Dies ist eine Geschichte aus dem kleinen Ort Kritzendorf in Niederösterreich, wo sich in einer Raucherpause auf dem Vorplatz des verträumten Strandcafés plötzlich eine ganze Welt auftut - eine Welt im Netz. Vorgestellt wird mir eine aparte Frau mit grau durchsetzter schwarzer Kurzhaarfrisur und funkelnden Augen, die gerade aus Wien gekommen und Eigentümerin eines der schönsten historischen Stelzenhäuser im Hochwassergebiet an der Donau geworden war.
So weit wäre das nichts Besonderes, aber die Frau hatte zu der Zeit schon sechzig Millionen Zugriffe auf dem Internetportal YouTube erreicht - mit Stricken. Sechzig Millionen mit Stricken auf einem Portal voller alter Rockstars und junger Comedians? Das schau ich mir an, hab ich gedacht, und als es nach einem Jahr endlich klappte mit der Einladung auf einen Kaffee, hielt die magische Zahl schon bei zweiundachtzig Millionen, zehn Clicks auf jeden lebenden Österreicher. So oft waren ihre selbstgedrehten kleinen Videos mit Tipps zum Stricken angeschaut worden, und die Zahl wächst weiter. Wie konnte das geschehen?
Bestrickender Beginn
Elisabeth Wetsch, von Beruf Webdesignerin und Dozentin in Wien, die sich nach der Heldin in Bernard Shaws Theaterstück "Pygmalion" Elizza nennt (im Gegensatz zum literarischen Vorbild aber mit zwei z), wollte 2008 ihren Studierenden eigentlich nur vorführen, wie man ein einfaches kleines Video produziert und bei YouTube ins Netz stellt. Beim stundenlangen Wachen am Bett ihrer sterbenskranken Mutter war sie in Erinnerung an die Schulzeit aufs Stricken zurückgekommen, und so wählte sie als Gegenstand des Videos mit den Studierenden nicht ihren ersten Einfall ("Wie binde ich einen Schuh zu?"), sondern die Frage, wie man einen Maschenanschlag strickt, also mit dem Stricken beginnt.
Gesagt, getan - und schnell vergessen. Es vergingen ein paar Wochen ohne weitere Beachtung, bis Elizza im Netz schauen wollte, was aus dem Spot bei YouTube geworden war. Sie fand hunderte Kommentare und vierzigtausend Zuschauerkontakte vor, wurde neugierig und entdeckte etliche Homepages mit Strickhilfen. In Ästhetik und Anleitung erschienen ihr die durchwegs "grausam", und wenn Elizza etwas sinnvoll, aber gar nicht gelungen findet, will sie es besser machen.
Schon als Mitarbeiterin der Werbeagentur Saatchi & Saatchi bot sie an, einen Urlaub zu opfern, um endlich einen Computer zu bekommen. Den ersten eigenen schenkte ihr dann aber erst der Geliebte 1986 zu Weihnachten, und Elizza begann sofort, kleine Programme zu schreiben. Vom USA-Urlaub brachte sie teure Horoskope auf Floppy-Discs mit und es gelang ihr, Übersetzungen ins Deutsche zu verkaufen, bis sie sich ihren ersten Mac leisten konnte. Die PCs importierte sie dann sogar eine Weile lang nach Österreich, wo der Markt dafür gerade erst erwachte. Nebenbei machte sich Elizza als Texterin selbstständig, schrieb Programme, und das sprach sich herum.
1995 wurde sie vom EDV-Leiter der Technischen Universität Wien beauftragt, ein neues Organigramm der gesamten Hochschule zu entwerfen. Auf morbiden Leitungen und mit dem Risiko, ständig Daten zu verlieren, experimentierte Elizza über Fax und Telefon in Richtung Internet, bis sie eine erste Verbindung gebastelt hatte und an andere Websites herankam, von denen sie lernen konnte. Über die Technik hinaus wollte sie aber auch Ansprüche an Ästhetik und Unterhaltung verwirklichen. In einem sehr auffälligen Comic-Design schuf sie briefmarkengroße farbige Profilbilder für die einzelnen Abteilungen der Hochschule und erntete dafür sowohl einen Proteststurm der konservativen Professoren als auch Preise bei Wettbewerben für Gestaltung. Was heute Web-Design heißt, fing damals gerade an, und Elizza war in Österreich einer der ersten Stars.
Ihre Energie und ihre Kreativität führten Elisabeth Wetsch in der Folge zu einer eigenen Agentur für Webdesign mit Aufträgen von Ministerien und Banken, mit zehn Mitarbeitern und sechsstelligen Budgets. Auf dem Gipfel angekommen, ließ sie sich in einen Medienriesen integrieren - und wurde in einen Konkurs mitgerissen.
Nach dem Tod ihrer Mutter und dem Geschäftsabsturz niedergeschlagen zu sein, ergab zwar Sinn, aber wiederum wollte Elizza es besser machen. Sie war gescheit genug, nicht auf den nächsten Versuch im selben Revier zu setzen, sondern griff zu Wolle und Nadeln. Auf der Krebsstation im Spital hatte sie schon Mützen für Glatzen gestrickt und für sich selbst eine erholsame, heilsame Verlangsamung kennengelernt.
"Ich hab mich da rausgestrickt", sagt sie heute. Nichtstun mache sie fertig, aber mit Stricken gehts. Der Stress fließt über die Hände raus. Sie fängt wieder zu unterrichten an, auch das Netz hat sie wieder, und das Märchen vom Stricken im Internet nimmt seinen Lauf. Millionen spielen plötzlich mit, obwohl es größere Gegensätze kaum zu geben scheint: Alt und Neu, Vergangenheit und Zukunft, langsam und schnell - Stricken und Internet scheinen natürliche Gegensätze, aber sie passen erstaunlicherweise gut zusammen.