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Die europäische Selbstbedrohung

Von Tomas Sedlacek und Oliver Tanzer

Reflexionen
Illustration: Peter M. Hoffmann

Wie der Mauerbau gegen Flüchtlinge das Selbstbild der Union zersetzt.


Als Europa noch keine Angst hatte, hielt es sich für ein Friedensprojekt. Das ist noch gar nicht so lange her. Man war stolz auf das eigene politische Schaffen und eine herausragende Stellung in der Welt, auf die Funktion des Vorbildes für alle Völker und Nationen, für die Unterdrückten und die Rechtlosen. Einzelne, wie die Ukrainer, wagten sogar den Aufstand und eine Revolution für eine Annäherung an die Union. Europäisches Gedankengut befruchtete die Revolte des Arabischen Frühlings. Die EU verlieh Preise für Menschenrechte und bekam selbst den Friedensnobelpreis.

Brüssels Freiheitsstatue

Als Europa noch keine Angst hatte, begann man eine Zukunft zu ahnen, in der die "sanfte Supermacht" endlich auch realpolitische Durchsetzungskraft gewänne. Auf Kongressen zur Zukunft Europas verpflanzten Philosophen und Zukunftsdenker gedanklich bereits die Freiheitsstatue von New York nach Brüssel - mitsamt ihrer Inschrift: "Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free." Und heute? Man stelle sich vor, was heute mit der Freiheitsstatue und ihrer Inschrift passieren würde - in Wien, Prag, München. Give me your masses! Welch ein empörender Imperativ.

Europa ist ein Ort der Angst geworden. Der Philosoph Slavoj Zizek meint, die Angst sei eine "konstitutive Grundlage der heutigen Subjektivität". Was aber heißt das für eine ganze Staatengemeinschaft? Zu erleben ist tagtäglich eine höchst aktive und virulente Vereinzelung und Fragmentierung der Staaten, die auf der Grundstimmung einer "Verlassenheit in der Vielfalt" statt der vielbeschworenen Einheit liegt. Am deutlichsten wird diese Verlassenheit sichtbar, wenn die Staats- und Regierungschefs Europas einander auf ihren Krisengipfeln belauern.

Dann werden Abwehrängste sichtbar, die in ihrer medialen und auch politischen Darstellung allesamt die Maske des Flüchtlings tragen - ob sich hinter ihnen nun die Angst vor Terror, sozialer Abstieg, Armut, Hilflosigkeit oder Religionsraub verbirgt. So verteidigen die Ungarn mit NATO-Draht ihre Grenzen und schieben die Massen nach Österreich weiter, die Österreicher wehren sich (wohl bald) mit Maschendraht und schieben die Massen nach Deutschland, und die Deutschen arbeiten mit Grenzbalken und schieben Massen, ja wohin? Von Bayern nach Nordrheinwestfalen, von dort nach Brandenburg, nach Mecklenburg-Vorpommern. Und dort, wo sich Angst und Ärger im gemeinsamen Wortstamm "Angor", der beklemmenden Enge, vereinen, brennen Flüchtlingsheime statt Freiheitsfackeln.

Ende des Mythos

Dabei hätten wir beinahe an das positive Ende unseres eigenen Mythos zu glauben gewagt. An diese bittersüße Geschichte, die uns von einer Prinzessin aus Phönizien (heute Syrien und Libanon) erzählt wurde. Diese Königstochter, die entführt wird und verschwindet; nach der gesucht wird von ihrem Bruder, den es an ein fremdes Gestade verschlägt; der verflucht wird zum Krieg - und dann, vom Fluch befreit, sein Land durch Handel zu Glück und Wohlstand führt. Diesen Kontinent benennt Kadmos, der erste König Thebens, nach seiner verschwundenen Schwester: Europa.

Wie schön hätte dieses Narrativ Europas Sinn verbildlicht: seine Verwurzelung in den Kulturen des Nahen Ostens, die Besiedelung des Kontinents durch Migration, seine Selbstschädigung in den Jahrhunderten der Kriege. Und schließlich seine Selbstbefreiung, indem es seine Energie in wirtschaftliche Produktivität investierte statt in die Ernährung von Kriegsmaschinerien.

Der Binnenmarkt wäre Basis für den Völkerfrieden und den Reichtum der Kulturen. Und hatten nicht schon die berühmtesten Ökonomen aus den verschiedensten politischen Richtungen kommend, wie etwa John Maynard Keynes oder Karl Marx, einen ganz ähnlichen Traum? Dass die Wirtschaft ein Produktivitätsniveau erreicht, das den Menschen frei sein lässt von Arbeit und Existenzangst. Was ging auf dem Weg dahin schief, dass nun alle Honoratioren, von Peter Sloterdijk über Helmut Schmidt bis Nouriel Roubini, Europa auf dem Weg des Scheiterns sehen?

