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Die Jagd-Trophäen der bösen Buben

Von Tom Appleton

Reflexionen

Was hielt Fans der Rolling Stones eigentlich über 50 Jahre hinweg an der Stange: Die endlose Litanei an frauenverächtlichen Liedchen? - Eine Polemik.


Man kann ja nicht wirklich behaupten, dass es in den vergangenen 20 Jahren komplett still geworden wäre um die einstigen "Bösen Buben des Rock". Eben erst las man, beispielsweise, in den Klatschspalten der Weltpresse, dass Ron Wood (mit 69 Jahren der Jüngste des Altherren-Quartetts) Vater von Zwillingen geworden sei. Seine Frau, Sally, heute 38, war noch nicht einmal geboren, als Wood schon erste Song-Schreiber-Lorbeeren bei einem der namhaften Hits der Stones erwarb (es war "It’s Only Rock’n’ Roll But I Like It", 1974). Mick Jaggers Ex, das mittlerweile 59-jährige frühere Model Jerry Hall, Mutter von vieren seiner sieben Kinder, heiratete unlängst den 84-jährigen australischen Medien-Zar, Rupert Murdoch.

Richards & Wyman solo

Gut. Aber was hat sich bei den "Rollenden Steinen" eigentlich musikalisch getan? Der Chef-Gitarrist der Gruppe, Keith Richards, 72, veröffentlichte letztes Jahr, nach 23-jähriger Pause, ein Solo-Album ("Crosseyed Heart"), das da und dort nachsichtiges Lob kassierte, beim ersten Durchklicken aber nur Ermüdung hervorruft. Bill Wyman, Richards alter Band-Kollege, der schon verdächtig nahe an die 80 gerückt ist, hat letztes Jahr ebenfalls ein Solo-Album vorgelegt. Und "Back to Basics" ist das wahrscheinlich beste Stones-Album seit "Aftermath".

Damals, 1966, hatten die Stones ihr erstes richtiges Pop-Album produziert. Die Texte waren trivial, aber verständlich, und sogar mitsingbar. Brian Jones, der musikalische Genius der Gruppe, sorgte für die Comic-Heft-artige Kolorierung der Stücke. Die beste Rhythm&Blues-Band Englands wandelte sich zu einer internationalen Pop-Gruppe im Stile der Beatles. Bill Wyman, der damalige Bassist der Gruppe, hat diese Lektion nie verlernt. "Back to Basics" ist ein vergnügliches Stones-Album ohne die Sperenzchen, aber auch ohne die Höhepunkte, die eben halt doch nur Mick Jagger liefern konnte.

Und was passierte sonst noch in den letzten 20 Jahren? Peter Schleicher starb letztes Jahr - der Mann, der immerhin zwei Stones-inspirierte Alben mit Wiener Texten eingespielt hatte, zum Teil sogar mit Hilfe von Ex-Stones-Mann Mick Taylor an der Stromgitarre. Bei den Stones selbst, als Gruppe, hat sich - genau genommen - nicht viel getan. Viel Gewühl in den Archiven, endlos neue Anthologien, neu oder erstmals aufgelegte Live-Alben, Raubdrucke noch und noch. 1995 erschien "Stripped", ein Album mit bis aufs Skelett abgemagerten Live- und Studio-Aufnahmen alter Stonesnummern. Konnten die vier verbliebenen Steine noch, so lautete damals die Frage, einfach so, ohne massive Überproduktion, irgendjemanden hinterm Ofen hervor locken? Gewiss doch. Sie waren zwar damals schon um die 50, aber irgendwie ging’s noch.

Und jetzt, 21 Jahre später, erschien "Totally Stripped", die Fortsetzung der damaligen Scheibe und DVD. Jetzt blickt man aus der Perspektive der 70-Jährigen auf die damals 50-Jährigen, und hört den Ausschuss von einst, der seinerzeit nicht veröffentlicht wurde. Da hatten sie’s aber doch noch drauf, sagt man sich heute, und begrüßt die noch nicht völlig verkalkten Herren als jugendliche Energiespunde. Und die tollste Neuigkeit: Noch in diesem Jahr, aber vielleicht auch erst im nächsten, soll wieder einmal eine ganz neue Scheibe von ihnen erscheinen.

Abfällige Traktätchen

Also fragt man sich: Was kann einem diese Nachricht bedeuten? Was war eigentlich das Wesentliche, oder die essenzielle Botschaft der Stones? Warum hat man sich die Songs dieser Gruppe angehört? Was hielt die Fans über 50 Jahre hinweg an der Stange?

