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Phönix aus der Asche

Von Stefan May

Reflexionen

In Leuna und Schkopau stehen noch traditionelle Industrie- und Chemieanlagen aus DDR-Zeiten.


Die komplett rückstandsfrei arbeitende Raffinerie auf dem Chemieareal in Leuna.
© May

Die Straßenbahn schaukelt durch eine friedliche Landschaft in Sachsen-Anhalt, von Halle an der Saale nach Süden. Masao Fukumoto, ein japanischer Journalist und Autor, kennt die Strecke: Gleich nach dem Mauerfall, zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1991, hat er für einen japanischen Anlagenbauer dessen Einkauf an Deutschlands größtem Chemiestandort betreut, in Leuna. Heuer wird Leuna 100 Jahre alt. Auch diesmal steigt Fukumoto an der Haltestelle Leuna-Haupttor aus. Er will sehen, was sich in den Jahren seither an seiner einstigen Arbeitsstätte verändert hat.

"Als ich zum ersten Mal in Leuna war, habe ich gedacht: Wow, wo bin ich? Das war einfach eine Industrieruine", erinnert sich Fukumoto. "Die Rohrbrücken waren verrostet, man spürte auf dem Gelände den Rost in den Augen. Nach einem Tag im Werk war das Auto mit Staub überzogen." Und auch der Sprecher des heutigen Chemiepark-Betreibers bestätigt: "Ostwind war Waschwind, Westwind zog vom Werk über die Stadt, da musste man die Wäsche hereinnehmen."

Silbrige Rohrbrücken

Hinter dem mächtigen schneeweißen Empfangsgebäude mit der weithin sichtbaren Aufschrift "Leuna-Werke" eröffnet sich eine völlig andere Welt als die soeben geschilderte: ein sauberes, weitläufiges Gelände mit Industriebauten, so weit das Auge reicht; dazwischen grüne Wiesen. Die mit Buchstaben und Zahlen bezeichneten Straßen werden von silbrig in der Sonne glänzenden Rohrbrücken ergänzt - ähnlich wie auf dem Linzer Voest-Gelände. 40 Kilometer Straßen, 20 Kilometer Rohrbrücken, 90 Kilometer Gleise. Mehr als 72.000 Waggons werden jährlich auf dem Leuna-Gelände bewegt. Die Methanol-Anlage ist voriges Jahr 30 Jahre alt geworden. Sie war die letzte große Investition der DDR am Standort und ist mit österreichischer Hilfe errichtet worden.

Nur ab und zu gerät einem ein süßlich-chemischer Geruch in die Nase. Vom alten Chemiekombinat Walter Ulbricht ist nicht mehr viel übrig. Masao Fukumotos Arbeitsplatz in einer Baracke gibt es auch nicht mehr. "Als ich vor sechs Jahren hier war, gab es noch nicht so viele Anlagen", sagt er. "Das Leuna-Gelände war relativ leer. Es hat sich viel entwickelt."

Doch der Reihe nach: Aufgrund des rasanten Bevölkerungsanstiegs im 19. Jahrhundert war es notwendig geworden, Düngemittel synthetisch herzustellen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein Verfahren entdeckt, um aus Luftstickstoff Ammoniak herzustellen. Im Ersten Weltkrieg diente dieses Verfahren auch zur Erzeugung von Munition und Sprengstoff. Deshalb ging 1917 das "Ammoniakwerk Merseburg" in Leuna in Betrieb - genügend weit weg, um nicht von französischen oder belgischen Kampfflugzeugen erreicht zu werden. Nach dem Krieg übernahm die BASF das Werk und produzierte Düngemittel.

Hier wurden auch Methanol und Benzin erstmals großtechnisch aus Kohle gewonnen. Hinzu kam ein Verfahren zur Herstellung von Caprolactam, dem Grundstoff von Perlon. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die zerstörten Leunawerke in der damaligen DDR als einer der größten Betriebe des Landes wieder aufgebaut und Teil des Chemiedreiecks Leuna-Buna-Bitterfeld. Die Erdölleitung Druschba brachte den nötigen Rohstoff aus Westsibirien über Schwedt ins nahe Böhlen und versorgte von dort nicht nur den Standort Leuna, sondern auch das benachbarte Chemiekombinat in Schkopau. 30.000 Menschen arbeiteten in den Leuna-Werken.

Chemiepark Leuna

Mit der Wende kam der große Umbruch. Tausende verloren ihren Arbeitsplatz. Sechs Milliarden Euro wurden am Standort investiert, alte Anlagen abgerissen, neue aufgebaut. Seit 20 Jahren betreibt InfraLeuna den Chemiepark Leuna, in dem heute mehr als 100 teilweise international tätige Firmen mit insgesamt 9000 Beschäftigten angesiedelt sind. Rechnet man alle Serviceeinrichtungen rundherum dazu, die früher Teil des Kombinats waren, kommt man wieder auf rund 30.000 Arbeitsplätze. Der Standortumsatz liegt bei zehn Milliarden Euro.

Auch die BASF ist wieder eingezogen. Das Unternehmen erzeugt hier Bau- und Formteile in allen Farben, von Hilti-Rot bis Bosch-Grün. Der französische Erdölkonzern Total hat eine neue Raffinerie errichtet und ist am Standort Deutschlands größter Methanol-Hersteller. Die Raffinerie hinter einem verschlungenen Rohregewirr ist eine der ersten, die völlig rückstandsfrei arbeitet.