Gewöhnlich wäre an dieser Stelle eine lange Abhandlung über das Scheitern der politischen Eliten zu erwarten, ihre Dummheit und Arroganz, ihre Unfähigkeit, aktuelle Probleme zu lösen; über das Scheitern der Idee Europas an Ungarns Premier Viktor Orban, und das Scheitern der politischen Moral von Angela Merkel mit ihrem Satz "Das schaffen wir", was so nicht zu schaffen ist. Aber so sehr dieser Befund auch stimmt, er greift zu kurz. Denn das Scheitern von heute ist lange vorprogrammiert - seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten.

Triumph des "Guten"

Tatsächlich hat die Europäische Union nach 1945 den Krieg der Nationen durch das marktwirtschaftliche Miteinander der Nationen ersetzt. Der Erfolg des Zweckmäßigen (nämlich einander nicht mehr umzubringen und den Kontinent periodisch in Schutt und Asche zu legen) wurde danach als ein moralischer Erfolg verkauft, als der Triumph des "Guten". Mehr noch: Man vermittelte den Eindruck, als würde der Reichtum sich quasi von selbst aus der Demokratie entwickeln. Europa war nun neben einer Wirtschafts- auch eine Werte-Gemeinschaft.

Demokratie und Menschlichkeit bildeten die zentrale Gedankenbasis der Staatengemeinschaft. Und es erzeugte auch Europas Ansehen in der Welt. Aber was taten Europas Regierungen in Wirklichkeit, wenn es um ihre äußeren Interessen ging? Wie handelten sie - wirtschaftlich und politisch?

Unter dem Stern des Wachstums wurden Exportmärkte gesucht und allzu oft Regime gefunden, die weder von Menschenrechten noch von Demokratie etwas halten. Und dann begann immer aufs Neue ein europäischer Eiertanz. Man sprach die "prekäre Lage" dieser oder jener Minderheit oder Opposition an, um dann doch mit vollen Auftragsbüchern der Regime (Peking und Moskau vor allem) abzureisen und die Unterdrückten ihrem Schicksal zu überlassen. Das brachte zwar immer Kritik ein. Doch ließ sich dieses Verhalten stets durch das eigene Beispiel kompensieren ("bei uns funktioniert das Recht doch immerhin"), mit aktuellen wirtschaftlichen Zwängen erklären ("wir brauchen diesen Auftrag, sonst . . .") oder mit langfristigen Unterstützungen für zivilgesellschaftliche Organisationen in diesen Ländern gleichsam schönen. Nun ist dieses Dilemma offensichtlich geworden. Europäische Ethik und europäischer Nutzen verstehen einander nicht - nicht einmal mehr innerhalb der Union. Sie stoßen einander ab, wo es um das Opfer eigener Ressourcen geht.

Nichts zeigt das besser als das relativ harmlose Projekt der Verteilung und Versorgung von 120.000 Flüchtlingen aus Syrien, zu der einige Staaten, die bisher sehr von der Wirtschaftskraft der Union profitiert haben, wie etwa die Tschechische Republik oder Polen, per qualifizierter Mehrheit gezwungen werden mussten.

In der Sekunde erlosch das Versprechen vom gemeinsamen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", und die Hymne "Alle Menschen werden Brüder" verebbte so jämmerlich, als würde ein alter Leierkasten angehalten. Es scheint, als sei in Europa niemand "Bruder" geworden, und die einzige noch verbliebene Sicherheit besteht darin, dass sich sehr viele Menschen sehr unsicher fühlen und diese Angst durch die Politik noch befördert wird.

"Game of Thrones"

Wir scheinen nach den Prinzipien einfach gestrickter TV-Serien wie "Game of Thrones" zu leben. Die Hälfte dieser Geschichte dreht sich um Mauern und den hereinbrechenden Winter. "Der Winter kommt", ist sozusagen der Re-frain der ganzen Serie. Es gibt darin eine Mauer, welche die zivilisierte Welt von den Wilden und den Untoten trennt, die jenseits des Walls leben, der mehr als hundert Meter hoch und Hunderte Kilometer lang ist.

Die Mauer, welche das echte Europa im Begriff ist aufzubauen, ist vermutlich länger und nach dem Süden gerichtet. An der Festung Europa und seiner Sicherheit soll gebaut werden, wie jüngst die österreichische Innenministerin vernehmen ließ (während sie, ein besonderer Treppenwitz, Hundertausende ganz ohne jede Registrierung über die Grenze marschieren lassen musste).

