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Islam und Demokratie

Von Farid Hafez und Reinhard Heinisch

Reflexionen

Weniger religiöse Inhalte als vielmehr politische Rahmenbedingungen sind entscheidend dafür, dass zusammenpasst, was viele für unvereinbar halten.


Verträgt sich der Islam mit der Demokratie? Nicht wenige Stimmen im Westen unterstellen der zweitgrößten Religionsgruppe der Erde mit immerhin über 1,6 Milliarden Gläubigen, nicht demokratiefähig zu sein. Für viele liegt der Beweis in den beinahe täglichen Berichten über Gewalt, Bürgerkrieg und Terrorismus entweder aus islamischen Staaten oder in Verbindung mit islamistischen Gesinnungen. Westliche Intellektuelle konstatieren beim Islam das Fehlen diverser mit dem Westen vergleichbarer Entwicklungsprozesse wie Renaissance, Aufklärung oder säkulare bürgerliche Revolutionen, die eine nachhaltige gesellschaftliche Modernisierung aus dem Inneren heraus befördert hätten.

Andere wiederum sehen das Problem in der Religion selbst und meinen, dass im Islam eine zentrale Voraussetzung für die Demokratie, nämlich die Trennung zwischen Staat und Kirche, fehle. Die biblische Aufforderung in Mat-thäus 22:21 - "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" - schuf beim Christentum bereits in der Antike die Grundlage dafür, ein politisches System unabhängig von der herrschenden religiösen Lehre zu betreiben - und umgekehrt.

Andere Islamkritiker verweisen auf die vermeintlich fehlende liberale Tradition, also die scheinbar mangelnde Toleranz gegenüber anderen Ideen und Lebensentwürfen, sowie die empfundene ungenügende Anerkennung der Autonomie des Individuums, wobei vor allem die Rolle der Frau kritisch gesehen wird. Die Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten im Zuge des Arabischen Frühlings, die fast ausnahmslos in Bürgerkrieg, Terrorismus und neuen Repressionen endeten, scheinen die angenommene Demokratieunfähigkeit des Islam noch weiter zu bestätigen. Selbst eine umfassende technische Modernisierung und enormer Wohlstand, so wird betont, führten nicht wie im Westen zu liberalen und säkularen Gesellschaften, sondern - wie die Golfstaaten und Saudi Arabien zeigen - zu noch effizienterer Repres-
sion und politischer Ausgrenzung.

Muslime weisen diese Vorwürfe als typische Vorurteile von sich und zeigen nicht nur auf den Umstand, dass es durchaus islamische Staaten mit funktionierenden Demokratien gibt - darunter mit Indonesien auch eines der bevölkerungsreichsten Länder der Erde -, sondern dass in vielen westlichen Staaten muslimische Bürger an der Demokratie ebenso normal teilnehmen wie Christen und andere Religionsgemeinschaften. Man gibt auch zu bedenken, dass es im Islam bereits zu einer Aufklärung gekommen war, als sich das christliche Mittelalter noch mit apokalyptischen Endzeitfantasien, Kreuzzügen, Hexenverbrennungen und Pogromen an religiösen Minderheiten beschäftigte.

Religion ohne Kirche

Nicht wenige der philosophischen und technologischen Erkenntnisse der Renaissance waren erst über den Islam nach Europa gelangt: Die Algebra, die modernen Zahlen und selbst das Konzept der Zahl Null verdanken wir diesem Austausch. Ohne das arabische Wissen über Seewege, Navigation und modernen Schiffbau wäre Kolumbus wohl nie in die Neue Welt gelangt. Auch hielten sich bis in die Neuzeit überall im Nahen Osten christliche und jüdische Gemeinden, was einmal mehr die historisch nachweisliche Toleranz gegenüber Andersdenkenden belege.

