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Was Europa zu erwarten hat

Von Silvio Vietta

Reflexionen

Die heutigen und künftigen globalen Krisen sind Folgelasten einer langen Kulturgeschichte der Rationalität.


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Die Rationalität garantierte jahrhundertelang die Vorherrschaft Europas. Ob sie auch die Zunkunft des Kontinents sichert, steht in den Sternen.
© fotolia/ WZ

Zu den Fehlern, die das neue Europa der EU von seinen Anfängen an torpediert haben, gehört ein Rationalitätsdefizit ihrer Gründerväter bei eben jener Gründung des neuen Europa. Wenn es das erklärte Ziel der Europäischen Union war und ist, "den mit der Gründung der Europäischen Union eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben", wie es der "Vertrag über die europäische Union" formuliert, so hätte man von Anfang an sehr viel mehr auf die Unterschiede jener Länder Europas achten müssen, die da mit dem Ziel einer gemeinsamen Integration zusammengeschlossen wurden.<p>

Brisante Differenzen

<p>Es waren Länder von sehr unterschiedlichen Standards der Rationalitätsentwicklung. Der Riss ging mitten durch Europa zwischen den Süd- und den Nordstaaten. Ein Land wie Griechenland erfüllte bekanntlich gar nicht die Kriterien der Aufnahme in die Euro-Zone, war weder von seiner ökonomischen Produktivität noch seiner internen politischen Organisation auf den Beitritt eingerichtet, hat ihn ja auch durch Zahlenmanipulation eher erschlichen als erworben.<p>Das Land bekam dann viel gutes Geld und günstige Kredite, die zu eben jener Überschuldungskrise führten, mit der das Land wie die Union seitdem zu kämpfen haben. Man hatte schlicht bei der Integrationszielsetzung die Differenzen der Rationalitätsstandards jener Länder missachtet, die da zusammengeschweißt werden sollten. Diese Differenzen entwickelten dann eine Sprengkraft innerhalb der durch die EU vereinigten Länder und tun dies heute eher mehr als weniger.<p>Die neue europäische Problematik fordert einen langen Blick zurück in die Geschichte Europas. Es war ja gerade das antike Griechenland, das vor mehr als 2500 Jahren einen neuen Begriff von Rationalität entwickelt hat, der seitdem die Geschichte Europas leitete und der auch letztlich zur Globalisierung mit ihren Problemen geführt hat. Das antike Griechenland hat das rationale Denken in der Form von Wissenschaft erfunden und durch deren pragmatische Anwendung auf den verschiedenen Kultursektoren - ich nenne die rationale Erkenntnis des Kosmos, die rationale Strukturierung von Raum und Zeit, die quantitative Geldwirtschaft und vor allem auch die rationale Kriegstechnik - Standards gesetzt, die nicht weiser als alle anderen Kulturen, ihnen aber machtpolitisch überlegen waren.

<p>Insbesondere die pythagoreische Mathematisierung von Erkenntnisstrukturen führte zu jenem rationalen Umgang mit dem Raum und mit der Zeit, der langfristig den Raum geometrisiert und die Zeit messtechnisch zerlegt hat. Bereits die Griechen, dann die Römer schufen Städte nach rein geometrischem Muster und organisierten so auch ihre Kriegsmaschinerie, indem sie die Infanterie in geometrischen Blöcken auflaufen ließ - die Phalanx -, die wie eine Walze wirkte, mit der feindliche Truppen überrannt und besiegt werden konnten. Die Griechen schlugen mit dieser Strategie 490 v. Chr. die Perser bei Marathon in die Flucht und verteidigten so ihre Demokratie und Freiheit. Die Makedonier, dann Römer übernahmen und modifizierten die Strategie der Phalanx und eroberten so die ersten Weltreiche der Weltgeschichte. Seitdem, so kann man verkürzt sagen, vollzieht sich Weltgeschichte nach der Maßgabe und mit dem Ziel von Welteroberung.<p>

