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Keine Anleitung zum Amoklauf

Von Lukas Meschik

Reflexionen
Spielbare Gangster-Klamotte, die sich neben umstrittener Gewalt an einer Simulation möglichst aller Aspekte des Lebens versucht: "Grand Theft Auto V".
© Rockstar Games

Computerspiele werden viel zu oft und leichtfertig verdammt - vor allem von jenen, die nichts davon verstehen. Plädoyer für ein verkanntes Medium.


<p>"Es gibt da dieses Buch namens Carrie. Zwar habe ich mir nicht die Mühe gemacht, es zu lesen, es soll aber ziemlich arg sein. Es geht darin um eine Jugendliche mit übernatürlichen Kräften, die sich an ihren Mitschülern rächt. Vielleicht geht es um viel mehr als das, interessiert mich aber gerade nicht. Meine Informationen beziehe ich übrigens aus ein paar im Internet zusammengeklaubten Kommentaren. Kein Wunder, dass es ständig Schulmassaker gibt. Nein, also wirklich, diese Bücher sind echt schlimm. Das Medium war mir schon immer suspekt. Wir sollten unsere Kinder davon fernhalten."<p>

Berechtigte Skepsis

<p>Klingt absurd? Ist es auch. Leider aber kein reines Hirngespinst, sondern die adäquate Zusammenfassung der Gedankengänge vieler Menschen, wenn statt von Büchern von Computerspielen die Rede ist. Da wird verdreht und verknappt, aus dem Zusammenhang gerissen und die Ausnahme zur Regel erklärt; als stünde jemals der einzelne Vertreter eines Mediums für dessen Gesamtheit.<p>Selbst im seriösen Journalismus stößt man in der Berichterstattung zu wichtigen Neuerscheinungen nach wie vor auf einen bunten Strauß an Vorurteilen, der offen zum Blühen gebracht wird; vieles davon ließe sich bei eingehender Recherche leicht entkräften. Es ist verwunderlich, wie oft sich ansonsten klarsichtig differenzierende Gesellschaftsbegleiter zur Verdammung des Computerspiels als solchem hinreißen lassen. Dabei reicht ein kurzer Blick in die Geschichte, um festzustellen, dass die allgemeine Ablehnung eines Mediums noch nie besonders geistreich oder fruchtbar war.<p>Technische und künstlerische Errungenschaften sind seit jeher von berechtigter Skepsis begleitet. Man denke etwa an Platons Schrift-Kritik im Phaidros-Dialog, oder an erhellende Debattenbeiträge zu Fotografie und Film, die nur zögerlich als eigenständige Kunstformen anerkannt wurden. (Alles Neue löst als Unbekanntes Angst aus, und somit Ressentiment; aber alles war einmal neu!)<p>Obwohl das Medium des Computerspiels noch recht jung ist - seine Entstehung reicht etwa ein halbes Jahrhundert zurück -, wäre es längst alt genug, um mit den "Großen" am Tisch sitzen zu dürfen. In der Mainstream-Presse hinkt seine Rezeption aber noch stark hinterher. Dies mag nicht zuletzt an technischen Hürden liegen, die beim Eintauchen in virtuelle Welten überwunden werden müssen. So wird oft von außen eine Spiel-Erfahrung kritisiert, die man selbst gar nicht machen konnte.<p>

Ärgerliche Vorbehalte

<p>Ein gutes Beispiel für solch eine verkürzte Darstellung wäre "Grand Theft Auto" (GTA V), ein Actiontitel, dessen unbestritten gewalthaltiger Inhalt in letzter Zeit oft als exemplarisch für Spiele an sich herausgestellt wurde. Kommentare dazu fassen gut zusammen, welche Vorbehalte das Medium bis zur unwidersprochenen Teilhabe am kulturellen Geschehen noch zu entkräften hat. Manche Behauptung, die da aufgestellt wird, ist durchaus ärgerlich, gerade für jene reifen und reflektierten Spieler, zu denen ich mich selbst zählen würde. Man wird das Gefühl nicht los, dass viele sich übers Frühstücksfernsehen hinaus nicht weiter informieren; intellektuelle Durchdringung ist damit aber nur schwer möglich.

