
Es lohnt sich, über den Hinweis auf Russland nachzudenken. Denn tatsächlich war Bismarck nicht der Einzige, der in der k.k. Monarchie ein Glacis gegen die Expansionsbestrebungen St. Petersburgs erblickte. So hatte beispielsweise auch der tschechische Historiker Franz Palacký bereits 1848 in einem Brief an die Delegierten in Frankfurt vor einem Vorrücken der russischen "Universalmonarchie" über die Karpaten in den Donauraum gewarnt.
Mit dem Untergang des Habsburgerstaates, betonte er, würden nicht nur die Böhmen, sondern alle Völker des Reichs, "von welchen keines für sich allein mächtig genug ist, dem übermächtigen Nachbar im Osten in alle Zukunft erfolgreich Widerstand zu leisten", ihre letzte Freiheit verlieren. "Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst", schloss er, "man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen."
Dass dieses Österreich ein Teil Deutschlands war und bleiben musste, verstand sich für Palacký von selbst. Allerdings war das Ergebnis des Prager Friedens von 1866 nicht die einzige bittere Enttäuschung, die der Tscheche erfahren musste. Dem Trauma vom Ausschluss aus Deutschland folgte jenes des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867, in welchem sich nun die zur Minderheit geschrumpften Deutsch-Österreicher die Macht mit der zweiten großen Minderheit im Reich, den Magyaren, teilten.
Atomisierung
Dass Palacký diese "Fehlkon-struktion" (Otto Habsburg), in der sich die Slawen der Monarchie nicht wiederfanden, ablehnte, enthält eine gewisse Logik. Tatsächlich darf man die nationalen Kräfte, die durch den Abbruch der österreichischen von der deutschen Kontinentalplatte plötzlich frei wurden, nicht geringschätzen, brachten sie doch den neuen k.u.k. Staat an den Rand der Unregierbarkeit. In dem Maße, wie mit Palacký (und später Thomas Masaryk) immer mehr Tschechen für die Belange des Panslawismus eintraten, gewann auch auf deutscher Seite der Führer der Alldeutschen Bewegung, Georg von Schönerer, mit seinem Anschlussprogramm an Deutschland Anhänger. Einer von ihnen war Adolf Hitler.
Allein die Bemühungen des Thronfolgers Franz Ferdinand, durch die Schaffung eines dritten, slawischen Reichsteiles Druck aus dem überhitzten Kessel zu lassen, kamen zu spät - am 28. Juni 1914 flog mit den Schüssen von Sarajevo der Deckel. Die Prophezeiungen, die Bismarck und Palacký für den Fall der - letztlich von ihnen mitbetriebenen - Zerstörung Österreichs hatten, wurden Realität.
Ab 1919 war Mitteleuropa atomisiert und wurde folglich zum blutigen Spielball totalitärer Regime faschistischer, nazistischer und kommunistischer Prägung, deren Nachwehen bis in unsere Tage spürbar geblieben sind. Die Ironie lautet: Preußen erging es nicht besser. In dem Moment, als Bismarck das Königreich zu seiner größten Ausdehnung gebracht hatte, entglitt ihm seine Schöpfung wieder und das Deutsche Reich wurde 1871 "unter seinen Händen Wirklichkeit".
Der Geist des Nationalismus, den der Ministerpräsident mitbeschworen hatte, aber lebte weiter. Er bestimmte fortan die Geschicke Europas und ließ es zu, dass der geborene Österreicher Hitler dem kleindeutschen Staat imperiale Ziele setzte, die über dessen Kraft hinausgingen und ihn in die furchtbarste Niederlage seiner Geschichte stürzte.
Christoph Rella, geboren 1979, ist Historiker und arbeitet als Redakteur bei der "Wiener Zeitung".