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Mutation des Verbrechens

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Von einem Rückgang der Kriminalität kann zwar nirgendwo auf der Welt die Rede sein, allerdings fällt seit Jahren die Mordrate. Wie erklärt sich das?


Vor kurzem machte die britische Zeitschrift "The Spectator" (19. 3. 2016) mit einem reißerischen Titel auf: "Who killed murder?", stand da in großen Lettern geschrieben - wer hat den Mord getötet? Das ist eine verwegene, aber zugleich spannende Frage. "Die armen Kriminalautoren", eröffnete der Schriftsteller und Krimiautor Andrew Taylor seinen Essay: "Unsere Tantiemen, wie die aller Autoren, sinken aus Gründen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Unsere fiktionalen Kriminellen und Detektive werden überlistet durch genetische Fingerabdrücke, omnipräsente Überwachungskameras und petzende Mobilfunkgeräte. Wer braucht noch Sherlock Holmes, wenn man Computer hat, mit ihrer spielverderberischen Fähigkeit, enorme Datenmengen zu übertragen und analysieren und Täter zu identifizieren."

Das größere Problem für Romanautoren sei jedoch, dass der Mord selbst ausstirbt. Diese These vom "crime decline" wurde immer wieder vorgetragen, aber selten mit so viel Verve. Taylor stützt seine Behauptung auf eine (ohne Quellenangabe genannte) Statistik, wonach die Zahl der Kapitaldelikte in Großbritannien 2002 einen Höhepunkt erreichte und sich seitdem von 944 auf 527 fast halbierte. Die Zahl der Mordfälle, so Taylor, sei auf demselben Niveau wie zu Zeiten Queen Victorias, wo die Straßen sicher gewesen seien.

Wertneutrale Statistik

Zugegeben, das ist eine etwas abenteuerliche Sicht auf die Zeitläufte, denn in der Ära Queen Victorias trieb der berühmt-berüchtigte Jack the Ripper in den dunklen Gassen Londons sein Unwesen und schlitzte Prostituierte auf. Sicherer war das Leben damals gewiss nicht. Es wäre auch ein methodischer Fehler, die absoluten Zahlen von damals mit denen von heute zu vergleichen, da zu Zeiten Queen Victorias die Bevölkerungszahl deutlich geringer war. Die Statistik spricht deshalb einigermaßen wertneutral (Mord ist ja ein moralisch aufgeladener Begriff und gesonderter Straftatbestand) von der Tötungsrate, also der Zahl der jährlichen Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner, die von der Weltbank oder dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) für jedes Land einzeln erfasst wird.

Nun wäre es falsch, von einem Fallbeispiel auf den Rest der Welt zu schließen - ein sogenannter induktiver Fehlschluss. Allein, Großbritannien ist kein Einzelfall. Taylor identifiziert einen globalen Trend in Industrienationen, wonach nicht nur die Zahl der Tötungsdelikte kontinuierlich fällt, sondern auch jene der Einbruchsdelikte und Diebstähle.

Global gesehen ist nach Angaben der Vereinten Nationen die Zahl der Tötungsdelikte von 468.000 im Jahr 2010 auf 437.000 im Jahr 2013 gefallen. Das ist zunächst ein kontraintuitiver Befund, schließlich meint man durch die zahlreichen Berichte über den Drogenkrieg in Mexiko oder die Desaparecidos in Lateinamerika, dass das Morden stetig zunimmt. Diese Annahme deckt sich aber nur zum Teil mit der Empirie. In Regionen wie Lateinamerika ist die Mordrate steigend, in Asien und Europa hingegen seit Jahren rückläufig.

In Deutschland ist die Tötungsrate laut Eurostat von 1,0 im Jahr 2005 auf 0,8 im Jahr 2011 gesunken, was in absoluten Zahlen einem Rückgang von 889 Tötungen auf 662 entspricht. Im gleichen Zeitraum ist die Tötungsrate in der Schweiz von 1,0 auf 0,6 gefallen, absolut von 75 auf 45. In Österreich - kleiner statistischer Ausreißer - ist die Mordrate von 0,7 im Jahr 2005 auf 0,9 2012 gestiegen.

Die USA, die mit einer Tötungsrate von 3,8 den höchsten Wert in den OECD-Staaten haben, verzeichnen seit Jahren einen Rückgang in der Mordstatistik. Nun kann man darin einen methodischen Fehler sehen. Mord ist nicht einheitlich definiert, die Definition der UNODC - "vorsätzlich herbeigeführter Tod einer Person durch die gewalttätige, widerrechtliche Handlung einer anderen Person" - wird von den Statistikämtern jeweils unterschiedlich ausgelegt. Es gibt eine hohe Dunkelziffer, bedingt dadurch, dass der (legalisierte) Massenmord durch Nichtkombattanten nicht in der Kriminalstatistik auftaucht.

Trotzdem bleibt ein gewisser Rückgang der Mordrate. Wie ist dieser Trend zu erklären? Sozialwissenschaftliche oder im Spe-ziellen kriminologische Theorien verweisen auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und Kriminalität beziehungsweise auf die allgemeine Wirtschaftslage und den Wohlstand einer Gesellschaft als erklärende Variable. Wo es vielen schlecht geht, wird der Einzelne eher zum Kapitalverbrecher als in einer Gesellschaft, wo es den meisten gut geht. Das belegen die hohen Mordraten in Honduras (84,3), Venezuela (53,6) und Belize (45,1), wo das BIP pro Kopf im internationalen Vergleich niedrig ist und die hohe Kriminalität mit der Armutsquote korreliert.

