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"Dummheit ist auch eine natürliche Begabung"

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Ob angeboren oder anerzogen, individuell oder kollektiv - der Dummheit in ihren vielen Formen entkommen wir nicht. Ein Streifzug durch die unendlichen Weiten eines komplexen Phänomens.


Einer von Franz Xaver Messerschmidts Charakterköpfen: "Einfalt im höchsten Grade".
© Wien Museum

"Die Dummheit ist eine Himmelsmacht, die sich in den Falten des Stammhirns als bodenlose Mitgift an das Menschengeschlecht verbirgt", schrieb der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch "Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer". Für den 2015 verstorbenen französischen Philosophen André Glucksmann stand fest, dass "die Dummheit die verbreitetste Sache der Welt ist. Man begegnet ihr auf jedem Bildschirm, sie ist die große Gleichmacherin, sie ist mächtig unter den Mächtigen und in allen Lagern bringt sie den Geist der Parteilichkeit zum Blühen. Sie ist der Motor der Geschichte".

Die Dummheit scheint omnipräsent zu sein. Sie manifestiert sich in Alltagssituationen, in Vorurteilen, in Politikerreden, in den Me-dien, speziell in den Infantilisierungsspektakeln der Talkshows und sogar im Elfenbeinturm der akademischen Welt. "Dummheit ist auch eine natürliche Begabung", konstatierte bereits der deutsche Zeichner, Maler und Schriftsteller Wilhelm Busch. Und Friedrich Schiller war davon überzeugt, dass selbst Götter gegen Dummheit vergebens kämpften.

Mit der Dummheit haben sich Philosophen und Schriftsteller in verschiedenen Epochen befasst. Sie sind zu dem Schluss gelangt, dass die Dummheit kein einheitliches Phänomen ist, sondern sich in zahlreichen Ausprägungen manifestiert, die vom historisch/kulturellen/soziologischen Kontext bestimmt werden. Die unterschiedlichen Figurationen der Dummheit wurden als das Andere der Vernunft bezeichnet, als das Rätselhafte, Störanfällige, Unbeherrschte in der Welt.

Schwierige Analyse

Analytikern der Dummheit - wie etwa Robert Musil - ist es nicht gelungen, eine konsistente Deutung dieses Phänomens vorzulegen, wie sich der Schriftsteller in seiner "Rede über die Dummheit", die er auf Einladung des Österreichischen Werkbundes 1937 in Wien hielt, eingestehen musste.

Ein Esel betreibt Ahnenforschung: Francisco de Goya verspottet in seinem Capricho "Zurück bis zu seinem Großvater" den Adel.
© Nationalmuseum der Schönen Künste, Buenos Aires/Wikimedia

"Ich habe keine Theorie der Dummheit entdeckt, mit deren Hilfe ich mich unterfangen könnte, die Welt zu erlösen", heißt es in den einleitenden Bemerkungen. Den Versuch, die Dummheit umfassend darzustellen, verglich Musil mit einer Kohlweißlingsjagd: "Was man zu beobachten glaubt, verfolgt man zwar eine Weile, ohne es zu verlieren, aber da aus anderen Richtungen auf ganz gleichen Zickzackwegen auch andere, ganz ähnliche Schmetterlinge herankommen, weiß man bald nicht mehr, ob man noch hinter dem gleichen her sei"

Der in Berlin tätige Soziologe Werner van Treeck hat eine eigene Studie über die Dummheit verfasst, in der er die Dummheit als Ausgangspunkt der menschlichen Existenz ansieht. Für ihn ist sie der Urzustand, in den wir hineingeboren werden. Dummheiten begleiten uns seit der frühen Kindheit; das "Mängelwesen Mensch", wie es der Philosoph und Anthropologe Helmuth Plessner genannt hat, muss sich mit verschiedenen Facetten der Dummheit im Verlauf seines Lebens auseinandersetzen: Dazu zählen Kindheitsnaivitäten, Beschädigungen oder Mängel, die von der schulischen Erziehung oder vom Elternhaus ausgehen und von Torheiten, die aus unüberlegten Handlungen resultieren. Die vielfältigen Formen der Dummheit verwandeln sich proteushaft und setzen sich bis in das hohe Alter fort; man entkommt ihnen nicht..

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sprach in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von einer "anerzogenen Dummheit" - "jene durch Erziehung zu Vorurteilen herbeigeführte Dummheit, die leider massenhaft auftritt".

