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Prophetischer Gedankenflug

Von Christian Pinter

Reflexionen

Vor 150 Jahren erschien Jules Vernes Roman "Von der Erde zum Mond". Der Franzose nahm darin überraschend viel vorweg.


Im Frühjahr 1865 endet der Amerikanische Bürgerkrieg - nach vier Jahren Dauer und 620.000 Gefallenen. Der lange zuvor in Baltimore gegründete Gun-Club ist deshalb sehr unglücklich. Seine Mitglieder, in erster Reihe Artillerie-Experten, haben sich bisher der "Verbesserung" von Feuerwaffen gewidmet. Die amerikanischen Kanonen übertreffen europäische bei weitem: Eine einzelne Kugel tötete im Sezessionskrieg bis zu 215 Südstaatler. Im Feuer dieser sogenannten "Columbiaden" sind Menschen gefallen "wie Ähren unter der Sense". Doch ohne Aussicht auf Krieg steht der Gun-Club, ein Verein von "Würgeengeln", nun vor seiner Auflösung.

So lässt Jules Verne (1828- 1905) seinen Roman "De la Terre à la Lune" ("Von der Erde zum Mond") beginnen. Zuvor hat der Franzose bereits "Fünf Wochen im Ballon" und "Reise zum Mittelpunkt der Erde" veröffentlicht. Sein neuestes Werk erscheint ab 14. September 1865 als Vorabruck im "Journal des débats" und am 25. Oktober auch als Buch.

Angesichts des bevorstehenden "unfruchtbaren Friedens" überrascht Impey Barbicane, der 40-jährige Präsident des Gun-Clubs, seine Mitglieder mit einer bahnbrechenden Idee: Eine noch zu entwickelnde Riesenkanone wird ein Projektil auf den Erdtrabanten schießen!

Auf Atomraketen ins All

Der Mond soll kurz nach dem Abfeuern am höchsten Punkt des Himmels stehen. Das bedingt einen Startplatz zwischen dem 28. südlichen und nördlichen Breitenkreis: Auf US-amerikanischem Boden kommen da nur zwei Bundesstaaten in Frage. In Texas rivalisieren Städte wie Corpus Christi und Laredo; also entscheidet man sich für eine südlich von Tampa gelegene Region Floridas. Weil Greenwich damals noch nicht den internationalen Nullmeridian definiert, gibt Verne die Koordinaten des Abschussorts relativ zu Washington an.

Er liegt knapp 220 Kilometer südwestlich von Cape Canaveral, das später zur Heimstatt des US-Weltraumbahnhofs wird. Möglichst äquatornahe Raketenstartplätze nützen die Erdrotation nämlich besser aus und sparen so einige Prozent an Energie. Die Ostküste wird es den US-Raketen außerdem ermöglichen, über dem Atlantik, also über unbewohntem Gebiet aufzusteigen. Aus vergleichbaren Gründen küren die Sowjets 1957 Baikonur zu ihrem Kosmodrom. Es liegt in der damaligen Unionsrepublik Kasachstan.

Selbst heutige Kanonen könnten ein antriebsloses Geschoß nicht auf die für den Mondflug erforderliche Geschwindigkeit von rund 40.000 km/h beschleunigen. Dazu braucht es kräftige Raketen. Diese entstammen, ebenso wie Vernes Riesenkanone, der Kriegstechnik. Zunächst entwickelt sie Nazi-Deutschland. Nach dem Krieg folgen die UdSSR und die USA. Immer geht es darum, Bomben bzw. Atomsprengköpfe über möglichst weite Distanzen zu befördern. Der Sputnik, aber auch die Menschen in den ersten Raumschiffgenerationen Wostok, Mercury, Woschod und Gemini - sie alle werden an der Spitze von entsprechend adaptierten bzw. erweiterten Atomraketen ins All reiten.