Rationalitätssieger

<p>Damit begann aber auch ein Prozess der Kolonisierung der Welt, der diese unterteilt in Rationalitätssieger und -verlierer. Letztere wurden unterworfen, mussten Tribute zahlen, wurden bei langfristigem Widerstand auch ausgerottet. Der Reichtum der Provinzen floss in die Hauptstädte der Rationalitätssieger.<p>Rom wurde so im ersten Jahrhundert v. Chr. schon durch die Zuflüsse aus den Provinzen unheimlich reich. Die Bürger mussten keine Steuern mehr zahlen. Die römischen Bürger als Rationalitätssieger konnten sich ein Leben in Luxus und Verschwendung leisten, das dann vor allem auch das Rom der Kaiserzeit auszeichnete. Fast eintausend Jahre lang - von ca. 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. - beherrschte die rationale Kriegsstrategie einschließlich ihrer Kriegsmaschinen die Weltgeschichte und teilte sie in Sieger und Besiegte, Herren und Sklaven, Arm und Reich.<p>Der am Ende der Antike auftauchende Islam hat genau diese Strategie übernommen. Mohammed war ein Prophet und Kriegsherr. Seine Religion vereinte die zerstrittenen arabischen Stämme und führte bereits im 7. und 8. Jahrhundert zur Expansion des islamischen Herrschaftsterritoriums vom Hindukusch über ganz Nordafrika, Spanien bis nach Mittelfrankreich. Dem Ziel diente auch der Koran mit Suren, die direkt zum Krieg gegen die "Ungläubigen" aufrufen und himmlischen "Lohn" denjenigen versprechen, die im Kampfe gegen sie fallen. Der Koran droht die "Hölle" den Feinden des Islam an und dies als direkten Gottesauftrag: "Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen [. . .] und sei hart gegen sie! Die Hölle wird sie (dereinst) aufnehmen" (Sure 9,73). Sure 2,191 - wie viele andere - befielt: "Und tötet sie (d.h. die heidnischen Gegner), wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt".<p>

Invasionen

<p>Der Islam gehört zu Europa! - aber dies vor allem durch die lange Geschichte wechselseitiger Invasionen, zunächst von Seiten des Islam nach Europa, seit Napoleon aber auch in umgekehrter Richtung. Und neuesten Datums wieder von Seiten des IS mit dem Ziel einer erneuten Eroberung Europas. Ich habe in meinem Buch zur "Weltgesellschaft" diese Phasen wechselseitiger Invasionen nachgezeichnet.<p>In der Geschichte des Abendlandes bringt die Neuzeit zwei entscheidende Neuerungen. Erstens: die Feuerwaffen. Deren Einsatz führt zu jener Überlegenheit, mit der die neuzeitlichen Kolonialmächte nun die ganze Welt erobern konnten. Es ist ja erstaunlich, dass kleine Länder wie Portugal, Spanien, Holland, England praktisch die ganze Erde dominieren konnten. Anfang des 20. Jahrhunderts kontrollierte England mit seinem Empire rund ein Viertel der Landmasse der Erde.<p>Diese europäische Überlegenheit ist eine Funktion ihrer überlegenen Rationalität - nicht Weisheit! - auf den verschiedenen Kultursektoren wie Geographie, Navigation, Verwaltungsorganisation, frühkapitalistische Geldwirtschaft und vor allem: Kriegstechnik mit Hilfe von immer besseren und weiter reichenden Feuerwaffen.<p>Große Reichtümer an Gold und Geld flossen so aus den eroberten und ausgebeuteten Kolonien in die Hände der Kolonialherren oder diese siedelten sich selbst in den Kolonien an und beackerten sie nach europäischem Vorbild einschließlich der Kühe, Schweine, Pferde, Schafe, Ziegen, mit denen die Europäer in die "Neue Welt" einrückten. In dieser Kolonialgeschichte formiert sich die globale Gesellschaft, und eben wieder: als Rationalitätssieger oder -verlierer.<p>Rationalitätsgeschichte ist somit immer auch eine Geschichte der irrationalen Machtexpansion gewesen, getrieben von der Gier nach Geld und Gold. Rationalitätsgeschichte ist die Geschichte der Asymmetrie der Macht, daher Machtexpansion, die zumeist allerdings auch zu einer Überdehnung und dem Zusammenbruch der überdehnten Imperien führte.<p>Der zweite entscheidende Faktor für die Bildung einer neuzeitlichen Weltgesellschaft und ihren Reichtum ist die Erfindung der produktiven Arbeit nach rationalem Standard. Rationalität bedeutet hier: Erstellung eines Masterplanes für die Produktion, Unterteilung der Arbeitsschritte auf seiner Grundlage, Nutzung mechanischer Energie bei der Fertigung, kurz: Industrialisierung. Und hier gibt es wieder die Unterteilung in Sieger und Verlierer: Diejenigen, die an der Spitze der neuen rationalen Industrieproduktion stehen, und solche, die diesen Schritt verpassen, diejenigen, die ihn finanzieren und organisieren, und diejenigen, die an den Bändern stehen und nach rationalem Zeittakt ihre Handgriffe leisten. Damit sind wir bei den heutigen europäischen wie globalen Krisen. Sie sind Folgelasten einer von Europa ausgegangenen Kulturgeschichte, die man erst einmal verstehen muss, wenn man ihre Risiken wie Chancen abschätzen will.<p>Zunächst einmal: Die Rationalitätskultur hat heute einen Weltstandard gesetzt, hinter den man nicht mehr zurück kann. Ein "Zurück zur Natur!", wie es Rousseau, die Romantik und viele zivilisationskritische Bewegungen bis zu den "68ern" anstrebten, kann es nicht mehr geben. Der Lebensstandard und auch die Kommunikationsstrukturen werden heute weltweit definiert durch die Teilhabe an technischem Gerät wie Handys, Internet, Autos, Flugzeuge, rationale Medizin, moderner Wohnkomfort. Macht hat nur, wer auch über technische Waffen verfügt. Auch der IS als ein Hauptverächter der westlichen Kultur wäre ohne diese nichts.<p>Damit aber teilt sich die Welt auf in solche Länder, die solches Gerät produzieren können, und solche Länder und Kulturen, die sie nur konsumieren. Der Reichtum ist vor allem in den ersteren, das ist die nördliche Hemisphäre der Erde, und hier auch vor allem in den nördlichen Zonen. Reichtum wird natürlich auch jenen Zonen beschert, die Öl und andere wertvolle Rohstoffe produzieren, aber hier sind es eben auch jene Firmen, die über das rationale Know How und die Techniken des Abbaus und der Verarbeitung verfügen, die den Gewinn abschöpfen. Die Rationalitätskultur aber ist heute zu der dominanten Weltkultur geworden, ob uns das passt oder nicht.<p>Damit gehen zwei wichtige Veränderungen unserer heutigen Weltkultur einher: Zum einen die Fundamentalisierung von Reli-
gion. Insbesondere der Islam ist zu einer Art Kompensation und Gegenmacht derer geworden, die nicht auf dem Stand der rationalen Weltkultur sind, diese zum Teil verachten, aber dennoch daran teilhaben wollen. Ein zweiter Haupttrend: die Migrationsbewegungen von den Armuts- in die Reichtumszonen der Erde. Denn an den "Segnungen" der technischen Zivilisation wollen doch mehr oder weniger alle teilhaben.<p>Dabei spielen natürlich noch ganz andere Faktoren eine wichtige Rolle, wie die politische Destabilisierung ganzer Regionen durch das inkompetente und naive Eingreifen des Westens, etwa in den Ländern des Nahen Ostens. Wo man Demokratie pflanzen wollte, hat der Westen vielfach ein Chaos und Anarchie allererst dadurch erzeugt, dass er Diktatoren beseitigt hat, die zwar brutal waren, aber doch Ordnungsgaranten. Heute trauern viele Libyer dem Diktator Gaddafi eher nach, als dass sie durch ihre Befreiung von ihm froh würden.<p>Aus der Logik der Rationalitätsgeschichte folgt, dass sie sich weiter entwickeln wird. Diese Entwicklung wird aber auch die Schere zwischen den Rationalitätssiegern und den -verlierern eher vergrößern als verkleinern. Die Wirtschaftsförderungspolitik wird die Differenzen immer weniger überbrücken können. Die Idee, durch Wirtschaftshilfe Afrika an den Standard des Westens heranzuführen, muss als gescheitert gelten. Die Länder Afrikas nach der Dekolonisierung haben ja auch Selbstverantwortung übernommen, der sie zumeist kaum gewachsen waren.<p>Was wird also von der Zukunft zu erwarten sein? Afrika hat heute über 1,1 Milliarden Menschen und das dynamischste Bevölkerungswachstum der Welt, gerade in den größten Armutsregionen in Schwarzafrika. Bis 2050 soll sich die Bevölkerung Afrikas auf über zwei Milliarden verdoppeln und bis 2100 auf über vier Milliarden anwachsen.<p>

Zukünftige Migranten

<p>Afrika würde damit Asien als bevölkerungsreichsten Kontinent ablösen. Schon heute leben über 800 Millionen Menschen dort in bitterer Armut. Der UN-Standard beziffert extreme Armut auf weniger als 1,25 Dollar Einkommen pro Tag. Sicher sind viele Gründe für die Armut in Afrika verantwortlich: Die Geschichte des Kolonialismus, die fortgesetzte Ausbeutung der Rohstoffe durch die Industrieländer, aber eben auch die Defizite an Rationalität in der Eigenverwaltung dieser Länder: Kleptokratie, Clanwirtschaft, Korruption. Heute kaufen Länder wie China, Indien und andere in der Form eines neuen Scheckbuchkolonialismus wertvolle Agrarzonen und Rohstoffe in Afrika auf.<p>Was - bei allen Hilfsprogrammen der Industrieländer - für das 21. Jahrhundert zu erwarten sein wird, ist ziemlich klar: Massenhafte Migrationsbewegungen in Richtung Europa. Die Flüchtlingsströme von 2015 könnten nur eine Vorhut gewesen sein. Bis 1989 kamen bereits allein aus Nord-Afrika 2,3 Millionen nach Europa, und ein Autor der Friedrich-Ebert-Stiftung prognostizierte damals, dass "der afrikanische, insbesondere nordafrikanische Einwanderungsdruck auf die EG [. . .] in den nächsten Jahren erheblich zunehmen" werde. Der Verfasser des Artikels, Heiko Körner, plädierte daher für die "Notwendigkeit einer europäischen Zuwanderungspolitik" mit der Entwicklung von "Kriterien, Verfahren und Kontrollmethoden für die Regelung der Zuwanderung von Arbeitnehmern besonders aus der Dritten Welt". Zu entwickeln wären "Methoden der politischen und wirtschaftlichen Kooperation mit den Entsendeländern [. . .], die darauf abzielen, das Wanderungsphänomen in solidarischer Weise zu bewältigen." Diese Vorschläge sind bisher eher ungehört verklungen und die Folgelasten davon waren gerade im Jahre 2015 zu spüren. Genau diese Problematik einer ungeregelten Zuwanderung nach Europa war ja auch ein Hauptgrund der Brexit-Befürworter. In den Kommentaren, die wir seitdem dazu lesen und hören können, wird das zwar zugegeben, aber wenig analysiert. Der von Linksideologen dauernd wiederholte Kommentar, dass es "Rechtspopulisten" seien, die die Bürger in England und europaweit in die Irre führten, ist selbst links-populistisch und wenig gedankenstark.<p>Auch über Österreich wird in deutschen Medien gerne das Bild verbreitet, dass es durch die "irrationale Wut der Rechten" fehlgesteuert würde. Dass die FPÖ einen hohen Anteil an Arbeitern für sich gewonnen hat, wie übrigens auch die AfD in Deutschland, wird da einfach unterschlagen.<p>Dass Deutschland und auch Europa eine Mitschuld am Brexit und am Erstarken nationaler Bewegungen haben könnten, traut sich kaum ein Kommentator auszusprechen. Es sind aber auch die Bilder der überbordenden Einwanderungsflut des letzten Jahres gewesen und die anhaltende Lähmung und Unfähigkeit der deutschen und europäischen Politik, diese Völkerwanderung vernünftig zu steuern, die viele Bürger Europas in Schrecken versetzen.<p>

Macht der Ideologie

<p>Die Gleichheitsideologie vieler Linken, die jegliche Kritik sogleich als "Fremdenhass" und "Rassismus" abzuurteilen versuchten, hat zudem jede kritische Auseinandersetzung über das Thema blockiert. Mit solchen Moralkeulen aus dem Dritten Reich - es geht ja gar nicht um die Rasse, sondern um die Masse der Zuwanderer und deren kulturelle Differenzen - werden sich die Bürger immer weniger beruhigen lassen.<p>Ist es denn tatsächlich egal, ob Mitteleuropa von Mitteleuropäern bewohnt wird, oder von Menschen aus dem Südbalkan, Nord- und Innerafrika, Arabien, Asien und die meisten mit mohammedanischer Gesinnung?<p>Im Grund hat Europa auf Dauer gesehen nur die Möglichkeit einer rationalen Steuerung der Zuwanderung, wenn es nicht selbst praktisch überrannt, d. h. afrikanisiert und wohl auch islamisiert werden will. Rationalität bedeutet auch Realismus: Die wohlmeinenden humanitären Verteidiger der grenzenlosen Aufnahme von Flüchtlingen müssen lernen, die Dimension des Problems zu erkennen. Und damit auch die Belastbarkeit der Bürger in den europäischen Staaten. So ließen sich auch die Möglichkeiten einer rationalen Flüchtlingspolitik richtig abschätzen anstatt mit Ideologien rationale Argumente abzuwürgen. Nur wenn das gelingt, wird Europa nicht noch weiter zerbrechen.

Silvio Vietta ist em. Prof. der Universität Hildesheim. Seine jüngsten Publikationen zum Thema sind: "Rationalität. Eine Weltgeschichte" Fink,
München 2012. Und: "Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat". Nomos, Baden-Baden
2016.