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Der Mord als schöne Kunst

Von Alfred Pfabigan

Reflexionen

Kulturtheoretische Mutmaßungen über die "Ästhetik des Schreckens".


Die Lust des Zuschauers am Schauer: Vorspannmotiv des TV-Evergreens "Tatort".
© ARD

Es muss nicht immer Mordsein. In amerikanischen Polizeiserien mit ihrem Kult der glaubhaften Überraschung sind gerade jene rätselhaften Todesarten eine beliebte Pointe, die zunächst auf Mord verweisen und dann eine andere Ursache haben. Im Zentrum des Filmes kann auch eine Entführung oder eine Vergewaltigung stehen, ein Unfall oder ein als Mord getarnter Selbstmord.

Doch in jedem Fall ist Gewalt für die filmische Narration unverzichtbar. Die Jahwistin (so nennt die Forschung eine zwischen 950 und 900 v.d.Z. am Hof von König Salomon lebende Autorin, die man - auf der Basis von Stilvergleichen - für die Verfasserin von Genesis, Exodus und Numeri hält, Anm.) hat die Tötung Abels im Stil eines amtlichen Berichtes vermerkt und sich damit von den dramatischen Gewaltbeschreibungen des Alten Testaments rund um David und Goliath, Judith und Holofernes oder Samson und Delila deutlich abgehoben.

Schauerromane

Doch heute dominiert in allen Medien eine spezielle "Ästhetik des Schreckens". Was Friedrich Schlegel für das Kennzeichen der Moderne gehalten hatte - den Wechsel vom "Schönen" zum "Interessanten" -, hat den Schwerpunkt der Darstellung nachhaltig verlagert. Die Neugier auf das Gewaltsame, auf die ewige Wiederkehr eines ewig Gleichen, mit der man etwa bei einem Besuch im Kunsthistorischen Museum ebenso konfrontiert wird wie bei einem Blick ins Kino- oder Fernsehprogramm, hat eine Fülle von Erklärungsversuchen provoziert.

Tatsächlich ist der Mord, der grausame, der raffinierte oder der spannungsgeladene, spätestens seit den Schauerromanen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein Lieblingsthema nicht nur der Populärkultur. Selbst in anspruchsvolleren viktorianischen Romanen finden wir ihn thematisiert: in "Bleak House" von Charles Dickens oder in George Eliots "Adam Bede".

Thomas de Quincey hat schon 1827 in einem satirischen Text daraus die Konsequenz gezogen und eine "ästhetische" Wertung des Mordes vorgeschlagen, die als normatives Projekt wohl auch in Hollywood ihre Leser gefunden hat: "Man beginnt damit allmählich einzusehen, dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört als zwei Dummköpfe, einer der tötet, und einer, der getötet wird, ein Messer, eine Brieftasche und eine dunkle Gasse. Formgebung, meine Herren, Sinn für Gruppierung und Beleuchtung, poetisches Empfinden und Zartgefühl werden heute zu einer solchen Tat verlangt."

Schlegels Theorien und de Quinceys mehr oder minder ernste Prinzipien haben zahlreiche Fragen nach sich gezogen. An erster Stelle steht wohl die moralisch vorwurfsvolle These Susan Sontags in ihrem Essay über Kriegsfotografie und über unser aller Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidender Leiber zeigen: Die einzigen Menschen, die das Recht hätten, Bilder von extremem Leid zu sehen, seien neben den Betroffenen jene, die etwas zur Linderung dieses Leids beitragen könnten. Ob sie es wollten oder nicht - alle Übrigen seien bloß Voyeure. Das zielt auch auf jene vielbesprochene Lust an der Gewalt, die der Erfinder der amerikanischen Short Story, Ambrose "Bitter" Bierce, schon im Titel einer ebenfalls satirischen Erzählung anspricht: "My Favourite Murder".

Das literarische Ich des Ambrose Bierce hätte wohl die amerikanischen Serien rund um Hannibal Lecter und Dexter genossen. Unzählige Schlagworte schreiben sich ein Erklärungspotenzial für unsere Fragen zu: das von der "Identifikation" mit einem Protagonisten, vom "Aufgeilen" an der Tat, das zur Nachahmung einlädt, von der mehr oder minder lustvollen Angst oder der moralisch situierten Freude darüber, dass sich "Verbrechen doch nicht lohnt".

Zur Frage nach der Publikumswirksamkeit des gewaltsamen Tods und seiner Aufklärung hat sich die Küchenpsychologie ebenso geäußert wie der analytische Kongress. Mit der Tat des Kain ist das Angsterregende geschehen, es geschieht immer wieder und es verfolgt uns in der Morgenzeitung, in den Abendnachrichten und im Internet. Man braucht nur darauf zu achten, wie oft in den TV-Serien der Begriff "Müll" vorkommt (etwa in den "Tatorten" "Müll", 2008, oder "Wegwerfmädchen", 2012), dann hat man eine gemeinsame Formel - Morden ist die Verwandlung von Menschen in Abfall.

Ist es tatsächlich angenehm, solches zu lesen oder zu betrachten? Stephen King konstatiert verwundert, "dass die Leute bereit sind, viel Geld dafür hinzublättern, dass man ihnen extremes Unbehagen bereitet". Doch hat dieses scheinbare Paradoxon nicht eine vielfältige anthropologische und kulturelle Verankerung? Der Tod an sich ist etwas, von dem wir Nachricht erhalten, dessen Zeuge wir vielleicht werden, den aber keiner von uns je erlebt hat, etwas, das dennoch ein fundamentales Ärgernis darstellt, rätselhaft und ungerecht.

Michel de Montaigne rät uns, wir sollten Umgang mit dem Tod pflegen - "damit wir uns an ihn gewöhnen, lasset uns an nichts häufiger denken als an den Tod". Das bezieht sich wohl auch auf den medialen Umgang. Doch in ihrer Untersuchung der Funktion weiblicher Leichen in der Kunst hat Elisabeth Bronfen die These aufgestellt, dass die ästhetische Repräsentation des Todes uns zwar helfe, das Wissen um dessen Realität zu verdrängen, dass diese Repräsentation aber wie ein Symptom funktioniere, also wie eine misslungene Verdrängung, denn das Wissen sei uns durch unsere lebensweltlichen Erfahrungen evident.

Diese These lässt für unser Thema noch ein weites, zusätzliches Spielfeld offen. Geht es um den Tod an sich, oder soll nur dessen naturhafter Charakter verdrängt und die Illusion geschaffen werden, dass jeder Tod ein von außen kommender, ein Mord, ist? Dann hätte die Aufklärung eines gewaltsamen Todes eine tröstende Funktion: dass der Schuldige gefasst wird, würde im Zuschauer die Hoffnung entstehen lassen, dass es vielleicht in seinem Fall Gerechtigkeit geben und er nicht sterben würde.

Der Zuschauer ist zudem in mehrfacher Weise in das Geschehnis am Bildschirm verwickelt: Potenziell ist er Abel und Kain zugleich und damit Adressat zweier Hoffnungsbotschaften. Was auch immer zur Gewalttat führte - dass einer einen anderen provozierte oder nur zur falschen Zeit am falschen Ort war -, ist ihm schon widerfahren, doch er ist nicht zum Opfer geworden, er ist noch einmal davongekommen, bis zur nächsten Episode. Und jene aggressiven Gefühle, die den Täter antreiben, sind dem Zuschauer von sich selbst her wohlbekannt, und so lässt er sich durch die Überführung des Täters von der normsetzenden Instanz der Ermittler die eigene Unschuld bestätigen.

Die Darstellung der Lösung eines Falles steht also keineswegs im Kontext von "Aufklärung", wie manche schreiben, sie ist einfach eine kulturelle Praktik mit tröstender Funktion. Das kann auch durch "Spannung", "Entertainment" und - so unwürdig diese Kombination auch ist - in der "Kriminalkomödie" geschehen und gilt auch für jene "antikapitalistischen" Polizeifilme, wo nicht nur der Fall, sondern gleich auch die "Systemfrage" gelöst wird.

Symbolische Opferung

Der französische Religionsphilosoph René Girard bietet uns eine anthropologische Erklärung für die Popularität des Mordes auf der Bühne an: Die Betrachtung fremden Leids hätte angesichts des unermesslichen Gewaltpotenzials, das in uns schlummert, einen positiven Effekt. Die Ermordung oder die Vertreibung eines einmütig zum Schuldigen ernannten - möge er auch unschuldig sein - stabilisiere die Gesellschaft. Auf der Bühne würden Schauspieler symbolisch geopfert, so entlade die Gesellschaft ihre ständig vorhandene Gewaltbereitschaft auf harmlose Weise.

Wie auch immer: Jene magische Formel, die klärt, wo das "Interessante" am Mord liegt, existiert nicht; das Interesse an me- dialer Gewalt und ihrer Aufklärung ist überdeterminiert und das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren variiert von Fall zu Fall. Zudem haben sich das kommerzialisierte Entertainment und der Staatsapparat des Mordes bemächtigt.

Lustvolle Angst, Spannung und Entspannung sowie die Flucht vor der Langeweile mischen sich also mit der Political correctness öffentlicher Anstalten, dem "Politainment" oder den amerikanischen Regeln des "decent TV". Warum also nicht den Mord als "schöne Kunst" betrachten, ist doch jene ironische Haltung, aus der de Quincey seinen Essay verfasste, unserer postmodernen Mentalität eingeschrieben?

Noch in diesem Herbst steht der 1000. "Tatort" auf dem Programm (von ARD und ORF) – und zeigt damit die erstaunliche Kontinuität dieser kriminalistischen Fernsehserie. Bis zu 14 Millionen Menschen verfolgen jede Woche den "Mord zum Sonntag". Die Serie wird als "kulturelles Gedächtnis" wahrgenommen, das sensible Themen und aktuelle Fragen nicht scheut. Doch was verbirgt sich hinter Kapitalismuskritik und tagespolitisch brisanten Einsätzen der Kommissare mit den brüchigen Biografien?
Fragen wie diesen geht der Wiener Sozial- und Kulturphilosoph Alfred Pfabigan in seinem neuen Buch "Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie" (Residenz Verlag, 2016, 208 Seiten, 20,– Euro) auf den Grund. Er zeigt Zusammenhänge zur nationalsozialistisch geprägten Geschichte des deutschen Polizeifilms auf und verweist auf zahlreiche Kontinuitäten hinter zeitkritischen Anliegen. Im Vergleich zu amerikanischen CSI-Serien erweisen sich die "Tatort"-Opfer etwa als verdächtig schuldig, die Täter als auffallend einfühlsam gezeichnet und Recht und Unrecht als eine Gefühlssache, die wenig mit Beweisen zu tun hat.
Nebenstehender Text ist ein Auszug aus diesem Buch, das am 18. Oktober im Rahmen der "Kriminacht" im Wiener Café Schwarzenberg vom Autor präsentiert wird.