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Raus aus der sozialen Apartheid

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen
Selbstbewusste Logistikerin bei einem Ölkonzern: Marli Barros aus Salvador, Bahia. Foto: Lichterbeck

Wie schwarze Frauen in Brasilien den Aufstieg proben - auch gegen aktuelle Widerstände.


Die Tour von Marli Barros begann um 23 Uhr. Sie steckte ihre 38er ins Halfter und fuhr über die riesige Raffinerie des Ölkonzerns, wachte darüber, dass niemand eindrang, um zu stehlen oder zu sabotieren. Die nächtliche Patrouille auf der Industrieanlage konnte mehrere Stunden dauern und Marli Barros fühlte sich unsicher. Sie hatte gerade erst ihren Führerschein gemacht und die dampfende und schnaufende Raffinerie mit ihren enormen Tanks erschreckte sie anfangs. Noch etwas kam hinzu. "Ich war die erste Frau im Sicherheitsapparat des Konzerns", sagt Barros. "Die Männer waren ausschließlich ehemalige Angehörige des brasilianischen Militärs und betrachteten mich mit Misstrauen. Aber ich ebnete den Weg für viele andere Frauen nach mir."

Heute reist Marli Barros als Logistikerin in die hintersten Winkel Brasiliens, um für denselben Ölkonzern Probebohrungen nach Öl und Gas zu begleiten. Und wieder ist sie die einzige schwarze Frau im Team. Manchmal hat sie deswegen das Gefühl, benachteiligt zu werden. "Ich beiße mich durch", denkt sie dann. Einmal im Monat besucht Marli Barros ihren Vater. Ihr silberfarbener Geländewagen wirkt dann wie ein Fremdkörper auf dem kleinen Bauernhof im Hinterland des armen brasilianischen Bundesstaats Bahia.

Hier wurde Marli Barros geboren und von einer Tante aufgezogen, weil ihre Mutter nach der Geburt fortging und ihr Vater hart arbeitete. Eigentlich sprach wenig dafür, dass sie einmal Jus studieren und einen gutbezahlten Job finden würde. Dass sie sich eine Wohnung in der Millionenstadt Salvador kaufen und als Erste aus ihrem Dorf durch Europa reisen würde. Und auch dass sie einmal sagen würde: "Ich bin von keinem Mann abhängig."

Kriegerinnen

Bei uns würde man Marli Barros wohl als Powerfrau bezeichnen. In Brasilien sagt man Guerreira, Kriegerin. Sie zählt zu einer neuen Generation schwarzer Frauen, die sich den klassischen Rollen verweigern, die eine immer noch kolonial aufgebaute Gesellschaft vorsieht: Putzfrau, Kindermädchen, Kassiererin.

Stattdessen sind diese Frauen Unternehmerinnen, Schauspielerinnen, Technikerinnen. Sie verdienen ihr eigenes Geld, wollen die Welt sehen, haben höhere Ansprüche an Männer. Viele von ihnen kommen aus einfachen, armen Familien und verdanken ihren Aufstieg auch den neuen Möglichkeiten, die das Wachstum Brasiliens in der letzten Dekade eröffnet hat. Sie hatten die Möglichkeit, zu studieren, eine Ausbildung zu machen - Wege, die ihren Eltern verschlossen blieben.

In Brasilien war der Lebensweg eines Menschen jahrzehntelang von der Herkunft abhängig. Wer arm geboren wurde, blieb es auch. Und wer schwarz war, war in der Regel arm. Ganz unten in der Skala: schwarze Frauen. "Unsere Haut ist unsere Geschichte", sagt Marli Barros. "Sie wiegt schwer. Mehrere hundert Jahre." Wie aufgeladen das Thema ist, zeigte die Episode um einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren Brasiliens. In seiner Sendung fragte er kürzlich eine schwarze Frau mit Afro, warum sie einen "Wischmob" auf dem Kopf trage - ohne jede Konsequenz. Immer noch gelten afrikanische Haare in Brasilien als cabelo ruim, "schlechtes Haar". Marli Barros hat nun, nach einigem Zögern, beschlossen, statt der eingeflochtenen Zöpfe ihre natürlichen Haare wachsen zu lassen. Sie ist sich nicht sicher, wie es bei ihrer Arbeitsstelle ankommen wird.

Es gibt in Brasilien einen verlässlichen Seismographen für gesellschaftliche Verschiebungen: die Telenovelas des Fernsehsenders Globo TV. Was dort verhandelt wird, ist im Mainstream angekommen. Seit März läuft zur besten Sendezeit die Novela "Babilônia", benannt nach einer Favela an den Hängen der Copacabana. Das Neue daran: Einige Hauptfiguren sind schwarze Frauen, die nicht wie sonst als Hausmädchen in den Luxusapartments weißer Familien arbeiten, sondern Anwältin und Kleinunternehmerin sind.

Schauspielerin Viviane Porto. Foto: Lichterbeck

Viviane Porto spielt in "Babilônia" eine wortkarge schwarze Friseurin, die von ihrer Chefin - selbst dunkelhäutig - entlassen wird, weil sie in der Favela wohnt. Porto glaubt, dass "Babilônia" eine Revolution sei. Die Novela werde einmal als Schlüsselmoment begriffen, sagt sie. Der ganze soziale Dünkel Brasiliens komme mit verblüffender Offenheit zur Sprache. Es gehe um Rassismus, Homophobie, Armut, Stereotype.