Um den Mond in möglichst geringer Erddistanz zu treffen, soll Vernes Kanone bereits am 1. Dezember des Folgejahres losfeuern. Das ist knapp bemessen. Im Wörterbuch der Amerikaner, so Verne, gibt es aber keinen Ausdruck für "unmöglich". Zweifel, Bedenken oder Besorgnisse würden diese "geborenen Ingenieure" nicht kennen. Tatsächlich werden ausgerechnet die USA in der Raumfahrt führend sein. Nur die Sowjetunion treibt anfangs die Raketentechnologie aus strategischen Gründen noch entschiedener voran. Das Wettrennen zum Mond erlaubt jedenfalls kein langes Zaudern. Zwischen dem Sputnik (1957) und der ersten sowjetischen Mondsonde Luna 1 verstreichen bloß 15 Monate. Zwischen Juri Gagarins erstem Aufstieg ins All (1961) und jenen Stiefelabdrücken, die Neil Armstrong im Mondstaub zurücklässt, liegen nur acht Jahre.

"Mondsüchtige" USA

1961 erklärt Präsident John F. Kennedy die Mondlandung ausdrücklich zum nationalen Ziel ("This nation should commit itself..."). Der Kreml tut es ihm gleich, wenngleich geheim. Zur nationalen Kraftanstrengung gerät das Projekt auch in Jules Vernes Roman: Ganz Amerika ist "mondsüchtig", 25 Millionen Herzen fühlen denselben Pulsschlag. Aber auch andere Länder steuern Mittel bei. Selbst Österreich zeigt sich "inmitten seiner Finanznot recht edelmütig". Schließlich kommen 5,5 Millionen US-Dollar zusammen. Das US-Apollo-Programm wird 25 Milliarden kosten.

Der Gun-Club-Präsident Barbicane will den Mond zu einem Bundesstaat der USA machen. Die Yankees, so Verne, haben "keinen anderen Ehrgeiz mehr, als den, von diesem neuen Kontinent der Lüfte Besitz zu ergreifen, und das Sternenbanner der Vereinigen Staaten Amerikas auf seinem höchsten Gipfel aufzupflanzen". In "Besitz" wird der Mond nicht genommen, wenngleich die Apollo-Astronauten dort ab 1969 tatsächlich das Sternenbanner hissen. Schon zehn Jahre zuvor schlägt die unbemannte Sonde Luna 2 hart auf dem Mond auf und verstreut dabei metallene Sowjet-Embleme.

Im Roman erfährt die ganze "armselige Halbinsel Florida" dank der neu entstehenden, "merkwürdigen Industrie" einen wirtschaftlichen Aufschwung. Tatsächlich werden sich dort, auch wegen des Startkomplexes am Cape Canaveral, später etliche Firmen der Aerospace Industry ansiedeln - also solche, die mit Raum- und Luftfahrt zu tun haben. Tampa erhält bei Verne den Beinamen "Mondstadt".

In Wirklichkeit bekommt das mit der US-Raketenentwicklung verbundene Huntsville in Alabama den Spitznamen "Rocket City". Das Kosmonauten-Ausbildungszentrum nahe Moskau wird "Sternenstädtchen" genannt. 1965 verlegt die NASA ihr Flugkontrollzentrum von Florida nach Houston, Texas: Das weitläufige Gelände mutiert inoffiziell zur "Space City".

In Vernes Florida treibt man einen kolossalen Kanonenschacht für die Columbiade in die Erde: 18 Meter breit und 270 Meter tief. 1200 Öfen schmelzen 60.000 Tonnen Eisen, um die dicken Wände des Kanonenlaufs zu schmieden. Die Mondrakete Saturn V wird im Juli 1969 eine Gesamthöhe von 111 Metern erreichen, mit dem Raumschiff Columbia an ihrer Spitze. Das 2,7 Meter breite Kanonenprojektil ist bei Verne aus Aluminium gefertigt, da dieses "zäh wie Eisen, schmelzbar wie Kupfer und leicht wie Glas" ist. Auch bei den Apollo-Schiffen baut man auf dieses Leichtmetall.

Glocken und Kegel

Im Roman schlägt der französische Abenteurer Michel Ardan vor, das hohle, kugelförmige Geschoß durch einen zylindrischen Körper mit aufgesetztem Kegel zu ersetzen. So entsteht ein Gefährt für Menschen! Die Sowjetunion wird später auf die einfacher zu handhabende Kugel bzw. auf die Glockenform setzen. Die Apollo-Kapseln sind hingegen Kegelstümpfe. Zumindest mit dem angeschlossenen, zylindrischen Servicemodul erinnern sie äußerlich an Vernes Projektil. Sie sind bloß 1,2 Meter breiter.