In seiner Rede sprach Musil von der "ehrlichen Dummheit": Sie ist schwer von Begriff, arm an Vorstellungen und Worten und ungeschickt in ihrer Anwendung. Wesentlich ist das Element der Wiederholung; möglichst einfache Darstellungen von Sachverhalten sollen solange wiederholt werden, bis sie als unumstößliche Wahrheiten gelten; Widersprüche werden nicht in Betracht gezogen.

Theodor W. Adorno bezeichnete die "ehrliche Dummheit" als Erstarrung, als Mumifizierung. Der davon befallene Mensch weigert sich, die Panzerung der Vorurteile, die er angelegt hat, aufzubrechen; seine Lebenswelt ist von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" geprägt.

Philistertum

Ein Beispiel für die "ehrliche Dummheit" findet sich in dem satirischen Roman "Geschichte der Abderiten" von Christoph Martin Wieland. Der Roman besteht aus einer Abfolge von absurd anmutenden Geschichten, die in der griechischen Kleinstadt Abdera spielen. Dieser Ort ist ein Synonym für ein kleinstädtisches Ambiente, in dem Philistertum, Stumpfsinn und Borniertheit herrschen.

Im dritten Buch schildert Wieland die Begegnung der Abderiten mit Euripides, dessen Drama "Andromeda" eines Tages in ihrem Nationaltheater gespielt wurde. Euripides mischt sich unter die Theaterbesucher und wird nach seinem Urteil über das Stück befragt. Über seine kritischen Äußerungen sind die Abderiten erbost und stellen ihn zur Rede. Als der Autor seine Identität preisgibt, stößt er auf großes Befremden; seine Person wird mit einer Büste verglichen, die von einem einheimischen Künstler verfertigt wurde und keinerlei Ähnlichkeit mit dem vor ihnen stehenden Euripides aufweist. Erst als ein Verwandter des Schriftstellers die Identität von Euripides bestätigt, beruhigen sich die aufgebrachten Abderiten.

Der Glaube an das Abbild, den Schein, das Simulacrum, das Medien vermitteln, ist eine der Grundformen der Dummheit, die bereits Platon in seinem Höhlengleichnis beschrieben hat, wo die im Dunkel der Höhle verweilenden Menschen die Wahrheit nur in Form von Schatten erblicken. Was zählt, ist die "Doxa" - die Meinung, das Vorurteil; sie dominieren die Welt des Alltäglichen als "harter, nicht spaltbarer Kern" - so der französische Literaturwissenschafter und Semiotiker Roland Barthes -, "die Dummheit zieht jeden in ihr Händeklatschspiel". Wielands Fazit lautete: "Abdera ist überall."

Neben der anthropologischen Grundkonstante der " Dummheit" existieren Facetten der Dummheit, die in Printmedien, elektronischen Medien oder im Internet zu finden sind. Da ist die Rede, dass Politiker renommierte Kulturfestspiele adeln; in Talkshows wird detailliert über intimste Gefühle gesprochen und im Internet geben User unqualifizierte Kommentare zum Weltgeschehen ab.

Medienkritiker sprechen von Strategien der Verdummung, die zu einer Infantilisierung der Fun-Gesellschaft führen. Der englische Schriftsteller Alexander Pope, der von 1688 bis 1744 lebte, formulierte bereits eine ähnliche Kritik. Er bezog sich auf den Buchdruck und bezeichnete ihn als "einen eilfertigen Unsinn, der des Hirnes Brei im Zickzack durchläuft". Pope schätzte zwar die Vorteile des Buchdrucks, der eine Möglichkeit bot, das Wissen zu verbreiten, gleichzeitig machte er ihn für den Verfall des literarischen und wissenschaftlichen Niveaus verantwortlich, der von einer Schar von "elenden Schreiberlingen" verursacht wurde.

Eine ähnliche Diagnose, die sich auf die elektronischen Me-dien bezieht, stammt von dem US-amerikanischen Medientheoretiker Nicholas Carr. Er stellte die These auf, dass sich die Mitglieder der digitalen Gesellschaft wegen der explosionsartig anwachsenden Informationsmenge nicht mehr konzentrieren könnten. Außerdem gehe die Fähigkeit verloren, selbstständige Urteile zu bilden, die die Grundlage für ein selbstbestimmtes Handeln seien.

