Zur Schlüsselfigur wurde dann Oberst Maléter, der sich mit seinen Truppen auf die Seite der Aufständischen gegen die Sowjets stellte - mit der Parole: "Ungarn schießen nicht auf Ungarn". Am 27. Oktober flauten die Kämpfe ab, nachdem Nagy eine neue Regierung gebildet hatte - unter Beteiligung bürgerlicher Politiker. Mit den ersten Maßnahmen erfüllte diese Regierung maßgebliche Forderungen der Aufständischen: sofortige Feuereinstellung, Amnestie für die Hauptbeteiligten, Auflösung der verhassten Staatssicherheit, Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ungarn.
In den frühen Morgenstunden des 30. Oktober erklärte Maléter - inzwischen Verteidigungsminister -, er habe den sowjetischen Oberkommandierenden um den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Stadtgebiet von Budapest ersucht, und fuhr dann fort: "Nach der erfolgten Zustimmung des Oberbefehlshabers werden die sowjetischen Truppen am 30. Oktober, 16.00 Uhr, mit ihrem Abzug beginnen."
Bis zum Morgen des 31. Oktober sollte der Abzug planmäßig abgeschlossen sein.
Am selben Tag gab Nagy die Abschaffung der Einparteienherrschaft und die Wiederherstellung einer demokratischen Regierungsform bekannt. Das sozialistische Wirtschaftssystem sollte aber beibehalten werden. Gleichzeitig wurden politische Häftlinge befreit, unter anderem Kardinal Jószef Mindszenty, der im Februar 1949 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er war inzwischen zu einer Symbolfigur des antikommunistischen Widerstands geworden und wandte sich am 3. November, einen Tag vor der sowjetischen Militärintervention, im Rundfunk an seine Landsleute. Er rief sie zu Ruhe und Besonnenheit auf und meinte: "Wir, eine kleine Nation, möchten sowohl mit den Vereinigten Staaten von Amerika als auch mit dem mächtigen russischen Reich in Freundschaft und gegenseitiger Achtung leben. Unsere gesamte Lage und unsere Zukunft werden im Augenblick durch die Frage bestimmt, was das 200-Millionen-Reich der Sowjets mit seiner militärischen Gewalt innerhalb unserer Grenzen zu tun beabsichtigt. Wir sind neutral, wir geben dem Russischen Reich keinen Anlass zum Blutvergießen."
Drei Tage vorher hatte Nagy allerdings in einem Schreiben an die UNO der Welt mitgeteilt, "dass die ungarische Regierung die Sowjetbotschaft in Budapest von der Tatsache in Kenntnis gesetzt hat, dass der Warschauer Pakt gekündigt und die Neutralität Ungarns erklärt und die Vereinten Nationen gebeten wurden, die Neutralität des Landes zu garantieren".
Die Intervention
Die öffentliche Ankündigung der Absichten Ungarns war in dieser unglaublich gespannten Situation aber zumindest naiv und hat in Moskau mit zu der Entscheidung geführt, militärisch einzugreifen. Aus neuen Dokumenten wissen wir inzwischen auch, dass Chinas Mao Zedong auf eine Intervention gedrängt hat - unter Hinweis auf die nicht abzusehenden Auswirkungen auf das kommunistische Lager insgesamt.
Am 30. Oktober hatte die sowjetische Führung eine Erklärung veröffentlicht, in der es hieß, dass die sozialistischen Länder ihre gegenseitigen Beziehungen "nur auf den Prinzipien der völligen Gleichberechtigung, der Achtung der territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der gegenseitigen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten aufbauen" könnten. In Budapest wähnten sich einige am Beginn einer neuen Ära, während der sowjetische Generalstab bereits Pläne für die Operation "Wirbelsturm" - die abschließende militärische Operation gegen Ungarn - ausarbeitete.
Noch am 30. Oktober plädierte Chruschtschow für einen Abzug, änderte am nächsten Tag allerdings seine Meinung. Mitentscheidend dafür war der Angriff von Israelis, Briten und Franzosen gegen Ägypten, der am selben Tag begonnen hatte. Chruschtschow jetzt: "Wenn wir uns aus Ungarn zurückziehen, gibt das den Amerikanern, Engländern und Franzosen - den Imperialisten - großen Auftrieb. Sie werden es als Schwäche unsererseits auslegen und in die Offensive gehen. Zu Ägypten werden sie dann Ungarn hinzufügen. Wir haben keine andere Wahl."
Am Morgen des 4. November begann der Angriff. Während die Sowjets auf Budapest vorrückten, bildeten sie mit János Kádár in der ostungarischen Stadt Szolnok eine kommunistische Gegenregierung. Um 5.05 Uhr teilte Kádár über Radio Szolnok mit, seine Regierung habe die Sowjetunion um Hilfe ersucht, "die dunklen reaktionären Kräfte zu vernichten und Ruhe und Ordnung im Lande wiederherzustellen". (Später hat sich die Sowjetunion zur Rechtfertigung ihrer Intervention immer wieder auf diesen sogenannten Hilferuf der Kádár-Regierung berufen.)
Eine Viertelstunde später verlas Nagy die am Anfang dieses Beitrages erwähnte Erklärung. Wenig später löste sich die Regierung auf, Kardinal Mindszenty flüchtete in die amerikanische Botschaft, wo er mit Zustimmung von US-Präsident Eisenhower Asyl erhielt. Er blieb dort bis 1971. Danach lebte er in Wien im Exil, wo er 1975 starb. Am 7. November 1956 kehrte Kádár nach Budapest zurück. Nagy war in die jugoslawische Botschaft geflüchtet, die die Sowjets abgeriegelten.
Haltung des Westens
Hat der Westen damals versagt? Als sowjetische Truppen den Angriff auf Budapest begannen und in den Straßen der ungarischen Hauptstadt gekämpft wurde, rechneten viele Ungarn, die Radio Free Europe - ein Sender des amerikanischen Geheimdienstes CIA - gehört hatten, damit, dass der Westen ihnen militärisch zu Hilfe kommen würde. Aber von den USA kam keine Hilfe. (Siehe dazu Artikel über Radio Free Europe.)