In Jules Vernes Geschoß finden drei Männer Platz: Barbicane, Ardan und Kapitän Nicholl, der schärfste Kritiker des Projekts. Tatsächlich werden Drei-Mann-Crews in der US-Raumfahrt ab 1968 Standard. Ein NASA-Chef (gleichsam Vernes "Präsident") ist zwar nie an Bord, jedoch übernehmen zwei Space-Shuttle-Kommandanten, Jahre nach ihren Flügen, die Leitung der gesamten Raumfahrtbehörde.

Angesichts des nun bemannten Mondflugs vervielfacht sich im Buch das Interesse der Öffentlichkeit. In der realen Raumfahrt wird das ebenso sein: Kaum jemand erinnert sich noch an die erste weiche unbemannte Mondlandung - aber wohl jeder an den ersten Menschen auf dem Mond!

Ardan betont vor 300.000 begeisterten Zuhörern: Planeten und Sterne werde man bald so leicht, rasch und sicher bereisen wie den Atlantik. In nur 20 Jahren soll die Hälfte der Erdbewohner einen Besuch auf dem Mond absolviert haben.

Ab 1952, also lange vor dem ersten Satellitenstart, wird Wernher von Braun diesen Faden gewissermaßen wieder aufgreifen. Der Konstrukteur der todbringenden V2 und später auch der Mondrakete Saturn V verfasst Artikel für das amerikanische "Collier’s Magazin". Darin appelliert er an den Pioniergeist der USA. Der Mensch, so seine Kernaussage, könne den Weltraum schon bald erobern. Von Braun gestaltet außerdem drei populäre Fernsehfilme der Disney-Studios mit: Von rotierenden Raumstationen fliegt man zum Mond weiter. Alles sieht leicht und machbar aus.

Den harten Aufprall auf dem Mond will Ardan mit luntengezündeten Feuerwerksraketen mildern. Die Sowjetunion wird ab 1964 Feststoffbremsraketen einsetzen: Sie machen den Aufschlag der Woschod-Raumschiffe auf dem Erdboden erträglicher; denn der ist trotz des Fallschirms noch ziemlich heftig. Die Apollo-Landefähre bemüht beim Abstieg zur Mondoberfläche hingegen ein kräftiges Flüssigkeitsraketentriebwerk.

Wie Astronomen zu Jules Vernes Zeit sehr wohl wissen, besitzt der Mond keine Atmosphäre. Doch vielleicht, so spekuliert Ardan blauäugig, verstecke die sich ja am Boden tiefer Täler. Wo Luft existiert, gibt es auch Wasser - ist er überzeugt. Vielleicht fände man dort sogar Lebewesen.

Der Abenteurer verweist auf irdische Geschöpfe, die 60 Atmosphären Druck aushalten - und siedend heiße Quellen ebenso bevölkern wie das Eismeer der Pole. Die Mittel der Natur reichten "bis zur Allmacht", meint er euphorisch. Tatsächlich existieren auf Erden Lebewesen, die Extreme lieben: Diese meist einzelligen Mikroorganismen gedeihen unter unglaublichen Bedingungen. Wie man heute mutmaßt, könnte man solche Extremophile auch anderswo antreffen - etwa in den dunklen Ozeanen, die unter dem Eispanzer etlicher Planetenmonde vermutet werden. Unser Mond aber ist steril. Der atmosphärische Druck fällt dort viele Billionen mal schwächer aus als auf Erden.

Die Zuhörer verstummen, als Ardan einräumt: Für die ersten Mondfahrer wird es keine Rückkehr geben. Derart fragwürdige One Way Trips werden heute mitunter für künftige Marsflüge angedacht - zumindest von privater Seite. Vernes Mondfahrer wollen eine Kolonie gründen. Sie nehmen Essensvorräte für ein Jahr, zwei Hunde, Pflanzensamen, ein Dutzend junger Bäumchen und Schusswaffen mit. Wie sie hoffen, schickt man ihnen einmal pro Jahr eine unbemannte Kugel voll mit Lebensmitteln hinterher. Ähnliche Versorgungsflüge sind in manchen Marsflug-Szenarien inkludiert. Automatische Transportraumschiffe vom sowjetischen Typ Progress starten jedenfalls seit 1978 immer wieder zu bemannten Raumstationen. Zur Zeit beliefern sie die ISS.