Was geschieht, wenn die Urteilskraft suspendiert wird, zeigt das Beispiel eines schwedischen Ehepaares, von dem Zeitungen berichteten: Die beiden wollten mit dem Auto von Venedig auf die Urlaubsinsel Capri fahren. Doch als sie das Ziel in ihr Navigationsgerät eingaben, unterlief den Reisenden ein Tippfehler. Sie landeten nicht am Golf von Neapel, sondern 660 Kilometer weiter nördlich, in der von Touristen eher selten frequentierten Industriestadt Carpi. Dass Capri eine Insel ist, und sie mit der Fähre hätten übersetzen müssen, war den Urlaubern offenbar nicht aufgefallen.

Kollektive Dummheit

Die vereinfachende, verengte Sichtweise des Individuums, die vielfach mit der Dummheit gleichgesetzt wird, ist der Ausgangspunkt für gefährliche Ausprägungen der kollektiven Dummheit, die sich in Form eines religiösen oder ideologischen Fanatismus artikulieren. Diese monologischen, in sich abgeschlossenen Diskurse sind häufig mit Repression und Gewaltausübung verbunden. Sie finden ihren Platz in Parteien, Nationen und Religionen, wo alles sanktioniert wird, was Individuen im Alltagsleben nicht gestattet ist.

Laut Robert Musil verlieren die Dummen in den Massen das Gefühl ihrer Nichtigkeit, das durch einen Machtrausch ersetzt wird - von einem "Überhebungsbedürfnis eines groß gewordenen Wir", das mit einer Abdankung der individuellen Verantwortung einhergeht. Jemand, der ein Gefangener einer bestimmten Ideologie ist, identifiziert sich mit dieser Ideologie oder Religion und ist unter bestimmten Umständen bereit, Gewalt anzuwenden.

Ein Beispiel für den kollektiven Wahn mit seinen Folgen ist die Geschichte vom Prozess um des Esels Schatten, die der Schriftsteller Christoph Martin Wieland ebenfalls in seinem Roman "Geschichte der Abderiten" schildert. Da mietet sich der Zahnarzt Struthion für eine Reise einen Esel. Unterwegs nützt er die Mittagshitze, um sich in den Schatten des Esels zu legen. Der Besitzer des Esels fordert dafür ein gesondertes Entgelt mit dem Argument, der Arzt habe nur den Esel gemietet, nicht jedoch dessen Schatten.

Der Streit führt schließlich zu einem Prozess, der in der Folge das Gemeinwesen in Abdera spaltet. Es bilden sich zwei Parteien, die einander fanatisch bekämpfen. Der Konflikt findet erst ein Ende, als der Esel vorgeführt wird; die wütende Menge zerreißt ihn in tausend Stücke - analog zu einer Massenhysterie, wie sie bei religiösen, politischen oder auch bei sportlichen Veranstaltungen ausbricht.

Dass die kollektive Dummheit auch Philosophen nicht verschonte, zeigt das Beispiel der Kriegsbegeisterung von Rudolf Eucken, Martin Buber, Max Scheler und Georg Simmel. Sie alle verfielen zu Beginn des Ersten Weltkriegs in einen kollektiven Rausch und sparten nicht mit pathetischen Floskeln. So war die Rede "von den sittlichen Kräften des Krieges, die der Seele des Einzelnen hohen Adel verleihen". Der Beginn einer neuen, großen Zeit wurde bejubelt: "Wir spüren das Morgenwehen eines neuen Tages nicht bloß für Deutschland, sondern für die Menschheit", verkündete der Philosoph Paul Natorp.

Die Dummheit der Philosophen war nicht nur im Ersten Weltkrieg anzutreffen; sie manifestierte sich auch in den Haltungen gegenüber den totalitären Regimen des Nationalsozialismus und des Kommunismus. So plädierte Martin Heidegger in seiner berüchtigten Rektoratsrede dafür, "die Philosophie und Wissenschaft in den Dienst des Führers zu stellen und das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zu zwingen".

Der gelehrte Narr

Jean-Paul Sartre wiederum zeigte sich bei einer Reise durch die Sowjetunion von den Pionierlagern beeindruckt, in denen "Kinder vor großen Stalinporträts tanzten und vergnügt waren". Nach einer Reise nach Kuba im Frühjahr 1960 mutierte Sartre zum Bänkelsänger der kubanischen Revolution und sah in Fidel Castro einen wahren Humanisten. "Ich habe Fidel inmitten seiner Kubaner gesehen" - so schwärmte der Philosoph -, "die Kubaner waren einer nach dem anderem eingeschlafen, aber Castro vereinte sie in einer einzigen durchwachten Nacht: der nationalen Macht, seiner Nacht."