Moslems meinen auch, dass gerade der Umstand, dass der Islam eine Religion ohne Kirche ist, gute Voraussetzungen dafür bietet, den Glauben für lokale Gebräuche und Verfahrensweisen zu adaptieren - und dass der Islam daher mit einer demokratischen politischen Kultur sehr wohl verknüpft werden könne. Auch der Vorwurf der fehlenden Säkularisierung wird mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die islamische Welt von der Türkei und Iran bis hin zu Nordafrika und Afghanistan Jahrzehnte lang unter dem Joch säkularer nationalistischer Regierungen stand, die jedoch allesamt durch Korruption, Misswirtschaft, Repression und Massenarmut ihren Kredit verspielt hätten. Erst nach deren Sturz konnten im Untergrund islamistische Bewegungen mangels Alternativen in das entstandene politische Machtvakuum nachstoßen - das sei jedoch keine islamische, sondern eine politsoziologische Ursache.

Oft wird die westliche Berichterstattung auch als sehr selektiv und unfair empfunden. Beispielsweise gelten die zunehmend autoritären Züge des türkischen Präsidenten Erdogan und seiner AKP-Partei in westlichen Medien vielfach als Beleg für das, was geschieht, wenn selbst eine moderate islamische Partei zu viel Macht erhält. Dabei wäre wohl hierzulande niemand auf die Idee gekommen, bei einem einst ebenso herrisch agierenden Franz Josef Strauß und der Populismus-affinen CSU oder selbst nach der Regierung Berlusconi die Demokratiefähigkeit des Christentums in Frage zu stellen.

Die entsetzlichen Konflikte und enorme Destabilisierung der Regionen von Westafrika bis zum Hindukusch und den Philippinen lassen sich ohne große Mühe auch als Spätfolgen westlicher und türkischer Kolonialpolitik, des Nahostkonfliktes sowie des Kalten Krieges erklären, wobei Grenzen willkürlich gezogen und bestehende Unrechtsverhältnisse und Privilegien auf Basis von Religionszugehörigkeit, Klan, Ethnie, Nationalität oder Hautfarbe für Jahrzehnte zementiert wurden.

Die gesellschaftlichen Explosionen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Intervention der USA ereigneten, konnten ohne bestehende Ordnungsmechanismen vielfach nur in eine weitere Katastrophe münden. Der "IS" ist somit kein Beleg der Demokratieunmündigkeit des Islam, sondern eine pathologische Entwicklung aus einer politischen Situation, die vom Westen und dessen Interessen mitgeschaffen wurde. Es ist somit eher eine Perversion, die mit Islam in etwa so viel zu tun hat wie der Faschismus mit dem Christentum.

Dennoch gibt es auch eine subtilere Form der Frage, inwiefern Demokratie islamische Züge trägt oder tragen soll. So stellt sich die Frage, wie der steigende Anteil an Moslems in westlichen Demokratien diese verändert. Die Demokratie ist ein politisches System, das von der Anlage her so konzipiert ist, auf Ansprüche und Wertvorstellungen diverser Bevölkerungsgruppen zu reagieren. Denn die Demokratie erlaubt es durch bürgerliche Freiheiten allen Gruppen, sich zu organisieren, Parteien zu bilden und ihre Interessen bis zu einem gewissen Grad durchzusetzen. Jede neue Gruppe, die sich in eine bestehende größere Gruppe integriert, wird diese auf eine gewisse Weise verändern.

Islam und Postmoderne

Diesen Fragen des Verhältnisses zwischen Islam und Demokratie widmet sich kommende Woche eine Konferenz der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. In deren Rahmen wird auch der bekannte US-amerikanische Islamexperte und Regierungsberater John Esposito von der Georgetown University einen öffentlichen Vortrag halten (siehe Hinweis unten).

Gerade bei der Frage nach gesellschaftlicher und kultureller Integration stoßen wir vielfach auf die Sorge, dass ungewollt "Parallelgesellschaften" entstehen, die sich demokratischer Kontrolle entziehen und somit dem Extremismus den Boden aufbereiten. Vor allem die islamische Jugendkultur steht im Verdacht - wie Jugendkultur generell -, sich dem Zugriff und Verständnis der eigenen Elterngeneration zu entziehen. Geschichten über junge Menschen, auch Mädchen, die sich von einer extremistischen Auslegung des Islams angezogen fühlen und in den Dschihad zogen, sowie über "einsame Wölfe" oder "Schläferzellen", die zu terroristischen Anschlägen aktiviert werden können, prägen die Vorstellungen vieler und sind der Stoff medialer Berichterstattung. Dabei gibt es im Westen seit Jahrzehnten eine diverse, facettenreiche muslimische Jugendkultur.

