieder am besten Weg, von der Natur zurückerobert zu werden, betrachtet man so manche abgerutschte Leitplanke im wuchernden Grün.

90 Prozent des Landes, das etwa eineinhalb Mal so groß ist wie Österreich, weisen Hangneigungen über 35 Prozent auf, was kaum weltmarkttaugliche Ernten zulässt. Bloß ab und zu durchbricht ein ausgebranntes Panzerwrack in einem Dornenbusch die staubige Monotonie. Bisweilen liegen auf italienischen Friedhöfen dicke Kondolenzbücher auf, die würdige, alte Mesner überreichen: Die letzten Eintragungen liegen meist Monate zurück. Gelegentlich passiert man einen schläfrigen Checkpoint mit gelangweilt-korrekten Soldaten in Hängematten unter blühenden Kakteenbäumen, die Ausländer mit gültigen Permits einfach durchwinken. Laissez-faire und gespielte eritreische Idylle.

Dicht wird der Verkehr nur Freitag Abend im Küstenbereich von Massawa am Roten Meer, zwei Fahrstunden oder 110 Kilometer entfernt von Asmara (und 2300 Höhenmeter tiefer gelegen), wo die nationale Nomenklatura ihre Wochenenden im Gurgussum Beach Hotel verbringt, Selfies von Sonnenuntergangsritten auf prächtig geschmückten Kamelen zelebriert und weder die zerschossenen Prunkbauten von Massawa Island noch die Skelette der zertrümmerten Zementfabriken vor Augen hat. Offizielle Ausreisesteuern für Touristen gibt es keine mehr. Dafür mehrseitige Fragebögen des nationalen Tourismusamtes, "um künftig noch besser auf die Wünsche der Urlauber eingehen zu können", wie der nette Herr im Maßanzug in der Ausreisehalle am mitternächtlichen Airport betont.

Rund fünf Prozent der Bevölkerung des 6,3-Millionen-Staates am Horn von Afrika sind längst außer Landes, ganz ohne Fragebogen. Doch das Regime lässt sie auch dort nicht unbehelligt: Eritrea leidet unter dem Brain Drain Gebildeter nicht nur, sondern profitiert auch nicht unwesentlich davon. Etwa eine Million (geflüchtete oder offiziell emigrierte) Auslandseritreer erbringen mit ihren Geldüberweisungen ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes des Landes, das von seinen im Ausland lebenden Bürgern recht erfolgreich eine zweiprozentige Einkommenssteuer eintreibt.

"Aufbausteuer"

Bis 2011 hatte diese Steuer in Mitteleuropa alljährlich an die eritreische Botschaft in Berlin überwiesen zu werden, was auf Druck der deutschen Bundesregierung untersagt wurde. So muss man heute in Eritrea vor Ort seine nationalen Schulden in bar bezahlen (lassen), kann sonst nämlich weder ein Erbe antreten, ein Grundstück kaufen noch sich eine Geburtsurkunde oder andere Dokumente ausstellen lassen.

"20 Jahre sind eine kurze Zeit, um eine Nation aufzubauen. Wir haben durch den Krieg zwei Generationen verloren, die keine richtige Ausbildung bekommen konnten", rechtfertigt Präsidentenberater Yemane Ghebreab die Taxe, um den keulenförmigen Kleinstaat wirtschaftlich auf Vordermann zu bringen.

"Das Regime ist existenziell angewiesen auf die Einkünfte aus der Aufbausteuer", bestätigt Ostafrika-Expertin Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (SWP) und warnt gleichzeitig vor einseitiger Hysterie, da harte Zahlen und Fakten zu Flüchtlingszahlen, Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung fehlen, seit internationale Organisationen des Landes verwiesen wurden. "Hochrangige Diplomaten gehen davon aus, das sich viele Äthiopier als Bürger Eritreas ausgeben, weil man dorthin nicht abgeschoben werden darf."

Wanda, die natürlich auch nicht Wanda heißt, ihrer persönlichen Sicherheit zuliebe, freut sich jedenfalls. Ihr großer Bruder kommt demnächst angereist, weil er in Dubai heiraten will und dafür persönliche Familiendokumente braucht. Ausreichend Geld und hoffentlich auch Geschenke wird er wohl mitbringen. Denn das Regime hat nicht nur mit Big Brother Äthiopien noch etliche Rechnungen offen.

Günter Spreitzhofer, geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien.