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Zickzacklinie durch Berlin

Von Michael Rohrwasser

Reflexionen

Vor 55 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet. Eine Spurensuche in der deutschen Literatur.


Berlin 1989: Viele Menschen beschaffen sich ein Stück Mauer.
© Superinkonoskop/Wikimedia Commons

"Was würde geschehen, wenn Italien geteilt wäre und eine Mauer mitten durch Rom gebaut würde? Vermutlich würden die Leute sie einfach wegklauen, Stein um Stein, um sie zum Häuserbauen oder für Pizza-Öfen zu verwenden", schrieb der Regisseur Werner Herzog 1982, im Blick auf die scheinbar unzerstörbare deutsche Mauer, die einfach nicht verschwinden wollte.

Als sie im August 1961 errichtet wurde, war das Entsetzen groß und der Aufschrei laut, denn mit ihr verbunden war von Anfang an der Schießbefehl, der für die DDR-Grenzsoldaten festlegte, dass auf jeden, der sich daran machte, die Mauer zu übersteigen, um in den Westen zu gelangen, das Feuer eröffnet werden musste.

Aber die Empörung wurde schnell zur Routine, und bald schien sich die Mauer erstaunlich gut in den Gefühlshaushalt der Deutschen zu fügen, sie schützte die eine Seite vor der andern, sie konservierte das doppelte Entlastungssystem, mit dem die Deutschen sich nach 1949 eingerichtet hatten: im Westen die böse kapitalistische Welt, das eigentliche Erbe des Nationalsozialismus (so sah es der Osten), im Osten das totalitäre System, das schon wieder die Jugend in Uniformen steckte, das eigentliche Erbe des Nationalsozialismus (so sah es der Westen). In West und Ost kursierten Weißbücher, die aufzählten, welche Nazis im Dienst des je anderen Systems noch tätig waren, und die meisten Namen stimmten. Im Wiener "Tagebuch" schrieb Bruno Frei Klartext:

"Die Sicherungsmaßnahmen der Regierung der DDR vom 13. August 1961 haben deshalb ein so hysterisches Geschrei ausgelöst, weil nun das gefährliche Spiel ausgespielt ist. Mit der Kontrolle über die Sektorengrenzen ist den Brandstiftern die Fackel aus der Hand geschlagen. Das ist eine Friedenstat" (Heft 10, 1961). Entsprechend hieß die Mauer im staatsoffiziellen Sprachgebrauch "antiimperialistischer" oder "antifaschistischer Schutzwall".

Ein markanter Streit

In der Literatur hat die deutsche Mauer erstaunlich wenig Spuren hinterlassen, über die Gründe wäre nachzudenken. Am Anfang steht ein gespenstischer Streit, der viel über die Bereitschaft zum Missverstehen verrät. Erstaunlich ist der nüchterne Ton, mit dem Uwe Johnson ein paar Monate nach dem Mauerbau sich darüber äußert, weniger erstaunlich, dass seine Schilderung bei Hermann Kesten auf Unverständnis stößt.

Hermann Kesten, einer der großen Autoren und Literaturmanager der Weimarer Republik, wurde 1900 im polnischen Podwoloczysky geboren, in der heutigen Ukraine. Auch nach 1945 gab er gern als Geburtsort Nürnberg an, wo er später wohnte - ein Zeichen, dass es auch in den Nachkriegsjahren nicht vorteilhaft war, die (ost-)jüdische Herkunft herauszustreichen.

Kesten, der aus dem Exil nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, sondern sich in Rom niedergelassen hatte, war ein streitbarer Literat, der sich gerne mit ostdeutschen Kollegen anlegte und überhaupt mit "Panegyrikern der mörderischen Diktatoren Hitler und Stalin". Dann aber kam es zum überraschenden Krach mit einem jungen Suhrkamp-Autor, der 1959 aus der DDR nach Westberlin übergesiedelt war, nämlich Uwe Johnson. Am 11. November 1961 hatten sich die beiden auf einer Diskussionsveranstaltung in Mailand zum ersten Mal getroffen. Die Veranstaltung war von dem linken Verleger Giangiacomo Feltrinelli initiiert worden, um Johnson dem italienischen Publikum vorzustellen. Kesten hielt die Einleitungsrede und wurde ausgebuht, weil er Bertolt Brecht einen Diener ("servitore") der Diktatur nannte; Feltrinelli, der in seinem Verlag auch Brecht verlegte, intervenierte: "Das ist unverschämt, so darf man nicht reden, wir alle wollen dies nicht länger anhören!" Danach kam es zu einem hitzigen Streitgespräch, das aber mit einer versöhnlichen Einladung Kestens an Johnson nach Rom endete.