Aber wie hoch und wie breit muss so eine Festung sein, wenn schon die politische Wortwahl unwiderstehliche Katastrophen suggeriert: Flüchtlings-Flut, -welle oder gleich Völkerwanderung. Sozusagen im Vorbeigehen nehmen die Regierenden dann auch noch "die Ängste der Bevölkerung" ernst, die sie selbst mit geschürt haben. Vollkommen unbeachtet bleibt aber eine wirtschaftliche Analyse, wie sie die EU doch seit ihrem Bestehen ausgezeichnet hatte. Diese Untersuchung würde vor allem dann sehr schmerzhaft ausfallen, wenn sie die globalisierten Zusammenhänge ausleuchten würde.

In einem historischen Aufriss wäre hier erkennbar, dass die Verwirklichung der Prinzipien der Menschlichkeit weit mehr erfordert hätte als ihre bloße Proklamation. Und dass diese Prinzipien auch im ökonomischen Interesse der Union gewesen wären - und immer noch sind. Der französische Utopist Claude Henri de Saint-Simon, der heute weitgehend vergessen ist, hat das sehr gut zusammengefasst: Der Reichtum macht keinen Sinn, wenn der Unternehmer, der ihn erreicht, sich einzäunen muss, um ihn zu behalten. Wie muss der Reiche agieren, um in Frieden leben zu können? Er muss eine existenzielle Sicherheit der ihn Umgebenden schaffen oder ihnen zumindest ermöglichen, diese Sicherheit aus eigener Kraft im eigenen Land zu erreichen. Und genau das hat Europa in der Zeit der Globalisierung vollständig verabsäumt, während es scheinbar Gutes tat und Milliardenhandel trieb.

Der Umstand, dass in den westlichen Industrienationen 40 Mal mehr Kapital investiert wird als etwa in Afrika, die Tatsache, dass der europäische Arbeiter durch technischen Vorteil zehnmal produktiver sein kann als sein Kollege in Kairo, spricht Bände darüber, wie ungleich die Wettbewerbschancen verteilt sind und wie sehr die Welt sich in superproduktive Nationen und abgeschlagene Rohstofflieferanten und Billigdienstleister teilt. Den ökonomischen Aufholprozess, der von der neoklassischen Lehre so gerne ins Treffen geführt wird, gab es für die meisten Staaten bloß in der Theorie. Statt dessen etablierte sich eine Art Wirtschaftssadismus, der - um nur ein Beispiel zu nennen - Menschen in den Kleiderfabriken Indiens oder Bangladeschs leiden lässt, während er den Produzenten und Konsumenten im Westen die Lust an der Ware bringt. Der einzige Weg, der sich für die vom System schlechter Gestellten aus dieser Konstellation bietet, ist die Migra- tion in Richtung reicher Staaten.

Wenn also eine zukünftige Politik Flüchtlingsströme vermeiden will, dann muss sie das mit einem globalen Ansatz tun. Die Lasten der Handelspolitik und der Terms of Trade müssten nach Maßgabe verteilt, regionale Märkte geschützt und schlechter gestellte Volkswirtschaften und Arbeitsmärkte gestärkt werden.

In diesem Zusammenhang wird einer der großen Zynismen dieser Tage sichtbar. Er beginnt mit dem Glauben von Millionen junger Araber an die westliche Illusion (Freiheit/Demokratie als scheinbarer Garant materiellen Glücks) und endet im Zunichtemachen ihres Kampfes darum in Ägypten, den Golf-Staaten, Syrien mit zum Teil europäischen und amerikanischen Waffen. Dieses Szenario und die daraus folgenden Flüchtlingsströme führen in Europa selbst zu einer postdemokratischen Umverteilung: Die Erlöse aus den Waffenexporten heben das private Kapital der Waffenproduzenten, während die Flüchtlingsströme die Budgets belasten. Und dieser Geschäftsform ist bei weitem kein Ende gesetzt: Gerade am vergangenen Wochenende wurde bekannt, dass deutsche Rüstungslieferanten ihre Exporte im heurigen Jahr vermutlich verdoppeln werden - auf knapp vier Milliarden Dollar.

Um das auf einen vielleicht herzlos anmutenden ökonomischen Punkt zu bringen: Während potenzielle Absatzmärkte der Zukunft im Nahen Osten, Asien und Afrika sich selbst mit unserer Hilfe schädigen oder vernichten, schädigt die aktuelle Politik die Substanz Europas (Wirtschaft/Exportmärkte) samt ihrer Verpackung (Gerechtigkeit).

Kulturabstreifung

Sigmund Freud hat in seinen gesellschaftspsychologischen Abhandlungen immer wieder den Triebverzicht als Grundvoraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation bezeichnet. Die gewalttätigen Impulse des Einzelnen werden im Sinne des allgemeinen Wohls eingeschränkt. An der Hauptquelle der Flüchtlingsbewegung, in Syrien, sehen wir derzeit den umgekehrten Prozess: eine Kulturabstreifung. Das Gemeinwesen ist weitgehend zerstört, allgemein gültige Gesetze (und seien es auch nur die des Diktators) außer Kraft gesetzt und die urtümlichsten Triebe von Macht- und Vermögenserwerb machen sich breit: Schutzgeld, Erpressung, Menschenhandel. Diebstahl, Nötigung, Mord bleiben ungestraft.

Die Gesellschaft entwickelt sich zur Stammesgesellschaft zurück, zur Herrschaft der Milizen und Gangs, der unkontrollierten Armeehaufen und Sekten. Und dort, wo sich die Syrer zunächst in Sicherheit glaubten, in den Flüchtlingslagern im Libanon und in der Türkei, sind die gleichen Mechanismen am Werk. Organisierte Kriminalität und Nahrungsmangel treiben die Menschen Richtung Europa. Symptome einer Kulturabstreifung sehen wir aber auch am Zielort der Flucht. Denn auch in Europa droht nun eine Fragmentierung durch politische Radikalisierung, die sich aus der Angst vor dem Fremden speist und sich in düsteren Rollenbildern inszeniert: Der Ritter im Kampf gegen die Ungläubigen, die von vergewaltigenden Barbaren bedrohte Maid, der vor der Gewalt zitternde Bürger, der sich bewaffnet gegen alles da draußen.

Formen der Angst

Die Psychologie kennt zwei Grundformen der Angst. Die eine ist die automatische Angst, die unsere Instinkte anspricht und gegen die es zunächst kaum ein Gegenmittel gibt. Sie ist äußerst reaktionsschnell und die Xenophobie gehört zu ihren beliebtesten Formen (und Anwendungen). Die "Realangst" ist da viel überlegter: Der real Ängstliche stürmt nicht in wilder Panik davon oder lässt die Panzer auffahren. Er analysiert mögliche Gefahren, wägt Risiken ab und sucht nach rationalen Lösungen. Realangst ist auch der beste Weg, die ungestümen automatischen Ängste abzubauen, mit denen Europa derzeit konfrontiert ist. Sie will die Sorgen nicht zerreden und Risiken nicht leugnen.

Sie will über sie nachdenken können - im konkreten Fall über die Möglichkeit terroristischer Infiltration ebenso wie über die Möglichkeiten und Gefahren der Unterbringung von einer Million Menschen. Sie will wissen, ob und welche von Europas Werten durch den Zuzug muslimischer Menschen gefährdet sind. Sie will auch wissen, ob diese Werte nicht gerade dann gefährdet sind, wenn den Ankommenden das Asyl verweigert wird.

Sie will auch darüber nachdenken, ob mit einer Renationalisierung des Kontinents im Gefolge eines möglichen "Schutzwalls" Produktivität und Rechtssicherheit verloren gehen. Ob Europas Staaten dann nicht einem globalen Wettbewerb schutzlos ausgesetzt wären, der sie erpressbar gegenüber Konzernen und Weltmächten macht. Ob sie einander dann nicht in ihrem Kampf um die Brosamen der Globalisierung einen äußerst schädlichen Konkurrenzkampf in steuerlicher Hinsicht liefern würden. Oder mit einem Satz: Ob die größte Gefahr für Europa nicht Europa selbst ist.

"Lilith und die Dämonen des Kapitals", so heißt das neue Buch des tschechischen Ökonomen und Bestsellerautors Tomas Sedlacek und des österreichischen Journalisten Oliver Tanzer (erschienen bei Hanser). Die beiden Autoren eröffnen mit einem Vortrag zu diesem Thema die Lesefestwoche der BUCHWIEN am Montag, 9. November, um 19 Uhr im Wiener Rathaus, Stadtsenatssitzungssaal.

"Lilith und die Dämonen des Kapitals", so heißt das neue Buch des  tschechischen Ökonomen und Bestsellerautors Tomas Sedlacek und des  österreichischen Journalisten Oliver Tanzer (erschienen bei Hanser). Die beiden Autoren eröffnen mit einem Vortrag zu diesem Thema die
Lesefestwoche der BUCHWIEN am Montag, 9. November, um 19 Uhr im Wiener
Rathaus, Stadtsenatssitzungssaal.