Tiere bahnen den Weg

Um die beim Abschuss auftretenden Kräfte zu testen, schießt man im Roman eine etwa 80 Zentimeter durchmessende Hohlkugel mittels Mörser in die Luft. Der kurze Parabelflug endet im Meer. Rasch geborgen, springt die eingeschlossene Katze heraus - "ein wenig gequetscht, aber lustig und munter". Das mitfliegende Eichhörnchen hat sie verspeist. Tatsächlich werden ab 1957 zunächst Hunde, Ratten, Mäuse und Fliegen in den Erdorbit aufsteigen, um die Bedingungen während eines Raumflugs auszuloten. Erst dann folgt der Mensch.

Vernes Columbiade beschleunigt ihr Geschoß in wenigen Augenblicken auf 11 km/sek. In Wahrheit hätten die Passagiere keine Überlebenschance. Sie würden mit dem Zwanzigtausendfachen des eigenen Körpergewichts zu Boden gedrückt. Bei Raketenstarts ist die Beschleunigung erträglich, weil das Tempo nicht abrupt, sondern nach und nach zunimmt: Die Triebwerke der dreistufigen Saturn V feuerten in Summe 17 Minuten lang, um die Apollo-11-Astronauten auf Mondkurs zu bringen.

Die elektrisch vorgenommene Kanonenzündung erfolgt am 1. Dezember, genau um 22:46:40 Uhr. Die letzten Sekunden zählt man aufwärts und nicht - wie später üblich - abwärts. Schlagartig verwandeln sich 180 Tonnen Schießbaumwolle in sechs Milliarden Liter Gas. Man hört einen fürchterlichen Knall und erblickt eine "himmelshohe Feuersäule". Die Erde bebt.

Laut den Berechnungen sollen die drei Romanfiguren nach 97 Stunden Flug beim Mond anlangen. Auch die Astronauten der Apollo-11-Mission werden vier Tage benötigen. Vernes Gun-Club hat dem Observatorium von Cambridge, Massachusetts, ein Rekordteleskop von 4,9 Meter Spiegeldurchmesser finanziert. Man errichtet es auf einem hohen Berg. Verne nimmt damit gewissermaßen das 5,1-Meter-Teleskop auf dem kalifornischen Palomar Mountain vorweg: 1948 eingeweiht, bleibt es fast drei Jahrzehnte lang das mächtigste optische Instrument der Welt. Mit Vernes fiktivem Riesenteleskop glaubt man, die Kapsel zu erspähen. Sie hat den Mond aber nicht getroffen, sondern scheint dazu verdammt, ihn "bis zum Ende der Jahrhunderte" zu umkreisen.

Vernes Genre sind Novellen über außergewöhnliche Reisen. Der Mondflug reiht sich da vortrefflich ein. Seit langem macht sich der Franzose immer wieder Notizen, in Bibliotheken oder nach dem Gespräch mit Forschern. Jetzt nützt er sein Wissen, um ausführlich auf die Entwicklung der Kanonen und der Fernrohre einzugehen. Er erzählt von der Entstehung des Sonnensystems, den Eigenschaften des Mondes und von dessen teleskopischer Erforschung. Verne ist ein Pionier des wissenschaftlichen Romans, ein Gründervater der Science Fiction. Er selbst sieht sich nicht als Prophet. Dennoch gewähren ihm seine Recherchen und seine Imagination nicht selten sehr realistische Blicke in die Zukunft.

1869 setzt der Autor seinen Roman mit "Autour de la Lune" ("Reise um den Mond") fort. In diesem Werk umrunden die bereits bekannten Abenteurer den Mond, um danach wieder Richtung Erde zu stürzen. Auch hier nimmt der Autor etliche Elemente des Raumfahrtzeitalters vorweg - wie den feurigen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre oder die Wasserung auf dem Ozean. Doch das ist eine andere Geschichte.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Mehr auf seiner Website.