Die breite Palette an zeitgenössischen muslimischen Lifestyles ist besonders von der einzig übrig gebliebenen Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika, beeinflusst. Von dort aus hat sie sich über die Metropolen des globalen Nordens bis in verschiedene urbane Zentren auf der gesamten Welt verbreitet. Diese muslimische Jugendkultur stellt eine Synthese von Islam und Postmoderne dar. Über den Jazz bis zum Hip Hop entfaltete sie von früh an eine subversive Kraft, wie etwa durch den Jazz-Pianisten Amiri Baraka (LeRoi Jones) oder die Rap-Gruppe Public Enemy.

Neben eher apolitisch angepassten Formen muslimischer Lebensstile, die unter dem Begriff "Pop-Islam" eine Synthese von Islam und Kapitalismus darstellen, entstanden von Anfang an auch politisch kritische muslimische Jugendbewegungen. Hier wäre eine zeitgenössische Protestbewegung wie Black Lives Matter zu nennen, die gegen die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner im Speziellen und People of Color im Allgemeinen auftritt und in ihren Reihen viele junge Muslime aufweist. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass viele Afroamerikaner Muslime sind. Es hat auch damit zu tun, dass globale postkoloniale Strukturen zu einer generellen Politisierung und Solidarisierung führen. Die Frage der Demokratie steht dabei oftmals im Zentrum der Debatte. So war der Protest der Jugendbewegungen in Österreich gegen das neue Islamgesetz, welches im März dieses Jahres beschlossen wurde, durchsetzt von Forderungen nach Mitbestimmung, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. Der Diskurs dieser Jugendbewegungen war kein religiöser, sondern ein weltlicher, der Forderungen nach mehr Demokratie verkörperte.

Muslimische Jugendbewegungen, die sich so wie andere religiöse oder politische Jugendbewegungen organisieren und gleichzeitig politische Forderungen stellen, werden oftmals kriminalisiert. So werden in Ländern wie etwa Deutschland die Aktivitäten von muslimischen Jugendorganisationen sofort als islamistisch eingestuft und in Folge vom Verfassungsschutz unter Beobachtung gestellt. Mit Begriffen wie "legalistischer Islamismus" meinen deutsche Verfassungsschützer etwa, dass demokratische Partizipation nur vorgetäuscht werde, um die eigentliche Agenda zu verbergen. Simple Angebote wie Nachhilfezentren oder Sportaktivitäten fallen damit unter Beo-bachtung.

Genau diese Kriminalisierung muslimischer Jugendlicher hilft jenen extremistischen Kräften, die sich selbst als Antipol zum Westen gerieren. Damit erfüllen derartige sicherheitspolitische Maßnahmen genau das Gegenteil von dem, was sie zu beabsichtigen vorgeben: die Eindämmung extremistischer Aktivitäten. So ist erwähnenswert, dass in Österreich kaum Aktivitäten jener konservativen Bewegungen zu beo-bachten waren, die in den Medien unter dem Namen "Salafismus" kursieren, während Deutschland mit seiner im Vergleich zu Österreich weitaus restriktiveren Gangart gegenüber dem organisierten Islam geradezu einen Nährboden für derartige Bewegungen darstellt. Demnach könnte behauptet werden, dass jene politischen Systeme, die muslimische Organisationen in demokratische Prozesse miteinbeziehen, weniger anfällig sind für die Entstehung von Bewegungen, die sich stärker von der Gesellschaft abgrenzen.

Ein weiterer Faktor, der fundamental oppositionellen Bewegungen Legitimität verschafft, liegt im zunehmenden sicherheitspolitischen Blick staatlicher Behörden auf junge Muslime. So sind in den letzten Jahren vermehrt sogenannte Countering Violence and Extremism-Projekte entstanden, die zum Ziel haben, Gewalt und Extremismus bei muslimischen Jugendlichen präventiv zu begegnen. Diese präventiven Maßnahmen basieren jedoch oftmals darauf, dass "muslimisch" quasi automatisch als "potentiell gefährlich" eingestuft wird.

"Verdächtige" Uhr

Kürzlich hat etwa der Fall von Ahmad, einem Uhrenmacher, hohe Wellen geschlagen. Der 14-jährige Schüler aus den USA hatte eine Uhr hergestellt, die er seinem Lehrer zeigte, der ihn wiederum verhaften ließ, weil er in der Uhr eine Bombe erblickte. Hier wird sichtbar, wie die Verbreitung des Bildes vom "muslimischen Terroristen" im Alltag seine Wirkung entfaltet. In den multikulturellen und gesellschaftlich inkludierenden Vereinigten Staaten reagierte Präsident Barack Obama mit einer Einladung des junen Mannes ins Weiße Haus immerhin respektabel. Trotz vieler restriktiver Maßnahmen wie der Einschleusung von Spionen in religiöse Netzwerke oder restriktiven Einreisebeschränkungen durch das nach 9/11 gegründete Homeland Office, die immer wieder zu Protesten auf Seiten von Muslimen führen, wirkt die inklusive Identitätspolitik der USA integrierend.

Im Gegensatz dazu tun sich europäische Politiker damit oftmals schwerer. Während in den USA die Tea Party die Republikaner jagt, bestimmen in westeuropäischen Ländern rechte Parteien den öffentlichen Diskurs und damit auch jenen der ehemaligen Zentrumsparteien. Das führt dann etwa auch dazu, dass selbst Spitzenpolitiker nicht wagen, öffentlich dem Satz "Der Islam ist ein Teil von Österreich" zuzustimmen. Dieses ethnisch-kulturell engere Identitätsverständnis in Ländern wie Deutschland und Österreich gibt im Gegensatz zu den multikulturellen USA einen anderen Rahmen für demokratische Teilnahme vor.

Die konkreten politischen Rahmenbedingungen sind vermutlich viel entscheidender für das Einbinden von Muslimen in demokratische Gesellschaften im Westen als die Frage der theoretischen Verbindung von Demokratie und Islam. Ein Blick in die österreichische Parteienlandschaft genügt, um zu sehen, dass Muslime in allen Parteien aktiv sind.

Das reicht von den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP bis hin zu den Oppositionsparteien, also den Grünen, den NEOS - und schließt selbst die FPÖ nicht aus. Ähnliches gilt für andere westliche Länder.

Damit sollte nicht die Religion im Zentrum der Analyse stehen, sondern individuell konstruierte Wahrheiten, wie entlang eigener Präferenzen gehandelt wird und wie das eigene Religiöse neu gedeutet wird. Das Konzept der Islamdemokratie in Anlehnung an die Christdemokratie, wie es in den Reihen der AKP auftauchte, ist dabei nur ein möglicher Weg unter vielen, wie Islam und Demokratie miteinander verbunden werden können.

Farid Hafez ist Postdoc-Forscher zur Rolle des Islam in westlichen Gesellschaften und zur islamischen Jugendkultur am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Salzburg.

Reinhard Heinisch ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Fachbereichs Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Salzburg und Leiter der "ARGE Zukunft der Demokratie" der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

Veranstaltungshinweis:

Im Rahmen der Forschungskonferenz "Democracy and Islam" (vom 5. bis 6. November 2015) lädt die Österreichische Forschungsgemeinschaft zu einem öffentlichen Vortrag ein: "Islam and Democracy after the Arab Spring" von John Esposito, University Professor of Religion and International Affairs at Georgetown University.

5. 11. 2015, 18.30 Uhr im Festsaal Billrothhaus, Frankgasse 8, 1090 Wien. Weitere Informationen: www.oefg.at/oeffentlichkeit/veranstaltungen/