Viviane Porto stammt selbst aus einfachen Verhältnissen. Sie wuchs in São Paulo als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf, die hart arbeitete, um Viviane auf eine gute Schule zu schicken. Dort war sie unter 2000 Schülern nur eines von zwei schwarzen Mädchen. Mit 15 schloss sie sich einer Theatergruppe an und wurde kurz darauf von einem TV-Ballett engagiert. 50 Tänzerinnen traten dort auf. Wieder war sie nur eine von zwei Schwarzen. Der Rest: weiße Mädchen mit glatten Haaren, dem Schönheitsideal Brasiliens entsprechend, das bis heute an Europa orientiert ist.

"Rassendemokratie"

Anschließend bekam Porto Nebenrollen in Telenovelas mit Namen wie "Schokolade mit Pfeffer". Sie lernte ihren späteren Ehemann kennen, einen Italiener, bekam zwei Kinder, lebte lange in Triest. Nun ist "Babilônia" für sie der Wiedereinstieg in die Schauspielerei. Allerdings gibt es ein Problem: "Babilônia" verliert dramatisch an Einschaltquoten. "Es werden Wahrheiten ausgesprochen, die die Brasilianer nicht hören wollen", glaubt Porto. "Das Land schaut ungern in den Spiegel, weil es erkennen müsste, dass es nicht so schön ist, wie es glaubt."

In Brasilien existiert der Begriff "Rassendemokratie", es ist die Entsprechung zum US-amerikanischen "Schmelztiegel". Doch anders als in den USA vermischen sich die Menschen in Brasilien viel ungezwungener. Ein Drittel der Heiraten wird zwischen Partnern geschlossen, die sich verschiedenen Ethnien zurechnen (diese bestimmt jeder im Zensus für sich selbst). Das hat zu einer faszinierenden menschlichen Vielfalt geführt.

Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass fast ausschließlich die Ärmeren gemischt heiraten. Je weiter man in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben schaut, umso monotoner wird es. Im Zensus von 2010 definierten sich 52 Prozent der Brasilianer als schwarz. Aber an den Tischen der besseren Restaurants sitzen ausschließlich Weiße, die Dunkelhäutigen arbeiten in der Küche. In Rios Neureichenviertel Barra da Tijuca (Hauptaustragungsort der Olympischen Spiele 2016) sind 90 Prozent der Haushalte weiß, schwarz sind die weiblichen Bediensteten. Während der Fußball-WM (2014) wunderten sich viele über das hellhäutige Publikum in den Stadien: Das waren die Brasilianer, die sich die Tickets leisten konnten. Die Dunkelhäutigen waren für die Unterhaltung auf dem Rasen zuständig.

Man spricht in Brasilien nicht gern darüber, und man kann sich als Ausländer auf schicken Dachterrassenpartys in Rio schnell unbeliebt machen, wenn man sagt, dass man Brasilien nicht für das Sonnensambacaipirinha-Paradies, sondern für ein ungerechtes Land halte. Auf Kritik von außen reagieren sie hier besonders empfindlich.

Brasilien präsentiert sich lieber als frohe, postkoloniale, farbenblinde Nation. Umso schockierender die Abgründe. Als Globo TV dieses Jahr erstmals eine Schwarze als Wetteransagerin einsetzte, schwappte eine Welle von Hass durchs Internet. Der Nachrichtenchef des Senders - ausgerechnet Autor des konservativen Pamphlets "Wir sind keine Rassisten" - war gezwungen, Strafanzeige zu erstatten.

Extrem sind die Zustände in Politik und Wirtschaft. Die Vorstände der 380 an der brasilianischen Börse notierten Firmen sind ausnahmslos weiß. Unter den 38 Ministern im Kabinett von Präsidentin Rousseff findet sich nur ein Schwarzer: der Minister für ethnische Gleichstellung. Brasilien hat 26 Gouverneure: 25 weiße Männer, eine weiße Frau. Kaum eine Elite hat höhere Mauern um sich herum gezogen. Black mag beautiful sein, aber den Schwarzen bleiben die Türen verschlossen. Manche nennen das soziale Apartheid.

Konservative Welle

Der soziale Wandel in Brasilien ist jung, er ist fragil und mag nicht von Dauer sein. Aber er ist da. Seit 2002 sind 30 Millionen Brasilianer in die untere Mittelklasse aufgestiegen. Dank Wirtschaftswachstum und umfangreicher Sozialprogramme. Diese Mobilität ist nun durch den Einbruch der Wirtschaft und eine tiefe Krise des politischen Systems gefährdet. Die Reaktionäre in Politik, Medien und den Sicherheitskräften haben Auftrieb, und Brasilien erlebt eine Welle des Ultrakonservatismus. Die Eliten möchten die alte, quasi-koloniale Ordnung wiederherstellen, sogar Rufe nach einem Militärputsch werden laut.

Wenn man die beiden Frauen fragt, ob es ein Mittel dagegen gibt, dann nennen sie die Bildung. Viviane Porto wurde von ihrer Mutter animiert, zu lesen. Und Marli Barros sagt: "Bildung ist der Schlüssel, damit sie das Rad nicht wieder zurückdrehen."

Brasilien schaffte die Sklaverei 1888 ab, als letzte Nation Amerikas. Es hatte mehr Sklaven als jedes andere Land der Welt importiert. Aber frei waren die Sklaven nun dennoch nicht, weil man ihnen weder Bildung noch Land oder Kapital gab. So waren sie vor allem frei von Möglichkeiten. Es begann eine Abhängigkeit, die nicht mehr Sklaverei hieß, aber genauso war, und die sich bis heute fortgepflanzt hat.

Marli Barros, Viviane Porto und viele andere haben den Zirkel durchbrochen: "Unsere Hautfarbe mag uns immer noch Türen verschließen, aber sie tauschen? Niemals."

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt zur Zeit in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.