Das mediale Echo

Doch am 25. November erschien in der Zeitung "Die Welt" ein Artikel von Kesten, in dem er zusammenfasst, Uwe Johnson habe in Mailand gesprochen, "als wäre er Ulbricht". Kesten schrieb: "Uwe Johnson erklärte nachdrücklich, seine Romane seien völlig unpolitisch. Er sprach mit Verachtung von Moral. Übrigens sei die Mauer quer durch Berlin (Ulbrichts Mauer) keineswegs unmoralisch. Die Mauer sei notwendig gewesen. Drei bis vier Millionen seien aus dem Osten in den Westen geflohen, darunter unerlässlich notwendige Elemente. Das konnte die Deutsche Demokratische Repu-blik nicht mehr dulden. Also muss sie die Mauer bauen, und das sei gut, vernünftig und sittlich".

Feltrinelli schrieb daraufhin an Kesten, er müsse Johnson völlig missverstanden haben, dessen Äußerungen seien verdreht worden, und kurz darauf erschien eine Richtigstellung im Wochenblatt "Der Spiegel", dem inzwischen das Tonband der Veranstaltung vorlag. "Die Zeit" sprach von einem Rufmordversuch Kestens an Johnson; dagegen polemisierte "Die Welt" weiter gegen vermeintliche "Ressentiments" und "Mutmaßungen über die Presse"; und Kesten bezweifelte lautstark die Authentizität des "Spiegel"-Tonbands. Heinrich von Brentano, der amtierende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion (und ehemaliger Außenminister unter Adenauer), verlangte am 6. Dezember 1961 vor dem Bundestag die Aberkennung des Villa-Massimo-Stipendiums für Uwe Johnson. Die Empörung in der westdeutschen Presse war enorm.

Der streitlustige Kesten hatte einen Fehde-Handschuh aufgenommen, wo keiner hingeworfen wurde. Was war es, das ihn Johnsons Äußerungen missverstehen ließ, was trübte seine Erinnerungen? Kesten enthielt sich später aller Kommentare, aber er schrieb 1962 die Novelle "Nikolaus Stern", deren Protagonist beim Fluchtversuch an der Mauer in der Heinrich-Heine-Straße erschossen wird. Einer der Schützen ist Germanist, der, wie Johnson, in Leipzig bei einem "schlauen Professor" namens Mayer studiert hat und der seine Todesschüsse mit dem Satz rechtfertigt: "Er starb in Konsequenz der Notwehr unserer Behörden, die weiterleben wollen". Der Erschossene, Nikolaus Stern, ist Jude und trägt die Geburtsdaten Kestens.

Vielleicht kann diese Novelle Aufschluss über Kestens Verhalten geben. Der Lebensweg des Nikolaus Stern wird gezeichnet durch die bedrohliche Kontinuität des deutschen Antisemitismus. Es gibt in der Novelle einen atemlosen Satz, in dem über sechzig Zeilen hinaus die Vernichtungswut der Nazis beschworen wird, ein Satz, der nicht zu seinem Ende kommt, weil die Geschichte noch unabgeschlossen ist. Nikolaus‘ Vater, der im KZ Theresienstadt überlebt hat, rät dem Sohn am Ende, also im Jahr 1960, Deutschland zu verlassen und warnt ihn: "Sie werden dich erschlagen".

Später wird man Kesten vorwerfen, durch seine Attacken gegen den angeblichen Antisemitismus in Deutschland produziere er gerade das, was er bekämpfen wolle, nämlich Antisemitismus (so Walter Widmer in "Die Zeit") - eine Argumentationsfigur, die leider auch uns noch geläufig ist.