Auch sonst wird auf dem Chemieareal Wert auf Ökologie gelegt. InfraLeuna pumpt noch nach 20 Jahren Öle des DDR-Betriebs aus dem Gelände. Ihr Sprecher verweist auf Umweltpreise und eine Umweltallianz - und darauf, dass man die Fische aus der benachbarten Saale heute wieder essen könne. Auch Teile der Produktion in Leuna sind "grün" geworden: Thyssen-Krupp hat sich vor drei Jahren mit seiner Biotechnologie-Sparte angesiedelt. Noch im Labormaßstab wird, versteckt in einer rostrot gestrichenen Halle, an einer Anlage zur Milchsäureerzeugung getüftelt. Ausgangsstoff ist Zucker, in der zweiten Generation soll Lignose eingesetzt werden.

Beim Mittagessen in der Kantine von Total hebt Masao Fukumoto eine Gabel: "Das Besteck", sagt er, "gab es damals nur aus Aluminium, in einer Bestecktasche. Und man musste es nachher selbst abwaschen." Er hat ein in japanischer Sprache erschienenes Buch mit dem Titel "Eine kleine Revolution" verfasst. Darin behauptet der Journalist, dass Westdeutschland nach der Wende lediglich einen neuen Markt, aber keine Produktionsstandorte in Ostdeutschland gesucht habe. "Deshalb hat sich die Ansiedlung der Industrie in Ostdeutschland so verzögert", glaubt er.

Nicht nur Fukumotos alte Baracke gibt es nicht mehr, auch die Anlagen, die er zur Wendezeit für seinen japanischen Auftraggeber in Leuna verkauft hat, stehen nicht mehr auf dem Gelände.

Plaste und Elaste

Als er in der Früh mit der Straßenbahn von Halle nach Leuna gefahren ist, hat Masao Fukumoto eine Haltestelle passiert, die ebenfalls von reicher Industriegeschichte erzählt: Buna-Schkopau. Es ist jener Ort, an dem seit knapp 80 Jahren Kautschuk industriell hergestellt wird. Vor allem den Westdeutschen war der Ortsname Schkopau schon früher geläufig. Denn wenn sie auf der Autobahn von München nach Berlin unterwegs waren, begegneten sie auf der Höhe von Magdeburg einem großen Schild mit der Aufschrift: "Plaste und Elaste aus Schkopau".

Plaste und Elaste wurden in der DDR zum stehenden Begriff. Nun soll ein solches Schild wieder an der Autobahn montiert werden, kündigt der Geschäftsführer von Trinseo, Ralf Irmert, an. Trinseo steht für den Elaste-Teil, also die Kautschukproduktion. Irmert ist schon seit DDR-Zeiten dabei, als Schkopau noch ein Kombinat war, und später, als der Standort, anders als in Leuna, an einen Investor verkauft wurde. Hier wird weiterhin Gummi für Autoreifen erzeugt. Der Grundstoff Butadien wird von der OMV in Österreich bezogen. Er gab dem Verfahren zur Herstellung von Synthesekautschuk einen Teil seines Namens: Buna, die Polymerisation von Butadien und Natrium.

"Da ist eine Kontinuität", sagt Irmert. "Kautschuk herzustellen hat etwas mit exzellentem Know-How der Mitarbeiter zu tun. Außerdem gibt es ein Wort, das sagt, dass Kautschuk gewissermaßen klebt: Wer einmal in der Produk-tion drinnen ist, kommt nie wieder heraus." Das bestätigt Hans-Jürgen Buchmann, Chef des Propylen-Herstellers Braskem am Standort Schkopau. Wie Irmert arbeitet auch er schon lange auf dem Werksgelände, im Oktober werden es 40 Jahre. "Der ganze Standort hat den Namen Buna", sagt er. "Wenn sie hier mit den Leuten sprechen, sagt niemand: Wir gehen zu Braskem, oder wir gehen zu Trinseo. Alle sagen: Wir gehen nach Buna arbeiten. Da gibt es eine ganz klare Beziehung der Menschen zum Standort - und zum Namen Buna."

Restrukturierung

19.000 Beschäftigte haben hier einmal gearbeitet. Heute ist die Zahl der Belegschaft um eine Zehnerpotenz kleiner. Doch das sei schwer vergleichbar, sagt Trinseo-Chef Irmert: "Das alte Buna hatte Funktionen, die es heute in keinem Chemieunternehmen mehr gibt, wie Betriebskindergarten, Arzt, Klinik, Verkaufseinrichtungen. Alles, auch die Instandhaltung, wurde selbst gemacht. Das haben wir heute nicht mehr."

Auch die Gebäudezahl am Standort Schkopau ist um eine Zehnerpotenz von 3000 auf 300 geschrumpft. 1936 war der Grundstein für das Werk gelegt worden, heuer sind es 80 Jahre, dass hier Synthetik-Kautschuk hergestellt wird. Zu DDR-Zeiten hieß es Volkseigener Betrieb (VEB) Werke Buna. Nach der Wende wurde ein Investor für den Gesamtkomplex gesucht und in dem amerikanischen Chemiekonzern Dow gefunden.

"Dow hat hier 1995 das bis heute größte Restrukturierungsprojekt in der weltweiten Geschichte der chemischen Indus-trie gestartet", sagt Unternehmenssprecherin Sandra Brückner. "Damals wurden 2,7 Milliarden Euro am Standort investiert, natürlich mit Förderungen, mit Unterstützung der EU." Da die Mitarbeiterzahl den damals angepeilten Wert erreicht habe, bedeutet Schkopau für sie heute ein "Erfolgsmodell"; ganz abgesehen von der Erhöhung der Produktivität gegenüber der DDR-Ära.

Leuna und Schkopau sind Orte mit Tradition. Auch wenn dort heute modernste Kunststoffe erzeugt werden, ist die Industrie an den beiden Standorten ihren Ursprüngen treu geblieben. Und trotz wirtschaftlicher Stürme in der Vergangenheit stehen die zwei benachbarten Werksanlagen weiterhin für die Industrieregion Mitteldeutschland.

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien