Zum Hauptinhalt springen

Ein Fest gegen die Angst

Von Heiner Boberski

Reflexionen

<p>Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Fremdenangst, wenn nicht sogar Fremdenhass. Wohl in jeder Familie, in jeder Gruppe steigen die Emotionen, wenn das Thema angeschnitten wird. Von Völkerwanderung, ja von Invasion - sogar Papst Franziskus hat dieses Wort verwendet - ist die Rede. Welche Zahl von Zuwanderern findet in Europa - offenbar nur in einer überschaubaren Zahl von gastfreundlichen Ländern - Aufnahme? Lassen sich Flüchtlinge, die vor einem Krieg davonlaufen, säuberlich von jenen, die "nur" vor Hunger und Elend fliehen, trennen? Kann sich der Kontinent die "Überzähligen" mittels der Türkei, mittels finanzieller und militärischer Maßnahmen vom Leibe halten? Entspricht eine solche Politik den vielbeschworenen Grundwerten Europas?<p>

Klimawandel

<p>Eine Sorge hat große Teile der Welt erfasst, aber bei weitem noch nicht alle Menschen. Viele können und wollen den Klimawandel nicht wahrnehmen oder gar anerkennen, dass darauf das Handeln des Menschen erheblichen Einfluss hat. Ein leichtes Steigen der Durchschnittstemperaturen wird - jedenfalls in unseren Regionen - noch kaum als unangenehm empfunden. Doch Experten warnen zu Recht davor, dass die Erderwärmung katastrophale Folgen für die Menschheit haben wird, wenn sie nicht gestoppt werden kann.<p>Was das mit Ostern zu tun hat? Nun, Ostern ist ein Fest gegen die Angst und gegen den Hass, ein Fest, das die Kreisläufe der Natur bewusst macht und den Sieg des Lebens über den Tod thematisiert. "Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / durch des Frühlings holden, belebenden Blick" - der Osterspaziergang in Johann Wolfgang von Goethes "Faust" weist auf die Veränderungen in der Natur hin, die sich in unseren Breiten zur Osterzeit bemerkbar machen.<p>Wenn sich der Winter noch nicht "in rauhe Berge" zurückgezogen hat, kann der Mensch die Natur als äußerst unfreundlich erleben. An kurzen, kalten, oft finsteren Tagen befällt ihn in einer öden, keine Spuren von lebendiger Vegetation zeigenden Landschaft leicht Trostlosigkeit. Doch wir haben die Erfahrung, dass Wärme und Licht zurückkehren, dass Flora und Fauna im Frühjahr wieder kräftige Lebenszeichen von sich geben. "Im Tale grünet Hoffnungsglück" formuliert es der Dichter. Das Osterfest wurzelt in dieser Erfahrung vom ständigen neuerlichen Aufblühen der Natur und es hat für gläubige Christen noch eine andere Botschaft: Sie feiern, so Goethe, "die Auferstehung des Herrn" - der Karfreitag ist überwunden, Leiden und Tod haben nicht das letzte Wort, der Gekreuzigte ist auch der Auferstandene.<p>Es ist kein Zufall, dass das Christentum Weihnachten zum Zeitpunkt der Wintersonnenwende angesetzt hat, also die Geburt von Jesus Christus dann feiert, wenn die Tage wieder länger werden und das Licht über die Finsternis triumphiert. Dass Ostern der Ankunft des Frühlings folgt - traditionell wird es am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond gefeiert -, macht die Parallelen zwischen der Wiederkehr des Lebens in der Natur mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten augenfällig. Dass der historische Jesus mutmaßlich an einem Tag im frühen April gekreuzigt wurde, also um die Zeit des Frühlingsbeginns in unseren Breiten, mag man als Zufall oder Vorsehung deuten.

<p>"Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein." Fällt es uns leicht, diese Worte Goethes am Ende des Osterspazierganges nachzuvollziehen? Welche Menschen dürfen hier und heute bei uns sein und leben? Welches Sozialgefüge, welche Mitwelt brauchen wir, um uns unseres Menschseins voll und ganz erfreuen zu können?<p>Vor rund drei Jahren hat, knapp vor Ostern, ein Bischof von Rom, der "vom Ende der Welt" kam, sein Amt angetreten. Schon mit der Wahl seines Namens - Franziskus - und in seinen folgenden Aussagen hat er klargestellt, dass er die Aufgabe der Christen vor allem im Einsatz für die Armen und für die ökologischen Grundlagen dieses Planeten sieht.<p>

Freude am Glauben

<p>Franziskus hat sofort begonnen, mit skandalösen Zuständen in der Vatikanbank und in der Kurie aufzuräumen, die in krassem Gegensatz zu christlichen Grundwerten standen. Seine erste Reise führte auf die Flüchtlingsinsel Lampe-dusa und war ein einziger Appell, Obdachlose aufzunehmen. In seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" ging es ihm darum, die Freude am christlichen Glauben hervorzuheben. Mit der Enzyklika "Laudato si" lenkte er den Blick auf die Verantwortung des Menschen für die wunderbare, aber letztlich durch die Gier des Menschen bedrohte Schöpfung Gottes.<p>In seinem neuen Buch, "Wir werden nie genug haben" (Braumüller Verlag, 2016), schreibt der ORF-Journalist Hans Bürger: "Eine 16-Jahres-Studie hat gezeigt: Jüngere Menschen, die 1,7 Dinge besessen hatten - aus einer Wunschliste, die sie selbst zuvor definiert hatten -, waren der Meinung, dass sie 3,1 Dinge glücklich machen würden. Als dieselben Probanden 16 Jahre später befragt wurden, wie das Verhältnis jetzt aussehe, hatten sie angegeben, dass sie 4,4 (sehr glücklich machende Dinge) besitzen, während sie aber nun der Meinung waren, dass sie eigentlich 5,6 Dinge brauchen würden, um das Glücksgefühl noch steigern zu können - vermutlich, um überhaupt gleich zufrieden zu bleiben."<p>Bürger, der in Linz ein Volkswirtschaftsstudium absolviert hat, präsentiert in seinem lesenswerten Buch ein 2009 geführtes, nach den Erfahrungen der letzten Jahre erhellend und prophetisch wirkendes Interview mit seinem Lehrer Kurt W. Rothschild (1914-2010), dem langjährigen Doyen der österreichischen Nationalökonomie. Darin spricht Rothschild offen an, dass heute mit großer Kreativität Bedürfnisse eigens erzeugt werden, um möglichst viel Profit zu machen: "Der Konsument wird manipuliert, um Nachfrage zu schaffen."<p>

Maßloser Übermut

<p>Die Unersättlichkeit des Menschen sprach einst schon das Universalgenie Leonardo da Vinci an: "Sie werden keine Grenze kennen in ihrer Bosheit. Durch ihre rohen Glieder werden die Bäume in den riesigen Wäldern der Welt größtenteils dem Erdboden gleichgemacht werden, und wenn sie satt sein werden, dann werden sie zur Befriedigung ihrer Gelüste Tod und Leid, Drangsal, Angst und Schrecken unter allen lebendigen Wesen verbreiten. In ihrem maßlosen Übermut werden sie sogar zum Himmel fahren wollen, aber die allzu große Schwere ihrer Glieder wird sie unten halten. Da wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser nichts übrig bleiben, was sie nicht verfolgen, aufstöbern oder vernichten werden, und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in ein anderes schleppen werden (. . .) Wahrlich, es hat den Anschein, als wolle die Natur das Menschengeschlecht ausrotten, wie etwas Unnützes auf der Welt, das alles Geschaffene nur vernichtet."<p>Diesen Text zitierte der Ökologe Bernd Lötsch, von 1994 bis 2009 Direktor des Wiener Naturhistorischen Museums, am 3. März in einem Vortrag im Wiener Katholischen Akademikerverband, in dem er die Enzyklika "Laudato si" außerordentlich lobte: "In einer verdichteten Fassung könnte sie zu einem der wichtigsten Dokumente der heutigen Christenheit werden - wohl würdig, neben die Bergpredigt, den Ersten Korintherbrief und den Sonnengesang des Francesco gestellt zu werden." Lötsch bezeichnete diese Enzyklika als "wissenschaftlich unangreifbar, weil hochkompetent und offensichtlich hervorragend beraten, bereichert um ethische Imperative, die man als engagierter Umweltexperte nur unterschreiben kann und mit einer spirituellen Überhöhung, welche die enorme humanitäre Aufgabe einer dringenden ökologischen Wende direkt aus den zeitlosen christlichen Grundwerten herzuleiten vermag".<p>Wie Lötsch ausführte, habe er selbst erst durch Zitate in dieser Enzyklika festgestellt, dass sich bereits ab 1970 die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. deutlich gegen die Ausbeutung der Natur geäußert hatten. Franziskus sei sich nun mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios, dem Ehrenvorsitzenden der orthodoxen Christen, einig, dass die Lösungen nicht nur in der Technik, sondern im Verhalten des Menschen liegen: "Unisono verlangen Bartholomaios und Franziskus den Übergang vom Konsum zum Opfer, von der Habgier zur Freigebigkeit, von der Verschwendung zur Fähigkeit des Teilens, in einer Askese, die bedeutet, zu geben statt aufzugeben."<p>

Ökologie und Glaube

<p>Einen "Höhepunkt" seines Lebens nennt der austro-brasilianische Bischof Erwin Kräutler die Enzy-klika "Laudato si" in seinem neuen Buch, "Habt Mut!" (Tyrolia, 2016). Kräutler durfte dem Papst am 4. April 2014 in Rom die Anliegen der indigenen Völker Amazoniens unterbreiten. Franziskus habe alle diese Anliegen in der Enzyklika aufgegriffen und sich eindringlich für den Schutz des Regenwaldes in Südamerika ausgesprochen. Man brauche, so Kräutler, kein Theologiestudium, um "Laudato si" lesen zu können: "Jeder Mensch kann das Anliegen des Papstes verstehen." Der gebürtige Vorarlberger betont: "Er möchte darauf hinweisen, was Klimawandel für die betroffenen Menschen heißt, und das sind die Armen."<p>Zwei Zitate aus "Laudato si" verdeutlichen, worum es Franziskus geht: "Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde." Und: "Wir müssen uns stärker bewusst machen, dass wir eine einzige Menschheitsfamilie sind. Es gibt keine politischen oder sozialen Grenzen und Barrieren, die uns erlauben, uns zu isolieren, und aus diesem Grund auch keinen Raum für die Globalisierung der Gleichgültigkeit."<p>Die sieben Abschnitte, in die Kräutler sein Buch einteilt, lesen sich wie Anweisungen des gegenwärtigen Papstes an sich selbst und an wache Christen: Liebe die Menschen - Schau bei den Armen nicht weg - Achte die Schöpfung - Suche den Frieden - Führe auf Augenhöhe - Hab Mut zu Veränderungen - Es gibt nur eine Welt, nimm deine globale Verantwortung wahr!<p>

Gerechtigkeit

<p>Die beiden großen Probleme des Planeten - Hunger und Armut auf der einen, Ausbeutung der Natur und Klimawandel auf der anderen Seite - stehen in enger Beziehung. Eine wirklich "gerechte" Verteilung der Güter dieser Erde - zu der die Menschheit wahrscheinlich, selbst wenn sie es wollte, gar nicht fähig wäre - wird wohl immer ein Traum bleiben. Doch der soziale Friede hängt davon ab, dass diese Güter nicht zu ungleich verteilt sind, dass die einen nicht in Dürreregionen hausen müssen, während man bei uns an Übergewicht und materieller Übersättigung leidet. Sonst wird es immer wieder zu Massenwanderungen und Fluchtbewegungen von Menschen kommen, die um ihre Existenz - sauberes Wasser, Nahrung, Kleidung - ringen müssen. Offene Kriege in Teilen Vorderasiens und Afrikas - die übrigens weitgehend mit Waffen geführt werden, an denen westliche Unternehmen verdient haben oder noch immer verdienen - verschärfen die Not.<p>Die Zeiten, in denen man das in den Industrieländern nur me-dial zur Kenntnis nehmen musste, sind vorbei. Heute drängen Massen verzweifelter Menschen, oft unter Lebensgefahr, zu den Toren der "Festung Europa". Die Frage, wie man mit ihnen umgehen soll, spaltet den Kontinent. Schon die Humanität gebietet, sie aufzunehmen und zu versorgen, erst recht verlangt dies das Christentum, das diesen Erdteil entscheidend geprägt hat. Doch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel geriet mit ihrer Bereitschaft, Asylwerber willkommen zu heißen, in Europa immer mehr in die Isolation.<p>Selbsternannte Verteidiger des Abendlandes, die übrigens in den eher atheistischen - bisher auch am wenigsten von Flüchtlingen betroffenen - Landesteilen Deutschlands am lautesten agieren, schüren Ängste vor Ausländern und haben starken Zulauf. Auch in Österreich wird gegen die Aufnahme von Flüchtlingen Stimmung gemacht. "Wir mutieren immer mehr zu einer Angstgesellschaft" schreibt der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner in seinem neuen Buch, "Entängstigt euch!" (Patmos Verlag, 2016). Diese Angst bezieht sich vor allem auf eine mögliche Islamisierung Europas. Laut einer von Zulehner unlängst durchgeführten Umfrage schätzen viele den künftigen Anteil von Muslimen auf ein Viertel oder sogar ein Drittel der europäischen Bevölkerung, sollten alle syrischen Kriegsflüchtlinge und zusätzlich Afghanen und Afrikaner hier einwandern.<p>Diese Quote ist freilich angesichts von rund 742 Millionen Europäern, von denen 508 Millionen in Ländern der Europäischen Union leben, nicht realistisch. Derzeit beträgt der Anteil der Muslime in Europa maximal 7 bis 8 Prozent, sie haben allerdings eine höhere - wenn auch von Generation zu Generation abnehmende - Geburtenrate.<p>Natürlich ist der militante Islam, dessen Auswüchse der "Islamische Staat" und entsetzliche Terroranschläge vor Augen führen, höchst gefährlich. Anlass zu großer Besorgnis gibt aber auch, wie unsolidarisch Europa in dieser Situation agiert. Für manche politische Gruppen in Europa gehört es längst zur Geschäftsgrundlage, die vorhandenen Ängste zu verstärken. Wenn die diffuse Angst kleiner werde, könne die Solidarität größer werden, betont Zulehner. Er wendet sich gegen "eine Politik, die mit unchristlichen Mitteln das christliche Abendland retten will" und richtet an seine Leser den Aufruf: "Entängstigt euch!"<p>

Aufruf zum Mut

<p>Die vielen Europäer, die in der Flüchtlingskrise Zivilcourage und Engagement bewiesen haben, Christen und Nichtchristen, sind nicht ängstlich, sondern teilen mit der deutschen Pastorentochter Angela Merkel die Zuversicht: "Wir schaffen das."<p>Das Gegenteil von Angst ist Mut. Auf diesen Begriff bezieht sich auch Kräutler, dessen Buch laut Untertitel "Jetzt die Welt und die Kirche verändern" will, wenn er appelliert: "Habt Mut!"<p>Und damit sind wir wieder bei Ostern. Denn die beiden aktuellen Buchtitel drücken nur mit anderen Worten etwas aus, was an sehr vielen Stellen der Bibel steht. Auch die erste Anrede des Auferstandenen an seine "hinter verschlossenen Türen" zusammengekommenen Apostel lautet, und nicht nur gläubige Christen sollten sich davon angesprochen fühlen: "Fürchtet euch nicht!"

Heiner Boberski, geboren 1950 in Linz, von 1995 bis 2001 Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Furche", von 2004 bis 2015 Redakteur im Feuilleton der "Wiener Zeitung", Verfasser bzw. Co-Autor zahlreicher Bücher, u.a. "Geheimnis Vatikan" (2006), "Weltmacht oder Auslaufmodell - Religionen im 21. Jahrhundert" (2013).