Die monströsen Dummheiten der Philosophen verlangen geradezu nach satirischer Kommentierung. Seit der griechischen Antike haben sich Schriftsteller über den sogenannten "gelehrten Narren" geäußert. Diese Satiren gingen davon aus, dass vor allem die philosophische Tätigkeit - von außen betrachtet - einer bestimmten Skurrilität nicht entbehrt, wie der Bericht über den griechischen Philosophen Thales von Milet zeigt, der bei der Beobachtung der Gestirne in eine Zisterne stürzte. Eine thrakische Magd verspottete die weltfremde Haltung der Philosophen mit den Worten: "Die Dinge des Himmels versuchst du zu erkunden, was vor deinen Füßenliegt, bemerkst du jedoch nicht." Der Spott der thrakischen Magd begleitet seit damals jegliches Bestreben, theoretische Wolkenkuckucksheime zu errichten, die das sinnlich-empirische Fundament menschlichen Existierens vernachlässigen oder gar liquidieren.

Skurril ist auch die Sucht von Gelehrten, einfache Tatbestände möglichst kompliziert zu kommentieren. Einen Höhepunkt pedantischer Disputiersucht präsentiert der japanische Schriftsteller Natsume Soseki in seinem Roman "Ich der Kater". In diesem Roman wird ein Kater vorgestellt, der im Haushalt des Mittelschullehrers Rarus Schneutz lebt. Dort trifft sich ein illustrer Gelehrtenkreis, in dem ein ausführlicher Diskurs über die menschliche Nase geführt wird: "Es würde zu Missverständnissen führen, wenn man von der falschen Annahme ausgeht", heißt es da, "eine Nase bestünde nur aus zwei nebeneinander liegenden Löchern. Meiner bescheidenen Meinung nach ist der Ursprung der Entwicklung der Nase in der Tatsache zu sehen, dass sich der Mensch die Nase putzt. Dieser delikate Akt hat zu einer automatischen Akkumulation geführt, an deren Ende dieses augenfällige Phänomen steht".

Positivismus

Eine weitere Facette akademischer Dummheit ortete der französische Schriftsteller Gustave Flaubert im Positivismus des 19. Jahrhunderts. Diese philosophische Strömung, die sich als bloßes Sammeln von Fakten verstand, wurde in Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" satirisch dargestellt. Der Schriftsteller, der großen "Hass auf die Dummheit seiner Epoche" verspürte, schildert darin den Versuch der Protagonisten Bouvard und Pécuchet, sich den gesamten Bestand der Wissenschaften anzueignen. Sie beginnen mit dem Gartenbau und der Landwirtschaft, wenden sich der Archäologie, Geologie und der Chemie zu, um sich dann mit der Medizin zu beschäftigen. Darauf folgt das Studium der Literatur, der Geschichte und der Philosophie. Aber auch hier stehen die "Honigsammler des Geistes" - wie in allen anderen Wissenschaften - vor einem undurchdringlichen Dickicht verschiedener philosophischer Denkansätze: Bouvard und Pécuchet scheitern an dem Irrglauben, Wissen durch Inventarisierung zu erlangen. Sie streben nicht nach Weisheit, sondern leiden an der Sucht nach Klassifizierungen, die in der Wissenschaft weit verbreitet ist.

Aufklärungsfeldzüge

Gegen all die Varianten der Dummheit wurden im Verlauf der Kulturgeschichte immer wieder Aufklärungsfeldzüge geführt - mit der Absicht, den Menschen zur Mündigkeit zu verhelfen. Ein bis heute gültiger Ratschlag, die Dummheit zu bekämpfen, stammt von Immanuel Kant. Er empfahl "das Selbstdenken" und forderte die Menschen auf, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, um ideologische oder religiöse Scheuklappen abzulegen. Alexander Pope war da wohl skeptischer. Sein Befund lautete: "Die Dummheit hat ihr altes Recht noch immer/ Denn als geborene Göttin stirbt sie nimmer."

Literaturhinweis:

Werner van Treeck: Dummheit. Eine unendliche Geschichte. Reclam Verlag, Stuttgart 2015, 186 Seiten, 20,60 Euro.