<p>Als Lesender, der dann und wann gerne spielt, traue ich mich zu sagen: Mein Regalmeter Handke steht mir genauso nahe wie einige Exemplare meiner Spiele-Bibliothek. Schade finde ich, mit wie wenigen Gesprächspartnern man diese Faszination für intellektuell anspruchsvollere Software teilen kann. Wer eine ganze Kunstform - denn als solche darf man Spiele durchaus verstehen - für sich als unbetretbar ansieht, dem entgeht eine ganze Menge. Vielleicht wäre es an der Zeit, Berührungsängste abzulegen und sich auf das Neue einzulassen.<p>

Fragwürdige Aussagen

<p>Immer wieder lässt sich feststellen, wie leichtfertig in der Öffentlichkeit fragwürdige Spiele-Aussagen getätigt werden. Einer deutschen Talkshow-Runde zu den November-Attentaten von Paris erklärte ein geladener Experte, dass sich junge Fanatiker mit Spielen wie "World of Warcraft" auf Amokläufe einstimmen würden. Tun sie das wirklich? Mit diesem elf Jahre alten Online-Rollenspiel, das in einer Herr-der-Ringe-artigen Fantasy-Welt voller Elfen, Zwerge und Orks angesiedelt ist?<p>Undenkbar, in einem flapsigen Nebensatz einzuwerfen, ähnlich massenkompatible Unterhaltungsware wie die "Herr der Ringe"-Trilogie selbst oder "Harry Potter" würde Jugendliche desensibilisieren, weil darin massenhaft gestorben und sogar Kriegshandlungen dargestellt würden. Natürlich weiß so ein "Experte", dass er daneben- oder jedenfalls übers Ziel hinaus schießt. Er weiß aber auch, dass ihm niemand in der Runde widersprechen wird.<p>Die Frage, welche psychischen Spuren Konfrontation mit Gewalt (passiv oder aktiv) hinterlässt, ist und bleibt natürlich berechtigt. Ebenso lautes Nachdenken darüber, inwiefern Spiele und ihre Macher sich ihr schlechtes Image selbst zuzuschreiben haben. Um diese Diskussion ernsthaft zu führen, bräuchte es allerdings auf Seiten aller Beteiligten ein Grundwissen, das übers Hörensagen hinausgeht. Es wäre wünschenswert, dass nicht jene seichte "Killerspiel"-Debatte, die bereits abgeflaut schien, wieder aufflammt.<p>Innerhalb der "Szene" ist die Diskussion viel weiter - und wird glücklicherweise immer intelligenter, kleinteiliger, spitzfindiger. Ich selbst bin jemand, der vom Spielfeldrand aus dem Geschehen beiwohnt; kein "Auskenner", aber doch ein "Mitbekommer". Die vorlauten Hineinrufer blicken kurz aus dem Fenster, sehen irgendwo einen Ball vorbeifliegen und rufen: "Abseits!" Ob gerade eine Partie Basketball oder Billard läuft, ist ihnen herzlich egal. Ein solches Verhalten gegenüber Spielen war schon vor zwanzig Jahren engstirnig; es nach wie vor nicht abgelegt zu haben, erscheint mir ein bisschen peinlich.<p>

Immer mehr Frauen

<p>Öfter wird behauptet, die Szene sei männlich dominiert. Dabei nimmt gerade bei Smartphones und Tablets die Anzahl von Spielerinnen stark zu; in manchen Erdteilen stellen sie schon die Mehrheit. Richtig ist, dass unter den Entwicklern (ähnlich wie bei der Film-Regie), die Männer in der Überzahl sind. Eine Tatsache, die einem sicherlich zu denken geben und mit der man sich nicht zufrieden geben sollte. Die Welt hat sich weitergedreht. Selbst für jene, die offensichtlich stehengeblieben sind.<p>Natürlich gibt es gewaltverherrlichende Computerspiele. Sehr viele sogar. Aber noch lange nicht so viele wie gewaltverherrlichende Filme oder Bücher (allein schon, weil das Medium weniger Zeit hatte, welche hervorzubringen). Es gibt auch berechtigte Kontroversen, wie etwa unlängst rund um den geschmacklosen Amoklauf-Simulator "Hatred", in dem man nichts weiter tut, als möglichst viele Zivilisten und heranstürmende Einsatzkräfte abzuschlachten. Provokation um der Provokation Willen, was sowohl von Presse- als auch Spielergemeinschaft dementsprechend verurteilt wurde. (Laut metacritic.com beträgt die weltweite Durchschnittswertung 43 von 100 Punkten bei den Kritikern und 46 bei den Spielern, ein niederschmetternder Wert; der "Guar- dian" vergab lediglich 20 Punkte und nannte Hatred "the gaming equivalent of a drunkard shouting abuse from a park bench".) Allerorten wurden Inhalt und Spielmechanik zerrissen. Nur eines von vielen Beispielen für den kritischen Umgang mit inhaltsleeren Aufmerksamkeits-Erregern.<p>Wahr ist, dass ein Gutteil der Blockbuster-Spiele leicht konsumierbare, bluttriefende Halbstarken-Phantasien sind. Übrigens genauso wie die Jahr für Jahr auf uns eindonnernden Überwältigungs-Streifen aus Hollywood. Als mündiger Spieler lernt man, sich die Perlen herauszupicken. Und die gibt es; ständig werden es mehr. Und wie so oft begibt man sich dafür in die Nischen. Spiele sind Bücher sind Filme: In der möglichen kulturellen Relevanz ebenso wie im wünschenswerten Umgang damit. Leider hat sich das noch nicht bis in alle Redaktionen und Weltbilder herumgesprochen.<p>Man stelle sich vor: Quentin Tarantinos oscarprämierter Film "Inglourious Basterds" - nicht gerade ein subtiler filmischer Essay - erscheint im deutschsprachigen Raum ein halbes Jahr nach US-Release; alle Nazi-Symbolik wurde entfernt und durch ein unverfängliches Fantasie-Zeichen ersetzt; bekämpft wird nicht das Dritte Reich, sondern ein ominöses "Regime", weshalb bei uns ausschließlich die synchronisierte Fassung an den Kino-Start geht; ein Region Lock hindert uns daran, die Originalfassung über Streamingplattformen wie Netflix zu beziehen. Undenkbar? Neulich so geschehen bei "Wolfenstein: The New Order" und dem Spiel zur hochgelobten Zeichentrick-Satire "Southpark". Man misst hier mit zweierlei Maß.<p>

Interaktivität

<p>"Aus großer Kraft folgt große Verantwortung" - das wusste schon Spidermans Onkel Ben. Die große Macht - und Auslöser des Unbehagens - des Mediums Computerspiel ist die Interaktivität. Es macht einen Unterschied, ob man im kultigen Krimi-Drama "Reservoir Dogs" Mr. Blonde dabei zusieht, wie er Officer Marvin Nash zu den beschwingten Klängen von "Stuck In The Middle With You" ein Ohr abschneidet, oder ob man als Spielfigur in einer ähnlichen Szene selbst Hand anlegt.<p>Spiele können einen ebenso in die Opfer- wie in die Täter-Rolle versetzen. Der Macht-Verantwortung sind sich viele Entwickler nicht ausreichend bewusst - und gehen leichtfertig damit um. Im besten Fall allerdings ist ihnen ein zusätzliches Werkzeug fürs Geschichtenerzählen in die Hände gelegt, das sie sinnvoll einzusetzen wissen. Interaktivität ist der größte Trumpf - und die größte Gefahr. Dies zu erkennen, jeden Einzelfall gesondert und fair zu bewerten, läge in der Verantwortung der Debattierer.<p>Wenn ich ein Buch kritisiere, ohne es gelesen, einen Film, ohne ihn gesehen zu haben, wird jemand kommen und sagen: Lies es doch, schau ihn dir doch an, mach dir selbst ein Bild! Ich könnte mir eingestehen, dass man Fremdurteilen nicht trauen und sie schon gar nicht blind übernehmen sollte, das Buch lesen, den Film ansehen, mein Urteil bestätigen oder verwerfen. Die meisten Spiele-Verdammer geben bereitwillig zu, den betreffenden Titel nicht gespielt zu haben. Schlüge man ihnen vor, doch selbst einmal "GTA" auszuprobieren, so könnten sie dies gar nicht, selbst wenn sie wollten. Sie sind damit Menschen, die über Bücher sprechen, ohne lesen zu können, sind Blinde, die einen Film bewerten.<p>In Ermangelung eines treffenderen Begriffs, der ein Selbstverschulden mitausdrückt, dürfte man hier digitalen Analphabetismus diagnostizieren.<p>Es ist nicht nur, aber auch eine Sache des Alters. Ein unsichtbarer Riss geht durch die Generationen - und damit durch die Gesellschaft. Schön wäre eine neue Durchlässigkeit, ein Überwinden des Trennenden. Vielleicht gelingt dem einen oder anderen ja eine größere Entspanntheit im Umgang mit elektronischen Unterhaltungsmedien, eine Versachlichung der Diskussion.<p>Niemand behauptet, dass es leicht sei, auf dem Laufenden zu bleiben; es ist aber nicht zu viel verlangt, gerade, wenn man sich herausnimmt, ein hartes Urteil zu fällen. Auch seitens so vieler beharrlich Unverstandener bräuchte es ehrliche Neugier auf die Perspektive derjenigen, für die Computerspiele ein unentdecktes Land sind.<p>Um den Kreis zu schließen, möchte ich noch einmal auf das Actionspiel "GTA V" zurückkommen, das als eine Art spielbare Gangster-Klamotte beschrieben werden kann. Wie schon in den bisherigen Teilen bewegt man sich auch im neuesten Ableger durch ein weitläufiges Stadt-Areal, dessen simulierte Lebendigkeit in seiner Detailfülle fasziniert. Zwischen den drei spielbaren Figuren kann jederzeit hin- und hergewechselt werden; allesamt Kriminelle, die auch im Privaten einige Schlachten zu schlagen haben. Wesentlicher Teil des Spiels ist das Stehlen von Autos, mit denen man durch die nahezu fotorealistische Umgebung brettern kann.<p>

Verdammungs-Reflex

<p>So mancher mag sich bei Betrachten gewisser Spielszenen an Amokfahrten wie jene in Graz unangenehm erinnert fühlen. Doch gibt man hier vorschnell einem Verdammungs-Reflex nach. Bei näherer Betrachtung ist das Spielerlebnis viel reichhaltiger, ist das gemachte Bild nur ein Mosaik-Steinchen des Ganzen. Die GTA-Reihe versucht sich an einer Simulation möglichst aller Aspekte des Lebens. Innerhalb des Spiels kann man Yoga machen, Golf und Tennis spielen, armdrücken, bowlen, tanzen, sogar mit Aktien spekulieren. Nicht wenige namhafte Spiele-Journalisten erkennen in GTA V eine geglückte Satire auf den "pervertierten amerikanischen Traum". Und ja, es gibt darin Banküberfälle, Schießereien, Gewaltakte.<p>Dem Spieler soll größtmögliche Freiheit geboten werden, weshalb er grundsätzlich nicht daran gehindert wird, Passanten zu überfahren. Im echten Leben geschieht dies ebensowenig. Allerdings gibt es - im Leben wie im Spiel - schwerwiegende Konsequenzen: Die Polizei nimmt die Verfolgung auf, rückt an mit immer schwererem "Gerät". Meines Wissens nach wird in keinem der vielen seit 1997 erschienenen GTA-Titel das wahllose Niedermähen von virtuellen Menschen verlangt oder belohnt, sondern im Gegenteil bestraft.<p>Nun möchte ich nicht behaupten, dass es sich bei GTA um anspruchsvolle, erkenntnisfördernde Spiele-Kunst handelt, nur muss betont werden, dass es damit weitaus mehr auf sich hat, als auf den ersten Blick für den Laien ersichtlich ist, und dass es außerdem eben bloß einer von Tausenden auf dem Markt erhältlichen Titeln ist. Wahrheit bleibt eine Sache der Wahrnehmung, nur sollte man eben wirklich die eigenen Augen benutzen und sich nicht von zugespitzter Fremdwahrnehmung zum Behaupten einer falschen Wahrheit hinreißen lassen.<p>Man wächst an seinen Feinden. So gesehen müsste das Medium Computerspiel bereits eine stattliche Größe erreicht haben. Es hat jedenfalls eine gewisse Reife erlangt, bringt Werke hervor, die eine ernsthafte, kritische Auseinandersetzung nicht nur erlauben, sondern sie unbedingt nötig machen, will man darüber sinnvolle Aussagen treffen.<p>Man kann also nicht oft genug die Einladung aussprechen, Hemmungen und Barrieren abzubauen, und sich offenen Blicks in virtuelle Welten zu begeben. Die Türen stehen offen.<p>Sind wir seit 1928 ein bisschen klüger geworden? Ich bin optimistisch. Damals schrieb S. Walter Fischer zum Lichtspiel als Kunstform: "Die einen sehen im Film nichts anderes als ein gegenwärtig sehr gangbares Mittel, einträgliche Geschäfte zu machen, eine Ware, die man den Wünschen der Zwischenhändler oder Verbraucher anpasst; die anderen betrachten das Lichtspiel als ein neues Gebiet für den schöpferischen Gestaltungswillen, als ein Mittel zu neuartiger Formung und Ausbeutung von Lebenskräften, kurz: als eine neue Kunst."<p>Der Rest ist Geschichte. Mögen die Spiele beginnen.<p>

Lukas Meschik, geboren 1988, lebt als Schriftsteller in Wien. Buch-Veröffentlichungen bei Luftschacht ("Jetzt die Sirenen", Roman; "Anleitung zum Fest", Erzählungen) und Jung & Jung ("Luzidin oder die Stille", Roman).