Und man stellt fest, ohne sonderliche Überraschung: Es war grundsätzlich nichts weiter als eine endlose Litanei frauenverächtlicher Liedlein, jedes ein kleines abfälliges Traktätchen über ein allfälliges Mädchen. Schon auf "Aftermath" hörte man "Stupid Girl" und "Under My Thumb". Gewiss, oft handelte es sich um "Rollenprosa" oder wie man das nennen möchte, wenn es sich um einen Liedtext handelt. Mick Jagger schlüpfte in die Rolle eines "Jumping Jack Flash", eines "Monkey Man" oder eines "Under-Assistant West Coast Promotion Man". Er spielte diese Rollen, verkörperte diese Figuren.

Wenn er als Renaissance-Höfling seiner "Sweet Lady Jane" ewige Treue schwor, weil sie mehr Geld besaß, und sich zugleich von Lady Ann und ihrer Zofe Marie verabschiedete, zupfte im Hintergrund Brian Jones auf einer hinterwäldlerischen Dulcimer - nicht unähnlich einer Zither, wie sie Anton Karas in der Musik zum "Dritten Mann" spielte. Dazu kam Keith Richards auf der akustischen Gitarre und Jack Nitzsche auf dem Cembalo - ein Klang-Potpourri, als wühlte Dagobert Duck in seinen Goldmünzen und ließe sie sich klimpernd auf den Entenkopf prasseln.

Die Mischung aus Rollenspiel und sexistischer (vorgeblich "humoristischer") Strandpostkarte, von der Art, wie man sie an einem Badeort wie Torquay erwerben konnte, setzt sich fort in einem Song wie "Dear Doctor", wo der geistig behinderte Bräutigam stöhnt, "das Mädel, das ich heiraten soll, ist ne krummbein’ge Sau" - und er bittet den Landarzt des Titels, ihm irgendeine Erleichterung zu verschaffen. Bis sich herausstellt, dass die Braut mit dem Cousin des Bräutigams durchgebrannt ist, womit die Welt dann wieder ins Lot kommt.

In Rod Stewarts Autobiographie findet sich eine Stelle, wo Stewart gerade einmal wieder mit einer todschicken Frau zusammen ist, und sie treffen auf Mick Jagger. Stewart bettelt regelrecht, "Mick, mach dich nicht an die Braut ran, lass die Pfoten von ihr, ich will sie selber haben". Aber Mick Jagger kann gar nicht anders, er muss ihm noch in dieser Nacht die Frau ausspannen, und sie selbst vernaschen. Dieses Verhalten, bei dem jede Frau als Jagd-Trophäe angesehen wird oder angesehen werden könnte, tritt in den Songtexten zusehends in den Vordergrund.

Nonne & Nutte

In einem typischen Stones-Song gibt es dann nicht mehr die Unterscheidung zwischen Nonne und Nutte - hier die glitzernden Heiligenbildchen, "Ruby Tuesday" oder "She’s A Rainbow", dort die lästerlichen Schmuddelszenen mit den "Honky Tonk Women" -, sondern es gibt nur noch die Auflistung der möglichen Frauentypen ("Some Girls"), an denen der Pop-Star Mick Jagger seine Lust ganz ohne Maske ablassen kann. Selbst dort, wo Jagger sich als eine Gestalt irgendwo zwischen Rudolph Valen-tino und Lawrence von Arabien ansiedelt, geht es ihm nur noch um die Verführung, fehldeklariert als "emotionale Errettung" einer zufälligen Sexpartnerin.

Dass es im Themenkatalog der Stones auch noch andere Topoi gibt, fällt nicht weiter auf - oder ins Gewicht. In den zunehmend auch musikalisch der totalen Fadesse anheimfallenden neueren Songs, wie etwa bei "I Go Wild" (1994), hörte man nur mehr den routinemäßig am Computer zusammengestoppelten Bockmist eines Rock-Routiniers, der seinem Publikum nichts mehr weiter mitzuteilen hat. Mick Jagger präsentiert sich als "Strichi" im Vampirmilieu und scheint damit Meilen weit vom Kajal-Strich seiner "Midnight Rambler"-Jahre entfernt.

Dennoch wirkt er hoffnungslos deklassiert von seiner Ex, die sich an Murdochs Seite zur obersten Inkarnation käuflicher Sexualität hochgestylt hat. Aber immerhin: Jerry Hall sieht einmal wirklich glücklich aus. Und Mick wird es jetzt sehr eilig haben, noch einmal eine letzte Stones-Scheibe herauszubringen, mit noch ein oder zwei kleinen frauenfeindlichen Rohrspatz-Beschimpfungen. Außerdem wird er wieder Vater. Melanie Hamrick, die Mutter seines achten Kindes, ist 40 Jahre jünger als er.

Tom Appleton, geboren 1948, Journalist und Schriftsteller. Nach Jahren in Berlin, Teheran, Bonn, Wellington und Wien lebt er jetzt wieder in Neuseeland. Zuletzt ist sein Roman "Hessabi" erschienen.