Dieses Theorem erklärt jedoch nicht, warum die Zahl der Tötungsdelikte in der globalen Rezession gefallen ist. In Spanien etwa ist die Mordrate ausweislich der UNOCD-Daten in der Immobilienkrise signifikant gesunken. Ist die Mordrate vielleicht gefallen, weil man die Täter hinter Gitter gesperrt hat? Die Zahl der Gefängnisinsassen hat sich in den letzten 25 Jahren in Großbritannien, Australien und den USA verdoppelt. Gleichwohl scheint dieser Zusammenhang nicht empirisch evident zu sein. In Kanada und in den Niederlanden, wo in den letzten Jahren zahlreiche Häftlinge entlassen wurden, wurde in der Zeit kein signifikanter Anstieg der Tötungsrate registriert.

Neue Erklärungen

Selbst in New York, einem Hotspot für Mord, ist die Gefangenenrate in der letzten Dekade laut dem "National Bureau of Economic Research" um 26 Prozent gefallen, während Verbrechen gleichzeitig um 28 Prozent zurückgingen. Es muss also andere Gründe für den Rückgang der Kriminalität geben.

Der britische Kriminologe Steve Hall, der an der Teeside University in Middlesbrough lehrt, sieht die Ursache in dem wachsenden Sicherheitsapparat. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" sagt er: "Die Fortschritte der Polizei und Technologie - vor allem DNA, Videoüberwachung, Computer-Datenbanken - haben es für Straftäter schwieriger gemacht, ungeschoren mit Mord davonzukommen, sie werden deshalb abgeschreckt." In kriminellen Hotspots werden Morde häufig von jungen Erwachsenen begangen, die eine "weniger konsequentialistische und rationale" Vorstellung vom Leben hätten und von Alkohol und Drogen beeinträchtigt seien.

Hall identifiziert eine "Mutation des Verbrechens". Die erweiterten Sicherheitsmaßnahmen würden das Verbrechen nicht ausmerzen, aber verändern. "Die Mutation des Verbrechens hat eine lange Geschichte", so Hall. "Die Mordraten in Europa begannen je nach Region zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert zu sinken. Gleichwohl ist die Beschaffungskriminalität kontinuierlich gestiegen. Über die Zeit haben Kriminelle Wege gefunden, Verbrechen zu begehen, die kaum Gewaltanwendung notwendig machten. So fiel die Tötungsrate zwischen nichtverwandten Erwachsenen beständig, obwohl die Tötungsrate zwischen verwandten Erwachsenen stieg."

Tötungsdelikte sind meist Beziehungsdelikte, heimtückische Morde, bei denen man der dementen Oma Gift in den Kaffee träufelt oder den Ehepartner im Schlaf erdrosselt. "Der Rückgang traditioneller Verbrechen, den wir seit kurzer Zeit feststellen, und der Übergang zur Cyberkriminalität - zum Beispiel der illegale Drogenhandel auf der Silk Road - haben den Bedarf von Face-to-Face-Interaktion reduziert und dazu beigetragen, Mordzahlen zwischen nichtverwandten Erwachsenen zu reduzieren", erklärt Hall.

Man muss heute nicht mehr den Tankstellenpächter erschießen, um an Geld zu kommen, man kann den anderen ganz einfach beim Online-Poker über den Tisch ziehen oder mit einem Trojaner das Online-Konto plündern. Die Gewalt kommt auf leisen Sohlen. Hall fordert daher, auch Cyberkriminalität in die Statistik mit aufzunehmen.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Überwachung wäre es jedoch interessant zu wissen, ob wir langfristig auf deutlich niedrigere Kriminalitäts- und Mordraten zusteuern. Und vielleicht sogar auf eine gänzlich gewaltfreie Gesellschaft. An öffentlichen Plätzen werden immer mehr Überwachungskameras installiert, Sensoren erfassen Geräusche, an US-Flughäfen werden immer mehr Gesichtserkennungssysteme eingesetzt, die potenzielle Attentäter aufgrund ihrer biometrischen Merkmale erkennen sollen.

Auge der Technik

Dem wachsamen Auge der Technik entgeht nichts. Jeder Schritt, jeder Blick wird registriert. In der Öffentlichkeit oder zu Hause im Smart Home. Das kann für Täter eine abschreckende Wirkung haben. Freilich gibt es immer noch dunkle Flecken, in denen Kriminelle unbeobachtet vom Radar der Polizei zur Tat schreiten können.Doch scheint es einen negativen Zusammenhang zwischen Überwachung und Kriminalität zu geben. Man kann daher die ketzerische Frage stellen, ob es in einer totalüberwachten Gesellschaft noch Mord geben würde.

Im spanischen San Sebastian sind unter dem Asphalt hunderte elektromagnetische und akustische Sensoren installiert, die Geräusche wie Sirenen und Schüsse aufzeichnen können. Algorithmen werten die akustischen Signale aus und leiten sie an die Behörden weiter. Wenn irgendwo ein Hilferuf erhallt oder ein Schuss fällt, wird automatisch die Polizei alarmiert. In den USA werden tausende solcher Detektoren (ShotSpotter) verbaut, um Schüsse zu verorten. Polizeibehörden setzen auf die Methode des Predictive Policing, bei der aus vergangenen Taten eine Wahrscheinlichkeit für Delikte in der Zukunft errechnet wird. Die Methode ist meist auf Einbruchsdelikte beschränkt, doch auch aus Kapitaldelikten lassen sich Regelmäßigkeiten ableiten. Ob man mit PreCrime-Software und Überwachung das Verbrechen ausradieren kann, ist aber fraglich. Mord bleibt wohl ein Phänomen, das die Gesellschaft weiter begleiten wird. Und so haben die Kriminalautoren weiterhin genügend Stoff, ihre Gruselgeschichten zu Papier zu bringen.

Adrian Lobe, geboren 1988, schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.

Artikel in der britischen Zeitschrift The Spectator "Who killed murder?"