Missverständnisse

Es mag sein, dass Johnsons kühler Blick auf den Berliner Mauerbau Kesten aufgebracht hat (Johnson hatte gesagt: "diese Mauer ist nur ein Ereignis, ein wirkliches Ereignis, das die Menschenrechte verletzt, wie sie in einer westlichen Konvention festgelegt sind, die von dem Ostblock nicht anerkannt wird"), es mag sein, Kesten hat Johnsons Distanz missverstanden als systemimmanente Rechtfertigung, und vielleicht hat er sie mit technokratischer Kälte verwechselt (Johnson: "Die ostdeutschen Kommunisten haben, als sie diese Mauer zogen, nicht die Absicht gehabt, unmoralisch zu handeln, sondern sie befanden sich in Notwehr").

In der Affäre spiegelt sich auch ein Missverstehen literarischer Generationen: der junge Autor reagiert nicht moralisch auf den Schock des Mauerbaus; der alte Emigrant, ausgebuht wegen seines (diskutablen) Urteils über Brecht, fühlt sich unverstanden und spürt noch einmal die Ausklammerung der Exilliteratur in Westdeutschland. Er empfindet, wie weit Johnsons literarischer Standort von dem seinen entfernt ist (Johnson: " . . . und hier von Immoralität zu sprechen, heisst Geschichte mit moralischen Vorwürfen zu vermengen, heisst implict zu sagen, der Kommunismus wäre unmoralisch. Ich meine nicht, dass die Aufgabe der Literatur wäre, die Geschichte mit Vorwürfen zu bedenken").

Kesten hat Johnsons Äußerungen offensichtlich missverstanden und falsch wiedergegeben, doch "Denunziation", "Verleumdung" oder "Rufmord" scheinen unzutreffende Etikette. Uwe Johnson fühlte sich erinnert an die McCarthy-Ära und ernannte den, der ihn missverstanden hat, zu "Senator McKesten" - ein neuerliches Missverständnis.

Als die Mauer gebaut wurde, im August 1961, wurde sie schnell zu einem beliebten Ort in politischen und kulturellen Veranstaltungen, sie fügte sich in den Gefühlshaushalt der Deutschen. Die Fahrt zum Brandenburger Tor und zum Checkpoint Charlie waren fester Bestandteil der Besuchstouren ausländischer Staatsgäste.

Mauer-Musik

Und besonders beliebt war der Auftritt von Rock-Bands an der Berliner Mauer, die dem barbarischen Osten ihre frohen Botschaften hinüberschallten. Den Anfang machte Barclay James Harvest, die 1980 ein kostenloses Konzert vor dem Berliner Reichstag gaben. Pink Floyd, die 1988 auftraten, richteten beim Soundcheck ihre Boxen nach Osten und intonierten "The Wall" ("All in all you’re just another brick in the wall"), Michael Jackson trat im selben Jahr an der Mauer auf, David Bowie war schon ein Jahr davor dabei, Genesis und andere zogen nach, was im Ostteil der Stadt stets Hektik bei der Volkspolizei auslöste, die das Gelände großzügig absperrte, weil man die Konzerte als ideologische Waffen im Klassenkampf interpretierte.

Tatsächlich hatte es eine solche subversive Aktion einst gegeben: 1969 verbreitete der Sender RIAS die gezielte Falschmeldung, dass die Rolling Stones am 7. Oktober, zum zwanzigsten Geburtstag der DDR, ein Konzert vom Dach des Springer-Hochhauses aus geben würden, speziell für die DDR-Bevölkerung, was zu einem gewaltigen Ansturm im Osten führte. Es gab aber auch kleinere musikalische Interventionen. Der flotte Schlager des Berliners Drafi Deutscher, "Marmor Stein und Eisen bricht" (1965), wurde in seiner Heimatstadt sogleich als ein Protestlied gegen die Mauer verstanden; ein Indiz: die DDR verbot den Song umgehend.

Anderes wurde durch den Bau der Mauer verhindert. Billy Wilders Komödie "Eins Zwei Drei", 1961 gedreht, kurz vor dem Bau der Mauer, galt nun als eine arge "Geschmacklosigkeit", und Berlin brauchte ziemlich genau zwanzig Jahre, bis sie die grandiose Komödie über die geteilte Stadt feiern konnte.

Mauer-Literatur

Die Eingangsbehauptung dieses Artikels stimmt nicht ganz: Einige wenige Spuren hat die Mauer in der Literatur doch hinterlassen. In Christa Wolfs frühem Roman "Der geteilte Himmel" (1963) wird im Verlauf des Geschehens die Mauer errichtet, die unwiderruflich ein Liebespaar trennt; für die Erzählerin ist dies Anlass, die Inte-grationskraft der sozialistischen Gesellschaft zu beschwören. Es gibt auch ein frühes Drama von Wolf Biermann, "Berliner Brautgang" (1961), in dem die Mauer verteidigt wird.

Die wichtigste Spur ist aber die großartige Erzählung "Der Mauerspringer" (1982) von Peter Schneider, einem Autor, der sich schon seit Jahrzehnten für deutschen Gefühlslagen interessierte. Sie beginnt mit dem Anflug auf Westberlin, Flughafen Tegel, das Flugzeug muss wegen des starken Westwinds ein paar Runden drehen, und man überquert dabei ein paarmal die Mauer, wobei im Blick von oben Ost- und Westteil der Stadt sich gleichen; nur eines fügt sich nicht ins Stadtbild: "Zwischen all diesen Rechtecken wirkt die Mauer in ihrem phantastischen Zickzackkurs wie die Ausgeburt einer anarchistischen Phantasie. Nachmittags von der untergehenden Sonne und nachts verschwenderisch vom Scheinwerferlicht angestrahlt, wirkt sie eher als städtebauliches Kunstwerk denn als Grenze."

Schneider kann zurückgreifen auf eine Erzählung von Stefan Heym, "Mein Richard" (1974), in der zwei Ostberliner Jugendliche ein Mauerstück im toten Winkel der Wachtürme entdeckt haben und dort über die Mauer klettern, um in Westberlin ins Kino zu gehen und um danach wieder über die Mauer nach Ostberlin zurückkehren. Erst beim vierzehnten Mal werden sie erwischt, und ihr Anwalt verteidigt sie mit dem Argument, dass sie einen Orden verdient hätten, weil sie immer aufs Neue zurückgekommen seien und damit ihrem Land die Treue bewiesen hätten.

Schneider erzählt noch von anderen "Mauerspringern" wie dem anarchischen Walter Kabe: "Oben stand Kabe eine Weile im Scheinwerferlicht der herbeigeeilten Weststreife, ignorierte die Zurufe der Beamten, die ihm in letzter Minute klar zu machen versuchten, wo Osten und wo Westen sei, und sprang dann in östlicher Richtung ab." Er erzählt auch von der ideologischen Transparenz des Bauwerks, und er prägt einen Begriff, der die Mauer überdauert hat: "Die Mauer im Kopf einzureißen, wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmer für die sichtbare Mauer braucht."

Nachleben im Kopf

Als die deutsche Mauer fiel, im November 1989, wurde sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit abgetragen, sie verschwand in den folgenden Monaten so schnell, als wollte man alle ihre Spuren tilgen, nun, wo der deutsche Körper wieder zusammengewachsen war.

Im Bewusstsein der Ostdeutschen wollte man sich lieber als Opfer betrachten und nicht als Mauerbauer und Mauerbewacher, und im Westen war man verliebt in die Idee, dass nun ein großer Aufbruch bevorstehe, so groß und schön, dass auf ihn kein Schatten alter Bauwerke fallen sollte, deren symbolische Kraft unberechenbar groß war. War jetzt nicht Geschichte an ihr Ende gekommen?

Und Peter Schneiders "Mauer im Kopf"? Man hatte die Mauer abgetragen; jede und jeder hatte sich sein eigenes Stückchen herausgeschlagen, und so wanderte die Mauer, aufgeteilt in viele tausend Teile, in die deutschen Haushalte. Sie ist uns also erhalten geblieben. Nun war sie überall, und nicht nur eine Zickzacklinie, die Berlin durchzogen hatte.

Vielleicht hat der Kulturhistoriker Klaus Theweleit recht, der in den Neunzigern geschrieben hatte, dass die Mauer inzwischen das Massensymbol der Deutschen geworden sei, und den "marschierenden Wald" abgelöst habe, den Elias Canetti in "Masse und Macht" einst als Massenbild der deutschen Nation ausmachte - ein Jahr, bevor die Berliner Mauer errichtet wurde. Es lohnt, die Mauer im Auge zu behalten.

Michael Rohrwasser, geboren 1949, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien.